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Non, je ne regrette rien!

Eine Antwort auf «Viktor Agartz: Alles Geschichte oder was?» von Christoph Jünke

von Stefan Janson

Christoph Jünke hat sich der Mühe unterzogen, meiner knapp vier Seiten umfassenden Rezension des Sammelbandes von Bispinck/Schulten und Raane zu Aspekten des Lebens und Werkes von Viktor Agartz eine fünfseitige Replik zu widmen.

Dieser teils analytisch, teils polemisch gehaltene Beitrag gipfelt in der Passage:
„Aus jeder Zeile seiner Besprechung erkennt man jedoch den tief greifenden Widerwillen, sich mit dem Erbe von Agartz nüchtern auseinander zusetzen. Fast jedes seiner Argumente ist entweder methodisch völlig unsauber oder haltlos, denn alle Begründungen für sein Verdikt sind nicht dem im Buch aufbereiteten Material zu entnehmen. Er lässt sich durch dasselbe nicht inspirieren und benutzt es nicht für ein neugieriges Hinterfragen oder dazu, unterdrückte Entwicklungspfade kennen und nutzen zu lernen, Jansons Urteil stand offensichtlich schon fest, bevor er das Buch zur Hand nahm. [...] Die Form seiner Invektive wie auch zentrale Aspekte ihres Inhalts – das vermeintliche Ende der Arbeiterbewegung; die vermeintlichen Fehler der „Etatisten“; Agartz vermeintliche Naivität – erinnern jene, die sich in der Agartz-Literatur auskennen, doch stark an Hans-Peter Riesche[...] Hinzu kommt hierbei die in dieser Parteilichkeit enthaltene, so unbewusste wie ungerechte Fortschreibung einer sich über Agartz erhebenden Gesichtsschreibung der „Sieger“ – in diesem Falle eines linken Radikalismus, der schon damals ausgesprochen kompatibel war mit den Legitimationsstrategien der sozialdemokratischen und gewerkschaftlichen Ausgrenzung[...].“

Vereinfachen wir die Debatte und verknappen wir die Vorwürfe Jünkes: „methodisch unsauber, haltlos, nicht inspiriert, vorverurteilend, unbewusst und ungerecht, linksradikal, die Geschichte der Sieger fortschreibend, kompatibel mit sozialdemokratischer Ausgrenzung.“ Hinzu treten materiell die Vorhaltungen, vom (aber nur vermeintlichen) „Ende der Arbeiterbewegung“ und (vermeintlichen) „Fehlern der Etatisten“ gesprochen zu haben. Zunächst: Ich habe an keiner Stelle von einem Ende der Arbeiterbewegung gesprochen. Aber: die Geschichte der Arbeiterbewegung fällt nicht mit der Geschichte ihrer Organisationen und ihrer führenden Persönlichkeiten zusammen, auch wenn es ein leninistisches Vorurteil gerne so sehen möchte. Deshalb lehne ich eine Ikonographie, wen immer sie zum Leitbild der in der Krise steckenden Arbeiterbewegung auch auserkoren hat, ab.

Ich will aber nicht auf die Verbalinjurien und Polemiken eingehen, sondern meine Thesen aus der Besprechung nocheinmal wiederholen, zuspitzen und kommentieren:

Erstens: Ich halte es für verfehlt zu behaupten, die (jetzige) Krise schaffe wieder Raum für alternative Gesellschaftsentwürfe und für den Revitalisierungsprozess der Gewerkschaften seien die Arbeiten von Agartz unerlässlich.
Nochmehr: Den ganzen Ausgangspunkt für diese Behauptungen halte ich für falsch. Gerade weil Agartz die krisenhafte Entwicklung des Kapitalismus auch im Hinblick auf unsere Umweltbeziehungen, die Nord-Süd-Beziehungen und der erweiterten Inwertsetzung immer weiterer natürlicher Ressourcen nicht erkannte –kann man ihn doch jetzt nicht als Galionsfigur für einen (im Übrigen sehr prekären) Wiederbelebungsprozess der Gewerkschaften machen – wenn man es mit ihnen gut meint. Agartz kann uns in dieser Hinsicht nun wirklich nichts geben. Ich gehe noch weiter: die Lektüre der Texte von Bakunin oder Kropotkin dürften – auch wenn das wieder „linksradikal“ klingen mag – gerade für die staatsfixierte deutsche Gewerkschaftsbewegung inspirierender sein, weil sich deren Fragestellungen und deren Kritik am Etatismus besonders der Sozialdemokratie und deutschen Arbeiterbewegung bis heute im Grundsatz nicht erledigt hat.

Zweitens: Agartz formuliert zumindest in den im Sammelband abgedruckten Texten – und nur die stehen ja dem Leser zur Verfügung, – an keinem Punkt eine realistische Transformationsstrategie für den von ihm vertretenen demokratischen Sozialismus.
Mehr noch: Jünke behauptet, Agartz habe eine „eigenständige, autonome, auch vor radikalen Konsequenzen nicht zurückschreckende Arbeiterbewegung angestrebt“. Aber wo finde ich das denn in den Texten? Jedenfalls finde ich keine Auseinandersetzung mit den – zugegeben eher seltenen – Erfahrungen mit proletarischer Selbstorganisation in den Rätebewegungen von 1918, 1920 oder – für Agartz mit Sicherheit auch tagesaktuell erkennbaren Bestrebungen aus der Rekonstruktionsphase nach 1945. Ich finde bei Agartz nichts erhellendes zu den Kämpfen der Arbeiter gegen Demontage z.B. in Salzgitter oder dem Ruhrgebiet.
Ich wiederhole demgegenüber: Agartz verbleibt im Rahmen einer linkssozialdemokratischen Strategie der Arbeitsteilung von Partei und Gewerkschaft. Auch das kann man ihm nicht vorwerfen. Es ist nur eine Realität. Aber deshalb kann dabei für die heutige Diskussion um produktive Ausgänge aus der Krise des Kapitalismus und der Gewerkschaften nicht viel herauskommen.
Konstruktiv gewendet: ich fände es interessant, Jünkes Thesen über die Aktualität Agartz’ daraufhin zu diskutieren, welchen Ertrag sie für die Neuformierung emanzipatorischer Kräfte unter Einschluss von Gewerkschaftern bringen können: „Läßt man sich hier von bestimmten Begrifflichkeiten nicht schrecken, kann man die sechs Programmpunkte ohne Substanzverlust auch zeitgenössischer in die folgenden fünf übersetzen: 1.) Kritik der Sozialpartnerschaft in Theorie und Praxis; 2.) Erneuerung gesellschaftspolitischen Denkens und Handelns als Klassenkampf; 3.) Verteidigung der sozialstaatlichen Errungenschaften, ohne sich auf diese zu beschränken – als Mittel ihrer Erweiterung und Transformation; 4.) Gegen Militarisierung und Krieg; 5.) Politisierung nicht nur innerhalb des gewerkschaftlichen Kampfes, sondern auch durch dessen Verbindung mit nichtgewerkschaftlichen Emanzipationskämpfen. Letzteres wird heute gerne mit ‚neue soziale Gewerkschaftsbewegung’ übersetzt.“[1]

Drittens: Bei den im Sammelband abgedruckten Texten Agartz’ findet sich keine vertiefte Auseinandersetzung mit dem Stalinismus.
Die Editionsprinzipien des Verlages muss ich mir nicht entgegenhalten lassen: ich muss in der Tat nur den Agartz kennen, wie er mir im körperlich präsenten Band als Beiträger zur Revitalisierung der Gewerkschaften angedient wird. Nur darauf bezieht sich meine Rezension. Was den Vorwurf des „antikommunistischen Antistalinismus“ durch Jünke angeht: bekanntlich wurden die Tscheka und die Sonderlager in Sowjetrußland durch Beschlüsse des von Kommunisten dominierten Rats der Volkskommissare geschaffen, forderte der Kommunist Trotzki die Militarisierung der Gewerkschaften und waren es u.a. die Delegierten des 10. Parteitages der Kommunistischen Partei Russlands (Bolschewiki), die die Matrosen von Kronstadt 1920 niedermachten – weil sie eine proletarische Demokratie forderten. Wenn all die gegen lohnabhängige Klassen und Oppositionelle gerichteten Säuberungs- und Mordaktionen ab 1917 von Kommunisten verantwortet wurden, dann kann sich meine Kritik nicht alleine auf den sich ca. 1926 durchsetzenden Stalinismus richten. Mit anderen Worten: der Sieg der Bolschewiki muss im Großen und Ganzen als Niederlage der Arbeiter- und Emanzipationsbewegung diskutiert werden – dies als Sozialist nach über 30 Jahren Erfahrungen mit dem „real existierenden Sozialismus“ nicht – erkennbar – getan zu haben, reduziert den Gebrauchswert seiner Überlegungen doch – im Mindesten – ganz erheblich. Wer aus dieser Geschichte nichts lernen will, der wird sie – in anderer Form – wieder durchleiden müssen.

Viertens: Die lohnpolitischen Arbeiten von Agartz sind nur vor dem Hintergrund des fordistischen Produktionsmodells verständlich und greifen für heutige Auseinandersetzungen nicht mehr.
Obwohl von mir damit eine für den gewerkschaftlichen Diskussionsprozess doch zentrale Kritik formuliert worden ist, finde ich in Christoph Jünkes Antwort nichts dazu. Dazu ist vielleicht in der Sache auch keine Replik möglich, weil meine Kritik zutrifft. Umso mehr erneut die Frage: was soll man dann von Agartz lernen?

Fünftens: Ausgerechnet die Beiträge, die für die heutige Diskussion hohe Aktualität aufweisen, nämlich diejenigen über Wirtschaftsdemokratie, finden sich nicht im Sammelband, sondern werden in dem Beitrag von Krätke memoriert und diskutiert. Der ganze Schlussteil meiner Ausführungen geht auf „Viktor Agartz’ Vorstellungen zur Neuordnung der Wirtschaft“ ein. Wörtlich der letzte Satz meiner Rezension: „Das ist die eigentliche Aktualität von Viktor Agartz“. Dazu ist nichts weiter zu sagen.

Sechstens: Zitat aus meiner Rezension: „Unbedingt verdienstvoll dagegen ist die Absicht, mit dem Sammelband ‚ein Stück unaufgearbeiteter Geschichte des Kalten Krieges’ aufzudecken.“ Es ist und bleibt ein Skandal, wie mit Viktor Agartz umgesprungen worden ist und wie man seine politische und menschliche Existenz vernichtet hat. Hier hat zum Glück gewerkschaftliche Selbstkritik eingesetzt.
Die Ausführungen Jünkes, ich würdigte das Leben und Werk von Agartz nicht gebührend, sind daher zumindest in dieser Hinsicht nicht richtig.

Mein Resumée: Zu den Thesen 1, 2 und 4 sagt Christoph Jünke nichts Substanzielles, These 3 beantwortet er mit einem modifizierten Antikommunismusvorwurf, den ich ihm gerne bestätige, und die Thesen 5 und 6 finde ich zu Unrecht angegriffen. Mag sein, dass eine Reihe meiner Einwände auf die Editionspolitik der Herausgeber zurückzuführen ist, zugegeben, dass manche meiner Thesen sich nicht auf die Kenntnis des Gesamtwerkes von Agartz stützen können. Aber es bleibt doch die Frage, welche Elemente in Agartz’ Werk „inspirierend“ wirken sollen: jedenfalls doch offenbar nicht die, die im Sammelband veröffentlicht sind. Vielleicht kann Christoph Jünke die Gelegenheit nutzen und diesem Mangel durch eine wirklich inspirierende Edition abhelfen. Ich freue mich schon auf eine Rezension. Bis dahin: non, je ne regrette rien!

Anmerkungen:

[1]Jünke, C.: Mehr als Dienstleistung – Zur Aktualität des fast vergessenen Gewerkschaftstheoretikers Viktor Agartz (1897–1964); sopos 2/2009

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https://sopos.org/aufsaetze/4ade126b61760/1.phtml

sopos 10/2009