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Im Interesse der Macht - Der Preis deutscher Entwicklungspolitik

Zugunsten eines ständigen Sitzes im UN-Sicherheitsrat gibt die Bundesregierung ihre entwicklungspolitischen Ziele auf

von Torben Ehlers

Caligula: "Jedenfalls bin ich nicht verrückt, ich war sogar noch nie so vernünftig. Nur hatte ich plötzlich ein Bedürfnis nach dem Unmöglichen (Pause). So wie die Dinge sind, scheinen sie mir nicht befriedigend."
Helicon: "Diese Meinung ist ziemlich weit verbreitet..."

Albert Camus

Als durch die Bundestagswahl 1998 die Kohl-Regierung nach 16 Jahren abgewählt worden war, versprachen SPD und Bündnis 90/ Die Grünen in ihrem Regierungsvertrag, die multinationalen Staatsübereinkünfte im Rahmen der Vereinten Nationen endlich einzulösen, wonach sich die Bundesrepublik ebenso wie die anderen Industriestaaten verpflichtet haben, mindestens 0,7 Prozent ihres Bruttosozialproduktes (heute Nationales Volkseinkommen) entwicklungspolitischen Projekten im sozialen, wirtschaftlichen und politischen Rahmen zur Verfügung zu stellen. In der sozialdemokratisch-liberalen Vorgängerregierung der 70'er Jahre unter Brandt/ Schmidt fand diese von allen anderen Industriestaaten gleichsam vernachlässigte, dennoch damals beschlossene Staatenregelung ebenso wenig Durchsetzungsvermögen wie in der darauf folgenden konservativen Amtszeit von Helmut Kohl in der CDU/ FDP-Koalition. Ein weit mehr als 25 Jahre politisch bewußt in Vergessenheit geratener Prozeß schien endlich in seinem minimalistischen Geltungsanspruch wenigstens von einem großen Industrieland eingelöst zu werden - allen amoralischen Interpretationsmustern liberalismuskritischer Prägungen zum Trotz. Zum ersten Mal erschien die Entwicklungspolitik als Instrument politischer Strukturrealisierungs-Maßnahmen Bedeutung zu erreichen und das Hintertreppendasein eines Barmherzigkeitssektorats christlich- politisierender Almosenorientierung zu verlassen.

Die Aufnahme von deutschen Flüchtlingen aus osteuropäischen Siedlungsregionen und die Reintegration wiederkehrender Soldaten aus russischer Gefangenschaft sowie die Einbindung von Binnenimmigranten aus der DDR in der Phase nach dem Zweiten Weltkrieg bis zum sogenannten "Wirtschaftswunder", vor allem auch die Hallstein-Doktrin als nationales Biopolarisierungs-Programm, die Ölkrise 1973, das permanente Ansteigen der Sockelarbeitslosigkeit in Verbindung mit den Rezessionen in den 80'er Jahren, die deutsche Einheit und die jährlich ansteigende Staatsneuverschuldung haben in den letzten Jahrzehnten Ausreden "en accord" geliefert (um kurz anzudeuten wie 40 Jahre und mehr bewußt verschlafener Entwicklungspolitik gerechtfertigt wurden).

Ausschlaggebend für die kontinuierliche Resignation im Entwicklungssektor auch nach 1998 scheint ein anderer, in den letzten Jahren viel wichtiger werdender Punkt zu sein, der in dieser Form von bisher keiner Regierung so radikal formuliert worden ist:

Polarisierende Außen- und Entwicklungspolitik in konstanter Verbindung mit der Durchsetzung eigener ökonomischer Interessenpolitik, die im postamerikanisch-deutschen Neorealismus[1] der christdemokratischen Bündnisorientierung nie über den Status der Primärhilfe zwecks Überlebens oder der Überschwemmung deutscher Ingenieurstechnik hinaus gedacht hat - und dies wie die blind wahrgenommenen 60'er und 70'er Jahre hindurch auch die gesamten 80'er und 90'er Jahre praktizierte - sollte sich durch Wandlung politischer Inhalte im Inneren in eine neue Richtung des sog. "good governance" wandeln (wobei diese Interpretation zwischenstaatlichen Handelns neoliberalistische Implikationen aufweist). Viele Schritte wurden dafür in den letzten sieben Jahren eingeleitet: z. B. die Ausweitung des Sicherheitskabinetts auf die/ den Entwicklungsminister/-in, die Reaktivierung der Rio- Konferenz (1992)/ des Kyoto- Protokolls (1997) zur Bonner Umweltkonferenz (sog. "Bonner Beschlüsse") (2001) auf multilateraler und nicht unilateraler Beziehungsebene, der Zielsetzung einer "Entwicklungspolitischen Hauptstadt Deutschlands" (Bonn) über die überfällige Erkenntnis nach dem 11. September 2001, wonach Entwicklungspolitik immer auch Sicherheitspolitik ist (um kurz darauf dem Kampf gegen Opium in Afghanistan entschlossen nicht entgegen zu treten) bis hin zur "Köhler-Antrittsrede", wonach Deutschland demnächst wohl auch wieder in Afrika interventionspolitisch ein Wörtchen mitzureden hat (zudem sollen wohl auch die alten Kontakte aus WTO-Zeiten nicht ungenutzt bleiben, wie auch die letzte Reise des Bundespräsidenten durch Afrika zeigte).

Der deutsche Staat wollte und will immer noch ein "Zugpferd" entwicklungspolitischen Umsetzungspotentials werden - dies zeigt nicht nur der "Blanko- Scheck", den der deutsche Staat mehrheitlich blind im Rahmen von UN-Friedensmissionen in Höhe von ca. 10 Prozent der insgesamt anfallenden Projektsumme ausstellte. Auch weltmachtspolitische Bestrebungen im Rahmen der "Zwei- Plus- Vier- Verträge" werden nun ganz offen von der Bundesregierung angestrebt. Die alten Ziele bleiben dabei auf der Strecke - Hilfe zur Selbsthilfe ohne nationalpolitische (ökonomische) Ambitionen im Sinne der alten Nullsummenregelung...

So schön sich die umgesetzten Aktionen auch komprimiert lesen lassen, die "wichtigen" Versprechen aus dem Regierungsvertrag von 1998 und 2002 sind nicht eingelöst worden, und es wird aller Wahrscheinlichkeit nach auch nach 2006 nichts grundlegend Neues passieren. Zahlenspiele, die sich im "Null-Komma-Bereich" verhacken, sind dafür der größte Signifikant. Was heißt das en detail?

Die damals in die Entscheidungsgremien gewählte rot-grüne Mehrheit, basierend auf ihrem Regierungsprogramm in Form jenes eben erwähnten Vertrages, hat die Bundespolitik nicht in der spezifischen Weise vorangetrieben, wie sie es versprochen hatte und damit die Chance verspielt, einen winzigen Schritt voran zu kommen in der Festigung entwicklungspolitischer Mindeststandards, die auch von einer anderen Regierungszusammensetzung nicht wieder zurück genommen hätten werden können.

Ein Blick auf die volkswirtschaftliche Integration von Entwicklungspolitik zeigt dies eindringlich: der im Januar 2005 von den Vereinten Nationen unter dem Beauftragten Jeffrey Sachs vorgestellte "Millenniums-Plan" zur "Reduzierung der globalen Armut bis 2015" gibt an, daß dieser Plan durchaus noch zu realisieren ist, trotz aller konferenzgetränkten Sprachregelungen - unter der Prämisse, daß die Industriestaaten endlich ihr vor Jahrzehnten gegebenes Versprechen einhalten (0,7 % BSP). Auch wenn klar ist, daß Hunger immer ein politisches Problem dargestellt hat (dessen Lösung nicht mit Schuldenerlaß allein beseitigt werden kann) und dieses Planziel ein weiterer Konferenzzimmerbeschluß á la UN-Dekadenpolitik fern der Realität ist - wo sind denn wenigstens die lächerlichen 0,7 Prozent des BSP für das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZE)? Unter Helmut Kohl waren es gerade mal läppische 0,27 Prozent, unter Gerhard Schröder "immerhin tendenziell klare" 0,28 Prozent. Nach der Eichel-/ Clement-/ Hartz-Kur sind es wenigstens nicht 0,25 Prozent geworden, sondern stagnierte "nur" (Hochachtung, Frau Ministerin - bravourös gekämpft...). In diesem Jahr soll der Beitrag 0,33 Prozent betragen. "Das seien zwar noch keine 0,7 Prozent, aber doch eine ordentliche Steigerung", so die Ministerin in der SZ vom 20. Januar 2005 (S. 8, unten). Bis zum Jahr 2010 werden es dann 0,5 Prozent werden. Im nächsten Schritt bis 2015 werde Deutschland dann auf 0,7 Prozent hochschrauben. Was soll der Quatsch? Selbst im vom BMZE herausgegebenen Medienhandbuch "Entwicklungspolitik" steht protektionistisch auf S. 339 (Ausg. 04/ 05), daß "zahlreiche lateinamerikanische Länder die Millenniums-Ziele zur Armutsverringerung verfehlen", als ob es allein die Schuld der Entwicklungsländer wäre, Luftschlösser aus nichts zu bauen.

Wen wundert es heute noch - die Bundesregierung hat sich durch eine knappe Kassenlage in Verbindung mit einer völkerrechtlichen Strukturveränderung den Ressourcen ihrer außenpolitischen Wirksamkeit angepaßt und dementsprechend gewandelt. Von einer neorealistischen in eine neofunktionalistische[2] Außenpolitik (wobei dieser Zustand als temporär-fragil und nicht als permanent-stetig gedacht werden muß). Beides sind Liberalismustheorien und somit ist klar, daß auch in einer (wieder einmal) christdemokratisch geprägten Zukunft nichts entwicklungspolitisch uneigennütziges "made in Germany" zu erwarten ist - ob nun neorealistisch-angelsächsisch-orientiert unter einer CDU- Führung oder in einer noch neofunktionalistisch-europäisch-orientierten Führung unter der SPD.

Die BRD hat sich trotz absolut leerer Kassenlage im nationalen Bereich zur Aufgabe gesetzt, in den kommenden, höchst überfälligen Reformen der Vereinten Nationen ein entscheidendes Gewicht auf der weltpolitischen Waagschale zu sein, ob zum Trotz von Europa (gegen die "Ständigen" wie Großbritannien oder Frankreich oder gegen die "Hinterbliebenen" eines nicht realisierten EU-Sitzes wie Italien, Polen, Spanien, etc.) oder Amerika (aha, Deutschland wieder...)- und dies neben dem afrikanischen und arabischen Sitz mit den "wichtigen", neuen "Ständigen": Japan, Brasilien und Indien (als ob dadurch 60 Jahre hegemonialer Völkerrechtsanwendung seit San Francisco für die Zukunft ausgeschlossen oder korrigiert, geschweige denn der Hoffnung geschuldet wären, daß sich ein Deutschland als sicherheitsratspolitische Alternative zu den anderen Ständigen etablieren könnte).

Gerade jene neuen vier wollen in einem wahrscheinlich 24-köpfigen Sicherheitsratsgremium (momentan sind noch verschiedene Reformansätze im Verhandlungsprozeß) einen ständigen Posten einnehmen, gleich China, Rußland, Großbritannien, Frankreich und den USA - zur Not auch ohne die Vetomachtstellung der Alten - Hauptsache "dabei sein" in der globalen Neuordnung unilateraler Interessenausübungen im multilateralen Kontext. Die bundesdeutsche Regierung und ihr Tross reisen dafür durch die Welt und überzeugen seit Jahren per mittlerer Diplomatenebene (abwärts per Konsulate & Co. Kg. und aufwärts per Wirtschaftsdelegationen im Tross der Regierung - siehe China, nordafrikanische Mittelmeeranrainer oder die arabische Halbinsel und Anrainer) all jene Staaten aus der momentan 191 Nationen zählenden Generalversammlung, die bei einer bald anstehenden zwei/drittel-Mehrheitsentscheidung wackeln könnten bzw. nicht im "Genuß" ausreichend deutscher Zuwendung stehen und somit im Focus deutscher Konferenz- und Diplomatenpolitik ausgesucht werden, um zu garantieren, daß deutsche Pläne in der Welt wieder Priorität genießen dürfen. Hierfür ist die Bundesregierung so weit "fort" geschritten, daß nicht einmal mehr auf die Stimme Israels geachtet werden muß, dessen bilateraler Kontext im internationalen Staatensystem immer ein Grad der Sensibilisierung bundesrepublikanischen Vorgehens dargestellt hat.[3]

Für diesen Sitz ist man dabei: theoretisch in Darfur, theoretisch im Nahen Osten, bei den Gesprächen über die Alternativen zur Nutzung atomarer Energien im Bunde mit Großbritannien und Frankreich versus die USA gegenüber dem Iran, in der Wiederaufnahmephase diplomatischer Beziehungen zu Libyen, in Afghanistan, mit 500 Millionen Euro für die nächsten Jahre in Südostasien nach der Tsunami-Welle (wobei ein guter Teil dieser "Entwicklungshilfe" mal wieder der fahle Erlaß von nicht einzutreibenden Schulden ist), mit Chauffeurflügen für die Afrikanische Union in Westafrika, mit zweifelhaften Unterstützungen für Uganda in den letzten Jahren (laut Medienhandbuch unter der Landeskategorie mit 56,1 Mio. Euro, wobei einem bei der darüber liegenden Landesbeschreibung schlecht wird), der theoretischen Zuwendung Ozeaniens im Bonner "Klimabasar" (SZ), den Schiffen zur "Terrorismusbekämpfung" (Scharping/ Struck) am Horn von Afrika (mit nochmals wie viel sichergestellten Gütern außer den - leider - völkerrechtslegitimen Raketenlieferungen aus Nordkorea für den Jemen?), usw.

Hat die Bundesregierung in Afghanistan den versprochenen Beitrag von mehr als 260 Millionen Euro mit mehr als Lippenbekenntnissen gezahlt mit welchen BMfWZE Heidemarie Wieczorek-Zeul zur Geberkonferenz angereist war? Oder in Bam, dem Erdbebengebiet im Iran mit über 40.000 Toten, wo von mehr als 1 Milliarde zugesagten Euro aller Geberstaaten gerade mal 10 Prozent geleistet wurden (Hauptsache der Iran schwenkt ein Richtung Mohammed El-Barradei oder EU)? Oder in Sakarya (Erdbebengebiet in der Türkei 1998, ebenso viele Tote wie im Iran)?

Die Bundesregierung schweigt dazu - verknüpft wie nie anders zuvor nationale Interessen mit ihrer Entwicklungspolitik und hat das Nullsummengedankengut immer noch nicht abgelegt. Das ist zum einen ein alter Hut deutscher außenpolitischer Interessenverwirklichung, wie Hallstein damals beispiellos formulierte (und sich im Zukünftigen wie im Vergangenen in sicherer Umgebung befand) oder auch beispielsweise die Zinsvergabepolitik des IMF oder der WB im Kreditsektor gegenüber Least-Last-Developed-Countries, Last-Developed-Countries und Developing-Countries[4] eindrucksvoll verdeutlichen - und dies unter maßgeblich deutschem Einfluß (wobei die Bundesregierung nie Solidarität mit Politik gleichgesetzt hat, die jenseits ihrer innen- und außenpolitischen Interessenssphäre liegt - selbst der Schuldenerlaß kann im entwicklungspolitischen Haushalt kapitalbringend umgeschichtet werden und weiteres Geld auf den Grund der nationalen Kasse spülen).

Zum anderen verlagert sich der wahrnehmbare, wenn auch in seiner Nichtigkeit Zynismus hervorrufende "Fortschritt" ins gegenseitige "good governance"- gegenüber dem monotonen "governmental aid" der Zeit Kohls, also der Schiene reiner Heilsvollführung oder Absatzmarkterweiterung, in der es unter der erdrückenden weltpolitischen Duellierung nur bilaterale Bündnisinteressen gegeben hat (WTO- und IMF-West versus RGW-Ost) und die UN zur Nichtigkeit verkam (welche von den USA immer mal wieder praktiziert wird - siehe Irak-Krieg II und das momentane Syrien-Geplänkel von US-Außenministerin Connie Rice).

Hier zieht die Bundesregierung heute nicht mehr (oder noch wieder nicht) mit wie in der "Stillstandszeit" vor 1998 - es ist aber nicht einzig ihr Verdienst, denn was im Nahen und Mittleren Osten, speziell im Irak, an Brüskierung arabischen Selbstwertgefühls vollzogen wird (siehe Abu Ghraib der US-Amerikaner und Camp "Brotkorb" der Briten), war lange Zeit vorher abzusehen für jeden (und nicht nur für Susan Sonntag), der nicht den öffentlichen Statistiken der CIA folgte. Somit ist der Gemeinschaftsfaktor, aus welchem Deutschland seine Interessenumsetzung realisieren kann, in den UN zeitlich legitimiert; die Zeit wird kommen, da der deutsche Staat wieder bündnisorientierte Militärschläge mittragen wird, wie zur Zeit des Nato-Angriffes auf das Staatengebiet Serbien/Montenegro, Afghanistan oder auch "nur" durch Spezialkommandos wie in Somalia zur "Rettung deutscher Staatsbürger".

Dennoch: die folgenden Jahre gehören tragischerweise zu den relevantesten Zeiten entwicklungsliberalistischer Prägung der Bundesrepublik, da Veränderungen von außen an sie heran getragen werden und die deutsche Politik sehen muß, wie sie in einer sich immer schneller verändernden Marktwelt ihre Machtgeltung durchsetzten kann: überwindet sie den Anspruch, völkerrechtlich durchzusetzen, was sie ökonomisch schon ist - eine "Weltmacht" (Cornelius, SZ) zu werden?! Wird sie irgendwann die Versprechen einlösen, für welche sie auch gewählt wurde, gerade bei den Grünen (0,7 Prozent...)? Wird sie in den nächsten Jahren eine andere Haltung aufnehmen, als jene, für entscheidungsrelevante Staaten der Generalversammlung in den UN wahrnehmbare: der nicht völlig gelebten aber gedachten Solidarität (hier wird auch das Verhältnis zu Israel entscheidend konfigurieren, mit welchen selbstdefinitorischen Ansprüchen die BRD in die Zukunft geht)?

Und wie wird eine Entwicklungspolitik unter verschärften national-binnenwirtschaftlichen Bedingungen christdemokratischer Prägung auf der Basis erneuter Barmherzigkeit bzw. auf der Basis neo-realistischer Überzeugung aussehen, die möglicherweise 2006, wahrscheinlich 2010, spätestens aber wieder 2014 zur Geltung kommt?

Solange die bundesrepublikanische Entwicklungspolitik in Interaktion mit Staaten tritt (konkret bspw. Mocambique und die Ware Zucker), die auf die Öffnung europäischer, vor allem aber deutscher Märkte hofft (und insofern enttäuscht wird, weil Schutzzölle nie ohne binnenmarktwirtschaftliche Arbeitskämpfe gesenkt werden können, durchwandert von primärökonomischen Eigeninteressen), wird sich im Neo-Liberalismus bezogen auf die Veränderung politischer Verhältnisse milchmädchenrechnerisch nichts ändern: selektive Vertikalisierung der Entwicklungshilfe zugunsten weniger ausgewählter Staaten wird die Zukunft jeglicher politischer Couleur bestimmen. Um 0,7 % zu erreichen werden weiterhin Schuldenerlasse, die partout nicht einzutreiben waren, gestrichen (diese waren vorher schon in den Haushalten "bereinigt"), und nun wieder gewinnbringend eingebunden, um künstlich ein Ansteigen des Entwicklungshaushaltes zu erreichen. Dazu paßt, daß selbst die "Kommission für Afrika" (bedauernswert unter der Lehnstuhlherrschaft Tony Blairs, aber glücklicherweise gegen ihn intervenierend) sich gegen einen "generellen" Schuldenerlaß für "alle" afrikanischen Staaten wendet. In den knapp 460 Seiten steht zumindest, daß "Korruption, staatliches Mißmanagement, Intransparenz und wuchernde Bürokratie" nicht als förderungswürdiger Grund entwicklungsstaatlichen Handelns herhalten dürfen. Teile und herrsche (...hallo Uganda...)!

Torben Ehlers studiert Diplom- Sozialwissenschaften an der Universität Hannover mit Schwerpunkt Entwicklungspolitik / Internationale Beziehungen und nahm darüber hinaus Lehraufträge für Internationale Beziehungen, Außen- und Entwicklungspolitik an der Universität Sakarya / Türkei an. Zuletzt von ihm erschienen: "Bilanz über 4 Jahre rot- grüner Entwicklungspolitik", in: Wolfgang Gieler (Hg.), Torben Ehlers, u.a.: "Grundlagen deutscher Entwicklungspolitik", Rote- Reihe- Verlag 2003, (intern) Siege.

Anmerkungen:

[1] Neorealismus ist in den "Internationalen Beziehungen" ein weit verbreiteter, fast schon dominierender Theoriebegriff: "Its key actors are sovereign national or nation- states with distinctive interests and capabilities for unitary action. Despite the ‚anarchy' of the environment in which they live and the instrinsic hostility with which they regard each other, states can engage in cooperative activities through the formation of 'regimes', but only to enhance or protect their respective power in the interstate system" (vgl. G. Marks, P. C. Schmitter, a.o.: "Governance in the European Union", London 1999 [p.3f] und R. Meyers: "Grundwissen Politik", Bonn 1997 [S. 329ff]). Postamerikanisch meint die außenpolitische Interessenausrichtung der BRD im Sinne der politischen Vorgaben aus den Vereinigten Staaten nach 1945/ 49 im Gegensatz zu der außenpolitischen Interessenanlehnung der DDR zur Sowjetunion.

[2] Neofunktionalismus sieht die Staaten - vereinfacht deskribiert - im institutionalisierenden Interessenverbund, in welchem durch Konstituierung, Konditionierung und Limitierung das staatliche Handeln untereinander, meist im Staatenverbund, geregelt wird und verhindert werden soll, daß sich unlimitierte Nullsummenspiele ergeben. Die umfassendste und ursprünglichste Quelle hierfür ist sicherlich immer noch ihr "Mitbegründer": Ernst B. Haas "Beyond the nation state" (the introductory chapters) von 1964, komprimierter bei G. Marks, a.a.O. (p. 4ff).

[3] vgl. Tjark Kunstreich über die Beziehungsanalyse der deutsch- israelischen Verhältnisse von 1945- 1965 aus israelischer Sicht von Y. A. Jelinek in der Konkret 02/ 2005, S. 21: "Mit Erfüllung des Staatszwecks der BRD, dem Anschluß der DDR, traten die deutsch-israelischen Beziehungen wieder in ein der unmittelbaren Nachkriegszeit entsprechendes, aber nun umgekehrtes Verhältnis: Israel braucht Deutschland, um international nicht vollkommen isoliert zu werden (die USA allein sind da nicht besonders hilfreich); Deutschland hingegen braucht Israel nicht mehr, nicht einmal mehr für einen Sitz im UN-Sicherheitsrat. Die Berliner Republik kann es sich lediglich (noch) nicht leisten, der gern genannten 'historischen Verantwortung' abzuschwören."

[4] Diese Länder werden von der UN, der WTO und der WB entsprechend spezieller Kategorien, z.B. dem jährlichen Pro-Kopf-Einkommen, der Lebenserwartung oder der Kindersterblichkeitsrate klassifiziert. Je schlechter oder industriell weniger entwickelt ("less developed") dabei ein Land gestellt ist (bspw. während einer UN-Dekade), desto zinsgünstiger werden an diese Staaten Kredite bzw. "Entwicklungshilfe" vergeben. Obwohl diese liberalistische Praxis vor einigen Jahren Kritik auf der ganzen Linie erntete, gehört sie immer noch zum Standbein bilateraler bzw. multilateraler Übereinkünfte. Gegenbewegung zu dieser Geldvergabepolitik sollten die Staaten der 77 sein, die es nicht schafften, einheitlich Meinung zu beziehen gegen diese Kreditvergabetaktik - nicht zuletzt, weil viele dieser Staaten Nehmerländer aus den obig genannten Institutionen sind.

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https://sopos.org/aufsaetze/42615f0096dcc/1.phtml

sopos 4/2005