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Die SPD - auch ein Nachruf

Mit dem Ende des "sozialdemokratischen Jahrhunderts" ist auch das Ende der SPD in ihrer traditionellen Form gekommen

von Gregor Kritidis (sopos) und Stefan Janson

Die Gründung einer Partei, welche die SPD beerbt, kann eine wichtige Funktion übernehmen: Schon die Drohung, aktiv der Sozialdemokratie ihre Basis abspenstig zu machen, erzeugt politischen Druck.

Mit dem Rücktritt Gerhard Schröders als Vorsitzendem der SPD und der Inthronisation Franz Münteferings ist eine weitere Etappe des Verfalls der europäischen Sozialdemokratie zu einer "kleinbürgerlichen prokapitalistischen Partei des auf Zusammenarbeit und Konsens orientierten Flügels der neoliberal reorganisierten Gesellschaft" zu Ende gegangen.[1] Wir gehen von einer qualitativen Veränderung des Charakters und der inneren sozialen Zusammensetzung dieser Partei aus, so daß sich in der Tat die Frage nach einer Reorganisation und Perspektive der Linken stellt.

Wir haben das Ende der sozialdemokratischen Partei als Organisation eines programmatischen Reformismus mit der fast widerstandslosen Akzeptanz des "Schröder-Blair-Papiers" durch die Partei 1999[2] hinter uns und erleben derzeitig eine weitere Etappe ihres Endes als demokratische Massenpartei. Alleine die Art und Weise, in der die aktuellen Personalentscheidungen faktisch ex cathedra verkündet und politisch gravierende Kursbestimmungen wie bei der "Agenda 2010" im letzten Jahr - in dem die Partei den Direktiven der "Agenda"-Rede Schröders folgte - auf überwiegend als Akklamationsveranstaltung für die weise Führung inszenierten Parteitagen durchgesetzt werden, sind untrügliche Anzeichen für die Erosion der innerparteilichen Demokratie, die in langen und zähen Kämpfen gegen die Apparatepartei vor und nach Godesberg errungen worden ist.[3] Es ist aber nicht so, daß die Funktionäre und Aktivisten der Sozialdemokratie von einer geschickten Parteitagsregie überwältigt werden müßten: unser Eindruck ist eher, daß sich die aktive Basis in ihrer überwältigenden Mehrheit auf die Mechanismen der medial vermittelten Akklamationsdemokratie einläßt und jedes Angebot einer sinnvermittelnden Phraseologie für weiteren Sozialabbau dankbar annimmt. Dieses Phänomen des Konsenses innerhalb der neoliberalen Hegemonie bedarf der Aufklärung, schon um die seit 1998 erfolgten politischen Abschiede verständlicher zu machen.

Diese Abschiede sind nicht wieder rückgängig zu machen: die Sozialdemokratie als reformistische Volkspartei mit der Fähigkeit zur politischen und kulturellen Hegemonie ist am Ende. Die programmatische Erschöpfung der SPD hat sich spätestens nach den Wahlen 1998 gezeigt: Es war nicht nur die Erleichterung, eine neue, sich dynamisch gebende Regierung nach diesen endlosen Jahren des politischen Mehltaus der Kohl-Administration, zu haben. Der Wechsel 1998 war auch elektorales Ergebnis einer sozialen Bewegung der Lohnabhängigen gegen die ersten großangelegten Angriffe auf erkämpfte Klassenkompromisse wie die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. So kam beides zusammen: eine wenn auch bescheidene politisch-kulturelle Erneuerungswelle traf auf ein soziales Klima der Abwehr von Angriffen auf einen in langen Jahrzehnten gewachsenen, weil verbreiteten Konsens über soziale Gerechtigkeit in einer Arbeitnehmergesellschaft.[4]

Welche Chancen lagen nicht in dieser politischen Wendesituation?! Sie wurden, wie wir wissen, aus Gründen vertan, die in der Struktur der SPD und der sie tragenden sozialen Schichten liegen.[5] Wir erleben daher gegenwärtig ebenso die radikale und totale Dekonstruktion eines politischen Projektes, das sich gewissermaßen als Verlängerung der Programmatik und Praktiken des traditionellen Reformismus einerseits und des politisch überlebenden Flügels der Neuen Linken darstellte: "Rot-Grün" als Symbol für eine sozial gerechte, ökologische, demokratische, geschlechtergleichberechtigte und friedliche Republik ist nicht länger denkbar. Kosovokrieg 1999, Riesterrente, die Kapitulation in der Zuwanderungsfrage, Gesundheitsreform, Hartz I bis IV, Steuerreformen mit ihrem Attentismus gegenüber der finanziellen und sozialen Auszehrung der Basis dieser Republik in den Ländern und Kommunen, überwiegen in der Bilanz (zum Teil nur symbolische) Reformen wie Atomkompromiß, "Agrarwende", Rückgängigmachung der Kohl-Arbeitsrechtsnovellierungen von 1998 bei weitem.

Dazu soll eine kurze Analyse der Faktoren, Ursachen und Wirkungen versucht werden. Denn mit der globalisierungskritischen Bewegung, dem Entstehen der Sozialforen auch in Deutschland zeigt sich, daß die Geschichte der emanzipatorischen Kräfte nicht zu Ende ist. Andererseits kann die Sozialdemokratie auch nicht einfach abgeschrieben werden, sie repräsentiert bestimmte Milieus der Arbeiterklasse und des Kleinbürgertums. In der Tat ist die Sozialdemokratie ein Lebens- und Arbeitszusammenhang in einer entwickelten kapitalistischen Gesellschaft.[6] Uns beschäftigen in diesem Zusammenhang zwei Fragen:

Wie und warum konnte sich die Sozialdemokratie zu diesem Häufchen Elend oder elenden Haufen entwickeln? Grüne und PDS scheiden wir aus unserer Betrachtung aus, weil die Grünen für uns als ein explizit linkes Projekt schon seit längerem ausfallen und die PDS im großen und ganzen weder politisch-historisch, noch personell oder mental in der Lage ist, ein solches Projekt glaubhaft zu verkörpern.

Welche Perspektiven ergeben sich für eine Linke jenseits der SPD?

Wir folgen zunächst der Definition von Bourdieu, der die Parteien als Kampforganisationen in der "sublimierten Form des Bürgerkrieges" ansieht, die in parlamentarischen Demokratien um die Aufrechterhaltung oder den Umsturz der Verteilung von Macht über die öffentlichen Gewalten kämpfen.[7] Um die dazu erforderliche dauerhafte Mobilisierung sicherzustellen, müssen die Parteien einerseits eine Vorstellung von der sozialen Welt entwickeln und andererseits Machtpositionen erobern, deren Besitz es erlaubt, diejenigen zu halten, die sie innehalten. In der Tat: Die Sozialdemokratie hat sich in ihrer Geschichte stets als Organisation mit Doppelcharakter erwiesen: Kollektiv zur Verfolgung gemeinschaftlich definierter politischer Zwecke und Promotionsagentur für den individuellen sozialen Aufstieg, insbesondere.[8] Wenn dazu die Parteien sozial als Zusammenschlüsse der bewußtesten und aktivsten Menschen einer Klasse betrachtet werden,[9] dann ist die SPD die Partei der sozialen Aufsteigermilieus, die im keynesianistischen Wohlfahrtsstaat für Verhandlungs- und "bargaining-Prozesse" mit den "alten" bürgerlichen Eliten funktional sind, solange und soweit sie ein soziales und politisches Drohpotential repräsentieren. Insoweit ist sie ein Agent im politischen Feld, also eine kleine, relativ autonome soziale Welt innerhalb der großen sozialen Welt,[10] deren Potential einerseits einer "Vorstellung von der sozialen Welt" bedarf, um andererseits das politische Kapital zu erzeugen, daß zur kollektiven und individuellen Einnahme von Machtpositionen erforderlich ist.

Beginnen wir mit einem Rückblick: noch vor gut zehn Jahren hieß es zum Erscheinungsbild der SPD, sie habe viel, bunte, sich zum Teil auch gegenseitig ausschließende Images: "Arbeiterpartei und Ökopartei, Friedensbewegung und Interessenvertretung der kleinen Leute, Modernisierung und Traditionalismus."[11] Die SPD habe sich "so vielfältig, widersprüchlich und bunt entwickelt."[12] Andere Autoren kamen noch zwei Jahre später zu der Überzeugung, daß eine breit gefächerte Parteilinke ca. 40 Prozent der Parteidelegierten erreichen würde und zählten zu dieser Linken u.a. Erhard Eppler, Otto Schily, Peter Glotz, Volker Hauff oder Dieter Spöri.[13] Auf die Idee, die SPD als sympathische "lose verkoppelte Anarchie" zu beschreiben und die Genannten auch nur der "Parteilinken" zuzuordnen, käme heute ernsthaft wohl niemand mehr. Für diese Differenz gibt es Gründe, die nicht allein aus den mentalen und politischen Folgen der deutschen Einheit abgelesen werden können, da beide Autorenpaare diese Wirkungen in ihre Analysen einbeziehen.

Wir sind der Ansicht, daß sich mit dem sozialen Milieu der Funktionsträger der Partei auch die Vorstellung der sozialen Welt geändert hat, mit der sie meinen, im "sublimierten Bürgerkrieg" mobilisieren und Machtpositionen erobern und Ressourcen verteilen zu können. Eine der wesentlichen Wurzeln für die ostentative Abwendung der Sozialdemokratie von allem, was ernsthaft bis Anfang der 90er Jahre unter dem Stichwort "demokratischer Sozialismus" diskutiert worden ist und was im Berliner Programm der SPD 1990 seinen Niederschlag fand, ist mit dem ideologischen Geburtsfehler der Sozialdemokratie verknüpft: ihrer Fixierung auf den Staat, dem Glauben an die technische und bürokratische Lösbarkeit von sozialen Problemen, dem seit dem Revisionismusstreit Anfang des 20. Jahrhunderts währenden Kampf des Partei (und Gewerkschafts-)apparates gegen soziale Bewegungen, die sich seiner Kontrolle entziehen könnten.[14] Nicht die sich selbst organisierende, um Demokratie in allen Lebenssphären kämpfende Klasse, sondern die konforme, disziplinierte und die "bewährten Taktiken" der Stimmzettelmaximierung nutzende Organisation war das Leitbild dieser Partei. Und auch nur so konnte es politische Bargaining-Prozesse zwischen den herrschenden Klassen und diesen Repräsentanten der Arbeiterbewegung geben, deren ideologischer Horizont den der bürgerlichen Gesellschaft im wesentlichen nicht überstieg: das Anstreben von Gleichberechtigung und Gerechtigkeit in einer kapitalistischen Gesellschaft ist eine Aufstiegs-, aber keine radikale Emanzipationsperspektive, wie sie beispielsweise von den russischen oder spanischen Arbeitern 1917 bzw. 1936 in ihren Revolutionen angestrebt wurde.

Für einen nicht unbedeutenden Teil der "sozialdemokratischen" Milieus ist dieser Aufstieg im Zuge der 60er und 70er Jahre gelungen. Vester et.al. sprechen hier von den modernisierten Arbeitnehmermilieus, die zu ihrem Habitus ein hohes Interesse an Mitbestimmung und Teilhabe zählen.[15] Die Spitzengruppen dieser Milieus sind in die Milieus des gehobenen Staatsapparates, der politischen und ökonomischen Funktionseliten sowie der geisteswissenschaftlichen Ideologieproduzenten aufgestiegen. Es hat insoweit - nicht nur - eine Transformation der Intellektuellen gegeben.[16] Aber: Paul Nolte hat in einer kritischen Analyse der "Neuen Mitte" festgestellt, daß dieses Milieu kaum noch über sich selbst hinausstrahlt und die realen gesellschaftlichen Spaltungen "das Reden von einer saturierten Mitte fast zynisch erscheinen lassen." Es wird immer schwieriger, eine Mitte der Gesellschaft zu stabilisieren.[17] Gerade aber weil das so ist, nimmt das Interesse dieser Milieus an Demokratie, an generalisierbaren Werten wie Selbstbestimmung und Emanzipation ab und wird ersetzt durch einen Abgrenzungskampf nach unten, gegen die alten und neuen Arbeiterklassenmilieus. Es ist deshalb unsere These, daß innerhalb der von Vester beschriebenen Milieukonstellation eine Verschiebung von einem teilhabe- und kritischen Engagement geprägten Habitus zu einem autoritätsorientierten und neoliberalen Habitus stattgefunden hat.

Eine mögliche Ursache dafür: Weil sie soziale Aufsteigermilieus repräsentieren, müssen sie aus "Angst vor dem Abstieg"[18] "nach unten" politische und soziale Ausschlußkriterien formulieren und durchsetzen gegenüber den "proletarischen Milieus". Soziale Schließung ist für diese Milieus konstitutiv, insbesondere, wenn der kapitalistische Surplus bzw. die Verteilungsmasse kleiner wird. Und genau dies ist mit der Sozialdemokratie im Verlaufe der letzten Jahre geschehen. Ihrer zunehmenden Orientierung auf die neuen Dienstleistungsschichten mit ihren postmaterialistischen Werten entsprach die Abwertung der traditionellen Arbeiter- und Unterschichten, denen in pietistischer Manier eine Schmarotzermentalität gegenüber dem Sozialstaat unterstellt wurde.[19] Allerdings übersieht die Orientierung an der "Mitte", denjenigen, die "als Kerngruppe der Gesellschaft "produzieren, die Dienstleistungen erbringen, Steuern zahlen, Kinder erziehen",[20] daß dies ein Konstrukt ist, eher die schmale Schnittmenge eines sozialen Raumes beschreibt, innerhalb dessen der politische Klassenkampf, und - im Falle der Sozialdemokratie - nunmehr entschieden ist:

Die in der Frankfurter Rundschau vom 03.02.2004 abgedruckten Austrittsbegründungen zum großen Teil langjähriger SPD-Mitglieder lassen erkennen, daß hier der harte reformistische, sozialstaatlich orientierte Kern der Sozialdemokraten das Handtuch wirft. Allerdings ist dies eine Austrittsbewegung, die erst jetzt eine Spaltungsbewegung zu werden beginnt.

Damit aber macht sich die SPD politisch überflüssig, weil sie ihre Verhandlungs- und Vermittlungsrolle im Hinblick auf politische und soziale Partizipation objektiv (Schwinden der Notwendigkeit für Umverteilung seitens der herrschenden Eliten) und subjektiv (Orientierung zu den herrschenden Eliten durch die Aufsteigermilieus) verliert.

Damit wird die politische Vertretung der alten bürgerlichen Eliten hegemonial, die CDU als bürgerliche Einheitspartei mehrheitsfähig und die SPD objektiv und subjektiv überflüssig. Als Sammelbecken für bestimmte Milieus des Ausgleichs und der sanfteren Adaption der herrschenden Hegemonialansprüche wird sie aber doch ein gewisses Leben haben. Sie wird ihre Funktion als eine alternative politische Elitenaustauschplattform behalten.

Das Erstarken der Sozialdemokratie als bürgerlich-demokratische Partei des sozialen Ausgleichs wird daher maßgeblich davon abhängen, ob sich ein starker sozialistischer bzw. kämpferischer emanzipatorischer Pol herausbildet, der die Austausch- und Ausgleichsfunktionen der Sozialdemokratie reaktiviert. Wer die Sozialdemokratie erhalten will, müßte für den Aufbau einer starken sozialistischen Organisation links von ihr, getragen von kämpferischen und durchsetzungsfähigen Basisbewegungen der Arbeitnehmer, eintreten.

Mit dem Ende des sozialdemokratischen Jahrhunderts (Dahrendorf) ist auch das Ende der SPD in ihrer traditionellen Form gekommen; die historische Aufgabe, den von ihr selbst maßgeblich mitgestalteten Sozialstaat abzureißen, hat die SPD nicht zuletzt mit der Agenda 2010 weitgehend erfüllt. Der Begriff der Reform, traditionell auf die Ziele soziale Gleichheit und demokratische Partizipation bezogen, läßt sich jedoch nicht beliebig ins Gegenteil verkehren, ohne Gegenreaktionen zu provozieren.

Damit ist die Organisationsfrage in aller Schärfe auf die Tagesordnung gesetzt. Die verschiedenen, teilweise miteinander kooperierenden Parteigründungsinitiativen, welche die Lücke, die die SPD hinterläßt, zu füllen beabsichtigen, machen das mehr als deutlich. Bezieht man die PDS und die verschiedenen Linksparteien in anderen Ländern mit ein - der Beitrag von Alex Callinicos[21] betrachtet einen Teil dieses Spektrums - drängt sich die Frage noch stärker auf. Die Betriebsamkeit, die in Teilen des linken Spektrums zu beobachten ist, droht jedoch, grundlegende Fragestellungen zu verdrängen, denn die traditionelle Aufgabenteilung zwischen Partei und Gewerkschaften, die nun reproduziert werden soll, ist keine Selbstverständlichkeit.

Die Organisationsfrage ist so alt wie die sozialistische Arbeiterbewegung.[22] Die ersten Arbeiterkoalitionen entstanden "naturwüchsig", d.h. aus spontanen Kämpfen, die in Niederlagen einmündeten, wurde die Konsequenz gezogen, sich dauerhaft zusammenzuschließen und für Arbeitskämpfe, aber auch für politische Kämpfe, vorzubereiten. Das Koalitionsrecht auch für Arbeiter - d.h. das Recht, sich legal zu Gewerkschaften zusammenzuschließen - markierte einen Meilenstein in diesen Emanzipationskämpfen. In dieser ersten Phase der Arbeiterbewegung, die in die Gründung der I. Internationalen Arbeiterassoziation mündete, gab es noch keine strikte Trennung von politischer und ökonomischer Organisationsform. Die Arbeiterorganisationen umfaßten viele Lebensbereiche; sie waren politische Kampforganisation, Gewerkschaft, Genossenschaft, Bildungsverein, Sozialversicherung, Kulturinitiative, Arbeitsvermittlung und Informationsbörse gleichzeitig. Erst mit dem Erstarken der Arbeiterbewegung und der Repression durch den kapitalistischen Staat differenzierte sich die Bewegung in Partei und Gewerkschaft aus - die Genossenschaften blieben ohnehin das ungeliebte Kind der Sozialdemokratie. In Deutschland vollzog sich dieser Trennung während des Sozialistengesetzes, als die weiterhin legal agierenden Reichtagsfraktion zum Zentrum der Bewegung wurde.

Vor dem Hintergrund der Kapitalismuskritik der II. Internationale war die Sozialdemokratie ein durchaus erfolgreiches Modell, das die Lösung der vordringlichen Probleme versprach: Die Arbeiterschaft sollte gegen Armut und Arbeitslosigkeit geschützt, der materielle Lebensstandard - Wohnverhältnisse, Bildung, Gesundheitsversorgung, Kultur etc. - gehoben werden.[23] An die Stelle der krisenhaften kapitalistischen Entwicklung sollte die zentral, d.h. staatlich gelenkte Entwicklung der Produktivkräfte treten. Als Mitglieder und Wähler der Sozialdemokratie sollten die werktätigen Massen an diesem Prozeß partizipieren. Die Gewerkschaften mit ihrer mühevollen Tarifpolitik organisierten die Massenbasis für diese Politik. Während die Partei die Arbeiterschaft als Staatsbürger mobilisierte, blieben die Gewerkschaften im Kern auf ihre Rolle als Organisationsform der Arbeiter als Marktteilnehmer beschränkt. Der Form nach wies dieses Organisationsmodell nicht über die bürgerlichen Formen politischer und wirtschaftlicher Interessenvertretung hinaus. Es ist daher konsequent, wenn die Sozialdemokratie mit der - wenn auch nur teilweisen - Verwirklichung ihrer Konzeption an mobilisierender Kraft einbüßte, zumal nach den faschistischen Konterrevolutionen der 30er Jahre die Gewißheit, eine historische Mission - die Erkämpfung des Sozialismus - zu erfüllen, im Massenbewußtsein zerstört worden war.

Die kommunistische Bewegung stellte keinesfalls einen radikalen Bruch mit dem Sozialismus der II. Internationale dar, sondern im gewissen Sinne eine radikalisierte Form der Sozialdemokratie: Die Eroberung des Staates durch die in der Partei organisierte Avantgarde der Arbeiterklasse und die Verstaatlichung der gesamten Gesellschaft war eine durchaus konsequente Überlegung und setzte sich insbesondere nach dem II. Weltkrieg nicht ohne Grund in großen Teilen der Welt durch; eine revolutionäre Umwälzung und Demokratisierung der Arbeits- und Produktionsverhältnisse, wie sie von den Rätebewegungen in den revolutionären Umwälzungen Ende des I. und II. Weltkriegs intendiert war, blieb außerhalb des Horizonts des Parteikommunismus. Die Emanzipation des Arbeiters als Produzent, als Angehöriger eines Betriebskollektivs, der "gewerbliche Konstitutionalismus" (Karl Korsch) blieb zwar eine einflußreiche Idee, die in Deutschland etwa im Kampf um die Mitbestimmung 1950/51 erneut eine zentrale Bedeutung bekam; hegemoniefähig wurde diese syndikalistische Strömung aber nicht. Selbst in Spanien, wo der Anarchosyndikalismus die vorherrschende Richtung der Arbeiterbewegung bildete, konnte sich diese Konzeption historisch nicht durchsetzen.

Es ist kein Zufall, daß während der Restaurationsphase nach dem Zweiten Weltkrieg nur diejenigen Strömungen der Arbeiterbewegung überleben konnten, die in ihrer Konzeption dieses Erbe der revolutionären Arbeiterbewegung aufbewahrten.[24] Die Möglichkeit, sich gegen die Sozialdemokratie einerseits, den Stalinismus andererseits abgrenzen zu können, kennzeichnete auch den weltweiten Aufbruch Ende der 60er Jahre und führte zu einer Renaissance dissidenter Denker der Arbeiterbewegung wie Otto Rühle oder Karl Korsch. Die "neuen" praktischen und theoretischen Brennpunkte wie die Revolutionierung der Reproduktions- und insbesondere auch der Geschlechterverhältnisse oder die Ökologiebewegung, die der Sache nach eng mit der Frage anderer Produkte und anderer technischer Produktionsformen verbunden ist, weiteten den Problemhorizont emanzipativer Bewegungen.

Es wäre den heutigen sozialen und ökologischen Herausforderungen nicht angemessen, ginge man über die praktischen und theoretischen Anstrengungen früherer emanzipativer Bewegungen hinweg; noch leichtfertiger wäre es, das Versagen dieser Bewegungen aus den Bemühungen, eine neue umwälzende Praxis und Theorie zu entwickeln, auszublenden. Die Vorstellung, eine Partei aufzubauen, welche die Sozialdemokratie ersetzt, und sei es als "revolutionäre" Partei, sprengt schon der Form nach nicht den Rahmen innerkapitalistischer Interessenvertretung. Emanzipative Politik hat ihren Ausgangspunkt in den realen Lebensverhältnissen zu suchen; sie kann nicht durch eine wie auch immer geartete Avantgarde betrieben werden, schon gar nicht durch eine Partei, die sich selbst dazu erklärt. Es ist kein Zufall, daß die sozialen Bewegungen - die keinesfalls ihrem Selbstverständnis nach mehrheitlich sozialistisch sind - ihren Ausgangspunkt nicht in denjenigen Organisationen genommen haben, die ihrem eigenen Anspruch nach revolutionär sind. Die Idee der Sozialforen etwa ist keine Idee, die einer traditionellen politischen Konzeption entspringt, sondern sie ist dem Bedürfnis nach Koordinierung und Zentralisierung von Praxis und Theorie geschuldet. Es ist eine sinnvolle Aufgabe für die verbliebene Linke, die an vielen Punkten stattfindenden Diskussionen und Kämpfe der "Antiglobalisierungsbewegung" mit zu organisieren, voranzutreiben und ihre eigenen Fähigkeiten dabei zu entwickeln - nicht als Avantgarde, sondern als Verment, als Katalysator. Ist vor diesem Hintergrund eine neue linke Partei als Ausdruck der in den letzten Jahren entwickelten Praxisformen notwendig?

Die gegenwärtigen Initiativen zur Gründung einer neuen Partei gehen - bei allen Einwänden - von einer durchaus realitätshaltigen Überlegung aus: Trotz aller Behauptungen vom Bedeutungsverlust des Staates sind die bürgerlichen Staaten weiterhin die zentralen kollektiven gesellschaftlichen Akteure.[25] Die politische Legitimation der herrschenden Eliten wird nach wie vor über Parlamentswahlen und öffentliche Diskurse hergestellt. Die Gründung einer Partei, welche die SPD beerbt, kann daher eine wichtige Funktion übernehmen: schon allein die Aufrufe zur Bildung einer "Plattform" in der SPD hat das Parteiestablishment erheblich in Aufruhr versetzt. Die Drohung, nun auch aktiv der Sozialdemokratie ihre Basis abspenstig zu machen, erzeugt politischen Druck. Zudem stellt diese Initiative auf doppelte Weise eine Öffentlichkeit her: Innerhalb der bürgerlichen Medien, die an diesem Thema schlecht vorbeikommen, und eine Gegenöffentlichkeit innerhalb der Kreise, die sich aktiv an der Diskussion um eine Wahlalternative beteiligen. Mittelfristig kann eine neue Linkspartei dem sozialen Protestpotential eine Stimme auf parlamentarischer Ebene geben und auch diejenigen Menschen integrieren, die bisher kaum für eine emanzipative Politik zu gewinnen waren. Eine Abwanderung bisheriger SPD-Wähler zu rechtspopulistischen Wahlvereinen wäre damit zumindest teilweise vorgebaut.

Die mit der Gründung einer neuen Linkspartei verbundenen Probleme sollten jedoch keineswegs unterschätzt werden. Der etablierte Politikbetrieb mit seinen medialen Vermittlungsformen bringt zahlreiche Zwänge mit sich, die all die schlechten Eigenschaften einer Partei verstärken: Stellvertreter-Politik, Karrierismus von Funktionären, eine Monopolisierung politischen Protestes, Bindung aktiver Leute in unproduktiven Machtkämpfen, Illusionen in die Möglichkeiten etatistischer Politik u.v.a.m. Entscheidend ist allerdings die Frage der inhaltlichen Positionierung: Will die neue Partei über eine Neuauflage der SPD der 70er Jahre hinausreichen, muß sie vor allem mit der Lebenslüge dieser Republik brechen, nach der die Vollbeschäftigung ein erreichbares und wünschenswertes Ziel ist.[26]

Gegenwärtig scheint es nicht so zu sein, daß die Partei-Initiativen den außerparlamentarischen Kräften die Aktivisten-Basis entziehen; diejenigen, die bisher dabei in Erscheinung getreten sind, entstammen dem traditionellen sozialdemokratischen Milieu, das sich bisher gegenüber Organisationen wie Attac eher reserviert verhalten hat. Es wird viel davon abhängen, wie sich die neue Partei in Zukunft gegenüber den sozialen Bewegungen und dem Staat positioniert. Bisher spricht nichts dagegen, daß es zu einem kooperativen Verhältnis zu den außerparlamentarischen Organisationen kommen könnte. In ihren Texten definieren die Initiatoren der zu gründenden Partei ihre Position zum etablierten Politikbetrieb zudem negativ; man kann und will Stimme der Opposition sein, nicht mehr und nicht weniger, nicht Mehrheitsbeschaffer und nicht Teil einer zukünftigen Regierung. Idealer Weise wäre die politisch-parlamentarische Partei dann eine Organisationsform unter vielen ohne hegemonialen Anspruch. Denn die Hauptaktivität aller emanzipativen Menschen sollte sich dort abspielen, sich auch das alltägliche Leben abspielt: Im Büro, in der Schule, im Betrieb, im Mietshaus oder im Stadtteil.



Anmerkungen:

[1] Peter von Oertzen, "Nicht auf der Höhe der Empirie". Interview in SoZ - Sozialistische Zeitung. Mai 2002, S. 5.

[2] "Der Weg nach vorne für Europas Sozialdemokraten - Ein Vorschlag von Gerhard Schröder und Tony Blair". Ms. 1999, 18 Seiten; dazu schon in der "Zeit" vom 23.09.1999 der Industriepfarrer Klute: "Nimmt die Sozialdemokratie Abschied von den Arbeitern?", S.11.

[3] Überhaupt scheint eine totalitäre Tendenz mit dem "Ende der Geschichte" eingezogen zu sein: die Medien propagieren fast gleichgeschaltet die selben neoliberalen Weisheiten, die jeweils herrschende Linie wird als alternativlos gekennzeichnet, Abweichler und Frager als "Blockierer" und "Betonköpfe" diffamiert und ehrlos gestellt. Mit dem Ende des Staatskapitalismus im Osten scheint sich der ideologische Stalinismus seine Nachfahren nun im Westen im Gewande neoliberaler Orthodoxie zu suchen, die Denk- und Argumentationsstrukturen jedenfalls unterscheiden sich nicht sehr.

[4] Michael Vester, Gibt es eine ‚neue Mitte'? Die gesellschaftliche Basis für eine sozialdemokratische Reformpolitik. Beitrag auf der Konferenz "Modernisierung der Sozialdemokratie " am 28.11.1999 in Berlin, Ms.: "Das Modell der Arbeitnehmergesellschaft symbolisierte die Verminderung sozialer Ausgrenzung, Rechtlosigkeit und Not und eine höhere Teilhabe (fast) aller am Zuwachs der Einkommen, an Mitbestimmungsrechten, am Bildungssystem und an der Sicherung bei Krankheit, Arbeitslosigkeit und Alter", S. 2. Über die organisatorischen Konfigurationen dieses Kompromisses in bürokratischen Massenverwaltungen mit autoritärem, hierarchischem Aufbau durch etatistisch ausgerichtete Stellvertreterorganisationen soll hier nicht die Rede sein, obwohl dies einen dankbaren Resonanzboden für die Angriffe neoliberaler Ideologen darstellt.

[5] Vgl. Helmut Schauer, Die Zukunft der Gewerkschaften und die Chancen einer sozial-ökologischen Reformpolitik. In: Loccumer Initiative Kritischer WissenschaftlerInnen (Hrsg.), Rot-Grün - noch ein Projekt? Versuch einer Zwischenbilanz. Kritische Interventionen Bd. 5. Hannover 2001, S. 70 - 79.

[6] So eine nach wie vor korrekte Beschreibung der Sozialdemokratie durch die Theoretiker des ehemals "antirevisionistischen" Flügels der Jungsozialisten, Helmut Korte und Karl Nolle, Anfang der 70er Jahre.

[7] Pierre Bourdieu, Das politische Feld, Konstanz 2001, S. 83.

[8] Peter Lösche/Franz Walter, Die SPD. Klassenpartei, Volkspartei, Quotenpartei. Darmstadt 1992, die dazu reichhaltiges Anschauungsmaterial liefern.

[9] Bucharin/Preobrashenski, ABC des Kommunismus, Neudruck Köln.

[10] Bourdieu, a.a.O., S. 41.

[11] Lösche/Walter, a.a.O., S.379.

[12] Ebd., S. 380.

[13] Leif/Raschke, Rudolf Scharping, die SPD und die Macht. Reinbek 1994, S. 124ff.

[14] Vgl. Birke, Wir sind die Sozialdemokratie des 21. Jahrhunderts. In: UTOPIE kreativ, Heft 156 (Oktober 2003), S. 885f.

[15] Vester, Gibt es eine neue Mitte, S. 8ff.

[16] Egon Matzner, Exodus ans rechte Ufer, Frankfurter Rundschau online vom 22.02.2003, S. 4: "Angesichts der revolutionären Änderungen (nach 1989 - A.d.Verf.) standen viele vor der existentiellen Entscheidung, ob sie sich fürderhin eine gesellschaftskritische Position auf Kosten persönlicher Perspektiven leisten konnten und wollten." Er spricht von einer "fantastischen Vergessenheitskonjunktur, die der Radikalisierung des Kapitalismus folgt".

[17] Paul Nolte, Die neue Mitte, ein Selbstbetrug. TAZ Pfingsten 2002, S. 4.

[18] Vgl. Barbara Ehrenreich, Angst vor dem Absturz. Das Dilemma der Mittelklasse. Reinbek 1994.

[19] Schröder/Blair: "Allzu oft wurden Rechte höher bewertet als Pflichten. Aber die Verantwortung des einzelnen in Familie, Nachbarschaft und Gesellschaft kann nicht an den Staat delegiert werden. Geht der Gedanke der gegenseitigen Verantwortung verloren, so führt dies zum Verfall des Gemeinsinns, zu mangelnder Verantwortung gegenüber Nachbarn, zu steigender Kriminalität und Vandalismus und einer Überlastung des Rechtssystems." Aus diesem Zitat sprechen eher evangelikale Prediger als bis dato verantwortliche Sozialdemokraten.

[20] Franz Walter, Partei ohne Botschaft - Probleme und Chancen der deutschen Sozialdemokratie zwischen Neuer Mitte und ergrauender Gesellschaft, Frankfurter Rundschau vom 25.09.2000, Abschnitt III 5.

[21] Vgl. Axel Callinicos, Sozialistische Linke und Umgruppierung heute. Auf: www.sopos.org 2004.

[22] Es handelte sich in der Tat um eine solche; Arbeiterinnen waren in den sozialistischen Organisationen, etwa der I. Internationalen Arbeiterassoziation, deutlich unterrepräsentiert. Vgl. Antje Schrupp, Nicht Marxistin und auch nicht Anarchistin. Frauen in der Ersten Internationale. Königstein/Taunus 1999. - Auf: Auf: sopos.org 2000.

[23] Die bürgerlichen Bildungsideale galten auch für Sozialdemoraten erstrebenswert. Wie in vielen anderen, etwa patriarchalen Orientierungen, war der Sozialismus in vielem den bürgerlichen Traditionen verhaftet. Vgl. Peter von Rüden/Kurt Koszyk, Dokumente und Materialien zur Kulturgeschichte der deutschen Arbeiterbewegung 1848 - 1918. Frankfurt/Main 1979.

[24] Das gilt insbesondere auch für den Trotzkismus in seinen verschiedenen Spielarten, der die Idee der Arbeiterräte in seiner leninistischen Konzeption des Arbeiterstaats aufbewahrt.

[25] Vgl. Michael Krätke, Globalisierung und die Ohnmacht der Nationen. Eine Herausforderung an die Linke. In: Widerspruch. Beiträge zur sozialistischen Politik. 19. Jg., Nr. 38, Dez. 1999/Jan. 2000, S. 61 - 70.

[26] Das scheint nur sehr bedingt der Fall zu sein. Vgl. Jörg Huffschmid, Aufklärung statt Katzenjammer. Freitag vom 2.4.2004. Sowie: Mohssen Massarrat, Die Mega-Planierraupe bremsen, ebd.

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sopos 4/2004