Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit technokratischen Paradigmen in den Natur- und Gesellschaftswissenschaften. Im Zentrum steht darum das Verhältnis zwischen Mensch und Maschine. Aber was ist der Mensch? Was ist eine Maschine? Eine umfassende Darlegung dessen, was der Mensch ist, würde nicht bloß über den Rahmen dieser Arbeit hinausgehen, sondern scheint in seiner Totalität gar nicht leistbar zu sein. Der Einfachheit halber soll an dieser Stelle zunächst eine gebräuchliche Vorstellung zugrundegelegt werden: Der aus Mangel an spezialisierten Organen und Instinkten in keine bestimmte, natürliche Umwelt eingepaßte Mensch ist gezwungen, vorgefundene Naturgegenstände intelligent zu verändern und damit gleichsam seinen unzureichenden Leib zu verlängern. Er ist mithin ein »toolmaking animal«, ein Werkzeuge herstellendes Tier. Diese auf Benjamin Franklin zurückgehende Definition hat für die vorliegende Arbeit zudem den Vorteil, daß sie mit dem Werkzeug auf den zweiten Gegenstand dieser Arbeit verweist: auf die Maschine.
Nach Karl Marx ist die Maschine die entwickelte Form des Werkzeugs. Während das Werkzeug eine bloße Verlängerung der Hand ist, bildet sich mit der Maschine eine neue, technische Form der Umwelt aus. Lewis Mumford unterscheidet in seinem 1934 erschienenen Buch Technics and Civilization das Werkzeug von der Maschine dadurch, daß das Werkzeug von seinem Benutzer geführt wird, die Maschine hingegen den Benutzer führe: »The essential distinction between a machine and a tool lies in the degree of independence in the operation from the skill and motile power of the operator: the tool lends itself to manipulation, the machine to automatic action.« (mumford63, 10) Die im Wesen der Maschine liegende Verkehrung der Verhältnisse: das Artefakt bestimmt über seinen Erfinder, ist wiederholt aufgegriffen worden, unter anderem von Ivan Illich, der den Entfremdungscharakter der Maschinen betont und diese weitgehend durch Werkzeuge ersetzen will. (illich73) Die Entfremdung des Menschen von seinem Produkt liegt nach Mumford in der starken Spezialisierung begründet, die den Automaten auszeichnet. Das Werkzeug hingegen ist universal, d. h. vielfältig einsetzbar: »In general, the machine emphasizes specialization of function, whereas the tool indicates flexibility: a planing machine performs only one operation, whereas a knife can be used to smooth a wood, to carve it, to split it, or to pry open a lock, or to drive in a screw. The automatic machine, then, is a very specialized kind of adaptation; it involves the notion of an external source of power, a more or less complicated inter-relation of parts, and a limited kind of activity. From the beginning the machine was a sort of minor organism, designed to perform a single set of functions.« (mumford63, 10 f.)
Sigmund Freud teilte unsere ad-hoc Definition des Menschen als »toolmaking animal«. Für ihn bildet die Unterwerfung der Natur die Grundlage erfolgreicher Triebsublimierung, ergibt sich doch erst mit dieser die Möglichkeit für den Menschen, seinem Streben nach Glück und Leidvermeidung rational zu folgen: »Es gibt freilich einen anderen und besseren Weg [als den der neurotischen Abkapselung und Fernhaltung von anderen Menschen als Quelle des Leids, O. H.], indem man als ein Mitglied der menschlichen Gemeinschaft mit Hilfe der von der Wissenschaft geleiteten Technik zum Angriff auf die Natur übergeht und sie menschlichem Willen unterwirft. Man arbeitet dann mit allen am Glück aller.« (freud82) Die Wissenschaft kann sich dem Ideal der allumfassenden Naturbeherrschung jedoch nur annähern; der Mensch, der sich mit ihrer Hilfe und der der Technik immer mehr seinem göttlichen Idealbild annähert, vermag dieses doch nie vollständig zu erreichen. »Der Mensch ist sozusagen eine Art Prothesengott geworden, recht großartig, wenn er alle seine Hilfsorgane anlegt, aber sie sind nicht mit ihm verwachsen und machen ihm gelegentlich noch zu schaffen. (...) Ferne Zeiten werden neue, wahrscheinlich unvorstellbar große Fortschritte auf diesem Gebiete der Kultur mit sich bringen, die Gottähnlichkeit noch weiter steigern.« (freud82, 222) Daß der Mensch Natur ist, steht zwar seinem Wunsch, Gott zu sein, diametral entgegen; der Wunsch, sich zum Gott zu erheben ist für Freud jedoch ein durchaus gesunder und keinesfalls pathologisch.
Die Psychoanalyse teilt den Fortschrittsglauben der Naturwissenschaften. Zwar macht Freud den Triebverzicht als Ursache eines »Unbehagens in der Kultur« aus, sieht diesen jedoch als notwendig an, insofern jede Kultur den Menschen zwinge, seine ureigenen Triebe einzuschränken. Nach Freud ist Sublimierung die Umlenkung von Triebenergie auf gesellschaftlich verträgliche Ziele. Sublimierung läßt sich nach zwei Seiten hin auffassen: nach einer individuellen und nach einer gesellschaftlichen Seite.* Nun gelingt die Sublimierung der unterdrückten und somit unbewußten Triebe keineswegs immer, die sich dann anderweitig und in entstellter Gestalt den Weg bahnen – neurotische Erkrankungen sind die Folge. Da diese Triebunterdrückung ein allgemeines gesellschaftliches Phänomen ist, bildet sich nach Freud auch ein kulturelles Über-Ich aus und damit zugleich Systeme, die er als Kollektivneurosen bezeichnet und die den Einzelnen vor der individuellen neurotischen Erkrankung schützen. Insbesondere der Religion erkennt Freud diese Rolle zu: »Um diesen Preis, durch gewaltsame Fixierung eines psychischen Infantilismus und Einbeziehung in einen Massenwahn gelingt es der Religion, vielen Menschen die individuelle Neurose zu ersparen.« (freud82, 216}.) – Vgl. auch freud00, passim, insb. 177. Das Individuum ist in der tagtäglichen Auseinandersetzung bei Strafe seines Untergangs gezwungen, Triebe zurückzuhalten und ihre Erfüllung auf später zu verschieben; die so freigesetzte Libidoenergie ermöglicht erst die Entwicklung von Kultur und Gesellschaft. Die Kultur ihrerseits fordert von den Einzelnen die Unterdrückung von Trieben, sei es, daß sie Aggressionstriebe nicht duldet, sei es, daß sie zielgehemmte Libido aufbietet, um die Gesellschaft durch Freundschaftsbande zu stärken. Der gesellschaftlich geforderte Triebverzicht ist kein zumindest im Prinzip temporärer wie der vom Realitätsprinzip verlangte, sondern ein totaler: homo homini lupus, die gefürchtete Natur des Menschen muß zivilisiert werden.*
Daß nun die geglückte Sublimierung der unterdrückten Triebe ausgerechnet darin bestehen soll, daß »man als ein Mitglied der menschlichen Gemeinschaft mit Hilfe der von der Wissenschaft geleiteten Technik zum Angriff auf die Natur übergeht und sie menschlichem Willen unterwirft« (freud82, 209), mithin sich zum »Prothesengott« (freud82, 222) aufschwingt, der derart »der unbesiegbaren Natur (...) unserer eigenen psychischen Beschaffenheit« (freud82, 17) zu entrinnen sucht, mag nicht recht einleuchten. Zwar gesteht auch Freud ein, »daß der heutige Mensch sich in seiner Gottähnlichkeit nicht glücklich fühlt« (freud82, 222) und führt das Unbehagen in der Kultur auf die Unterdrückung der Aggressionstriebe zurück, jedoch sieht er als notwendig an, daß »der Preis für den Kulturfortschritt in der Glückseinbuße durch die Erhöhung des Schuldgefühls bezahlt wird«.** freud82, 269. – Daß Freud nun einerseits die moderne Naturwissenschaft als System gilt, das dem Einzelnen die Sublimierung der unterdrückten Triebe gestattet, während andererseits die Religion als kollektive Zwangsneurose bestimmt wird, ist eine Inkonsequenz, da nicht aus der Freudschen Theorie deduzierbar. Daß, wie Klaus Völker schreibt, »Prometheus (...) nicht nur Kultur um den Preis dauernden Leids, sondern auch eine Befreiung der Triebansprüche des Menschen« (völker71, 211) ermöglicht, verweist auf eine Dialektik, die bei Freud noch nicht entwickelt und somit unabgegolten ist. Die kritische Theorie reflektiert das Unbehagen in der Kultur als Ausdruck der Dialektik von Freiheit und Natur und macht es der psychoanalytischen Kritik zugänglich. Einer übermächtigen Natur gegenüberstehend, beginnen die Menschen sie immer weniger mythisch, d. h. als von übernatürlichen Kräften beseelte, sondern immer mehr als von rational erfaßbaren Gesetzen beherrschte zu betrachten. Doch sind die so Aufgeklärten unfähig, sich mit der durch die Erforschung dieser Naturgesetze beherrschbaren und damit entmächtigten Natur zu versöhnen. Stattdessen sind sie vom Zwang der Naturbeherrschung besessen – die Natur bleibt in ihnen übermächtig, insofern sie die Natur in sich selbst unterjochen und »Herrschaft wird um der Herrschaft selbst willen« verinnerlichen. (horkheimer91, 106) Aufklärung schlägt in Mythos zurück, sie »ist die radikal gewordene, mythische Angst.« (horkheimer87, 38)
Der Unterschied zwischen Maschine und Werkzeug scheint also ausgemacht: Während dieses den Menschen befähigt, sich zum »Prothesengott« zu erheben, ist jene von geradezu sprichwörtlicher Zweischneidigkeit: einerseits erlebt das Menschengeschlecht unerkannte Produktivsteigerungen, andererseits wird der einzelne Mensch seiner spezifisch menschlichen Regungen beraubt und zum Diener depraviert. Die Dialektik von Aufklärung und Barbarei scheint so in die Maschine eingeschrieben zu sein.
Diese Arbeit besteht aus drei Kapiteln. Im ersten Kapitel zeichne ich die Entwicklung der Maschine von der Dampfmaschine über die Arbeitsmaschine hin zur Universalmaschine nach. Dabei untersuche ich sowohl die technische Entwicklung der Automaten als auch die Entstehung von formalen Systemen in Mathematik und Logik. Die Analyse enthüllt einen Prozeß der zunehmenden Abstrahierung der materiellen und geistigen Arbeit des Menschen mit den Resultaten abstrakte Arbeit und abstrakter Geist. In der universalen Rechenmaschine finden beide Entwicklungen ihren Abschluß.
In gewisser Hinsicht kann man die Moderne als das Zeitalter der Abstraktion bezeichnen. Durch den Akt der Abstraktion, verstanden als die Herausstellung einzelner Eigenschaften eines Gegenstandes unter Absehung seiner konkreten Mannigfaltigkeit, wird Verschiedenes vergleichbar gemacht. (Vgl. hegel71) Für die Organisierung der Arbeit in der Manufaktur sind nur allgemeine Eigenschaften der Dinge und Stoffe wie Größe, Gewicht, Härte und Figur relevant. Nach Franz Borkenau wurde die Produktion in der Manufaktur zum paradigmatischen Muster neuzeitlichen Denkens. Zwar liegt keine einfach-kausale Wirkung zwischen manufaktureller Technik und Wandel des Weltbildes vor; doch »läßt sich das Bestreben, das ganze Naturgeschehen aus mechanischen Prozessen zu erklären, als eine Bemühung definieren, alles Naturgeschehen nach Analogie der Vorgänge in einer Manufaktur aufzufassen.« (borkenau34, 5) Die Produktionsstätte Manufaktur ist freilich einer Gesellschaft eigentümlich, in der für einen anonymen Markt produziert wird. Dem Produkt, das auf dem Markt als Ware gegen andere Waren ausgetauscht wird, kommt neben seinem unmittelbaren Gebrauchswert ein Tauschwert als tertium comparationis zu. Der Tauschwert ist nichts anderes als die in der Produktion verausgabte menschliche Arbeit.* marx62, 52. – Daß die Dinge noch nicht im Zuge ihrer Produktion (die immer Produktion von Gebrauchswert ist), sondern erst im Zuge ihres Austauschs eine von ihrer Gebrauchsgegenständlichkeit getrennte, gesellschaftlich gleiche Wertgegenständlichkeit und damit einen doppelten Charakter erhalten, läßt die Wertform als Eigenschaft der Dinge selbst erscheinen statt als Produkt der menschlichen Arbeit: »Die Menschen beziehen also ihre Arbeitsprodukte nicht aufeinander als Werte, weil diese Sachen ihnen als bloß sachliche Hüllen gleichartig menschlicher Arbeit gelten. Umgekehrt. Indem sie ihre verschiedenartigen Produkte einander im Austausch als Werte gleichsetzen, setzen sie ihre verschiednen Arbeiten einander als menschliche Arbeit gleich. Sie wissen das nicht, aber sie tun es. Es steht daher dem Werte nicht auf der Stirn geschrieben, was er ist. Der Wert verwandelt vielmehr jedes Arbeitsprodukt in eine gesellschaftliche Hieroglyphe.« (marx62, 88) Diese Diskrepanz zwischen dem Bewußtsein und dem tatsächlichen gesellschaftlichen Sein, die Marx als Ideologie bezeichnet und als gesellschaftlich notwendig falsches Bewußtsein begrifflich faßt, hat weitreichende Folgen. Die ökonomischen Gesetze werden nicht mehr als vom Menschen produzierte erkannt, sondern erhalten einen naturgesetzlichen Anschein. »Sieht man nun vom Gebrauchswert der Warenkörper ab, so bleibt ihnen nur noch eine Eigenschaft, die von Arbeitsprodukten. (...) Mit dem nützlichen Charakter der Arbeitsprodukte verschwindet der nützliche Charakter der in ihnen dargestellten Arbeiten, es verschwinden also auch die verschiedenen konkreten Formen dieser Arbeiten, sie unterscheiden sich nicht länger, sondern sind allzusamt reduziert auf gleiche menschliche Arbeit, abstrakt menschliche Arbeit.«* Die menschliche Arbeit wird zu einer abstrakten Größe, doch mehr noch: Die Rückführung auf abstrakte, einfache Arbeit wird selbst zu einer Quelle des Profits. In der Manufaktur kann unterschieden werden zwischen Produktionsschritten, die von einem geschickten und gut ausgebildeten Arbeiter ausgeführt werden müssen, und solchen, die genausogut von einem angelernten Kind erledigt werden können. »(D)ie Arbeit wird zur reinen Arbeitsquantität. Die Ersetzung qualifizierter Arbeit durch allgemein menschliche Arbeit ist profitlich, weil die höhere Arbeitszerlegung höhere Produktmengen ergibt, der unqualifizierte Arbeiter weniger kostet als der qualifizierte. Sie verwirklicht überdies ein immanentes Prinzip aller kapitalistischen Wirtschaft: die Rechenhaftigkeit. Denn nur reine Quanten sind völlig kommensurabel, die Vergleichbarkeit von Arbeitsquanten ist daher an die Reduktion aller Arbeitsqualitäten auf allgemein-menschliche, rein quantitativ bestimmte Arbeit geknüpft.« (borkenau34, 7 f.)
Durch die Aufteilung des Arbeitsprozesses in einzelne Arbeitsschritte kann ein Unternehmer genau die Menge an je spezifisch ausgebildeter Arbeitskraft einkaufen, die für den jeweiligen Arbeitsgang erforderlich ist. Daß nun dieses Prinzip zuerst von Charles Babbage, also von einem Entwickler von Rechenmaschinen, formuliert wurde, ist augenfällig. Borkenau sieht einen engen Zusammenhang zwischen Warenform und Denkform. Galilei und Newton hätten die Naturwissenschaft quasi als mathematisch gefaßte Mechanik betrieben; das Bestreben, das ganze Naturgeschehen aus mechanischen Prozessen zu erklären, lasse sich als Versuch begreifen, alles Naturgeschehen analog der Vorgänge in einer Manufaktur aufzufassen.** borkenau34, 4 f. Zum Zusammenhang zwischen Waren- und Denkform vgl. auch sohn-rethel72.
Damit schreibt sich die bürgerliche Produktionsweise in Wissenschaft und Technik ein: »Nicht aus der Auseinandersetzung des Menschen mit der Natur, aus der Auseinandersetzung des Menschen mit der entstehenden neuen Gesellschaft ist die Verallgemeinerung des mechanistischen Weltbildes erwachsen. Letzten Endes freilich folgt da ein Prozeß aus dem anderen. Im manufakturellen Arbeitsprozeß wird der Mensch zum erstenmal Träger von Arbeit schlechthin in seinem Verhältnis zur Natur, das dadurch mechanisiert wird.« (borkenau34, 14)
Im zweiten Kapitel suche ich aufbauend auf den Erkenntnissen aus dem ersten Kapitel die Entstehungsgeschichte der Kybernetik als disziplinenübergreifende wissenschaftliche Fachrichtung darzustellen. Besonderes Augenmerk gilt hierbei dem Nachweis des Doppelcharakters des universalen Automaten: der Möglichkeit einer umfassenden Ersetzung des Menschen und seiner Verwandlung in eine Maschine einerseits sowie der der Entwicklung eines wirklich universalen Werkzeugs und damit einer humanen Organisation der Arbeit andererseits.
1937 veröffentlicht der englische Mathematiker Alan Turing eine Arbeit, in der er die theoretische Möglichkeit einer universalen Maschine nachweist. Dies führt zu einer zentralen These dieser Arbeit: Dem starren, unflexiblen Automaten scheint sich nunmehr ein Feld neuer Einsatzgebiete zu eröffnen. Einerseits rückt die Möglichkeit einer umfassenden Ersetzung des Menschen in das Blickfeld der Ingenieure und Theoretiker der aufkommenden elektronischen Rechenmaschinen, also seine endgültige Verwandlung in eine Maschine, andererseits erscheint mit dem Computer auch die Möglichkeit gegeben, dem Menschen ein wirklich universales Werkzeug in die Hand zu geben und eine humane Arbeitsorganisation zu verwirklichen. Beispielhaft läßt sich der Widerstreit beider Tendenzen in der in den 1940er Jahren entstehenden Kybernetik und im Werk ihres geistigen Vaters, Norbert Wiener, nachweisen.
Der Name Kybernetik wurde 1947 von Norbert Wiener als künstlicher neugriechischer Ausdruck eingeführt zur Bezeichnung seiner neuen, den traditionellen Fächerkanon sprengenden Disziplin. Er bezeichnet die Kunst des Piloten oder Steuermanns, griechisch κυβερνητικὴ , lateinisch gubernator. Der diesem Wortstamm angehörende Ausdruck »Gouverneur« benennt nicht nur den Regenten eines Gebietes (der bei den Römern eben »gubernator«, Steuermann, hieß). In der Ingenieurwissenschaft wird so der Regler einer Maschine genannt; gewählt wurde der Name Kybernetik denn auch in Anlehnung an einen Aufsatz von James Clerk Maxwell über Fliehkraftregler (engl.: governors) von 1868.** maxwell68. Vgl. auch wiener68, 32; wiener52, 20. – Laut mayr71, 442 f., wurde diese Abhandlung jedoch abseits eines kleinen Kreises von interessierten Wissenschaftlern der Royal Society nicht rezipiert. Es ist das Prinzip der Rückkopplung, das Wiener als ein wesentlich neues wissenschaftliches Paradigma ausmachte und in der Kunst des Steuermanns wirken sah: Der Steuermann paßt den Kurs eines Schiffes dynamisch an, so daß es sich in einer dynamischen Umwelt seinem Ziel zu nähern vermag.
Doch wurde der Ausdruck »Kybernetik« zuerst ausgerechnet auf dem Gebiet von Politik und Politischer Wissenschaft gebraucht: Die katholische Kirche versteht unter »Kybernesis« die Kunst der Führung eines Kirchenamtes. Und André Marie Ampère gab einem 1834 erschienenen Buch, in dem er die Verfahrensweisen der Regierungskunst behandelte, den Titel »Cybernétique« – Aufgabe der Regierung sei das Ansteuern bestimmter politischer Ziele. Ein Physiker, der erörtert, wie zu regieren wäre: Fou, qui mal y pense!
Als Erfinder des Rückkopplungsprinzips gilt gemeinhin James Watt, der für seine Dampfmaschine den Fliehkraftregler erfand. Vermittels der Stellung eines Kolbens wird die Stellung des Dampfeinlaßschiebers bestimmt, so daß der Dampf auf der richtigen Seite des Kolbens einwirken kann. Doch identifiziert die kybernetische Literatur bereits ähnliche Einrichtungen aus der Zeit vor James Watt als rückgekoppelte Systeme; ein Lehrbuch der Kybernetik führt etwa die englischen Kohlengruben des siebzehnten Jahrhunderts an: »Beispielsweise waren schon im 17. Jahrhundert auf den Kohlengruben in England Einrichtungen bekannt, bei denen der Schieber von einem Arbeiter von Hand gestellt werden mußte. Auch hier liegt ein geschlossener Regelkreis vor, weil nämlich der Arbeiter die Stellung des Kolbens mit den Augen richtig beobachten mußte, um den Schieber richtig betätigen zu können.« (anschuetz74, 74)
Kybernetik erscheint hier als das Prinzip der Maschine, nicht des Menschen. Deutlich wird am Beispiel der Kohlengrube noch weiteres: Die Erkenntnis, daß der Mensch zielgerichtet mit seiner Umwelt zu interagieren vermag (mithin: rückgekoppelt!), wird im Rückblick auf den Anbeginn des Maschinenzeitalters zur Erfindung der Rückkopplung aufgebauscht. Ihre Wahrheit dürfte diese ideologische Verkehrung darin finden, daß im aufstrebenden industriellen Kapitalismus des siebzehnten Jahrhunderts die sukzessive maschinelle Ersetzung des Menschen aus dem Produktionsprozeß auf der Agenda stand.
Die fortschreitende Automatisierung legte die Transponierung der Denkfigur von Platons Philosophenkönigen in die heutige Zeit nahe. Als Philosophen dieser Zeit schienen nunmehr die Naturwissenschaftler und Ingenieure berufen. Durch die Verschränkung der Gesellschaft mit Technik – sowohl in Gestalt des Maschinenwesens wie in der von Sozialtechnik – lag es nahe, den »Experten« dieser Technik auch eine politische Schlüsselrolle zu übertragen. Das dritte Kapitel diskutiert denn auch verschiedene Konzeptionen einer »Herrschaft der Technik«. Nach einem kurzen, abrißhaften Überblick über die »technokratische Ideengeschichte« werden zunächst verschiedene Versuche untersucht, das kybernetische Denken in die Sozialwissenschaften zu übertragen. Norbert Wiener wendet zwar die kybernetischen Schlüsselbegriffe auch auf gesellschaftliche Beobachtungen an, hat aber starke methodologische Bedenken hinsichtlich der Anwendbarkeit insbesondere der statistischen Zeitreihenanalyse. Karl Deutsch indes teilt Wieners Bedenken nicht; er unterzieht menschliche Individuen, soziale und politische Organisationen sowie Maschinen gleichermaßen einer kybernetischen Analyse. Ähnlich verfährt Jay Forrester, dessen Blick sich freilich nicht mehr auf einzelne Entitäten in ihrer Umwelt richtet, sondern auf die großen Systeme: auf das gesellschaftliche wie auf das ökologische System in toto, die als selbststeuernde Automaten mit Selbstheilungskräften begriffen werden. Die Autoren hierzulande waren weniger versucht, kybernetische Schlüsselbegriffe zu übernehmen. Die fortschreitende Automation hat jedoch auch im Deutschland der Nachkriegszeit zum Nachdenken über die gesellschaftlichen Auswirkungen einer neuen industriellen Revolution geführt. Konservative Autoren wie Hans Freyer, Arnold Gehlen und Helmut Schelsky erblickten darin das Aufkommen einer umfassenden »Sachgesetzlichkeit«, die politische Entscheidungsfindung zu einer Angelegenheit der Experten macht und politische Willensbildung per se dem Ideologieverdacht unterstellt.
Explizit nicht Thema dieser Arbeit ist hingegen die Systemtheorie Niklas Luhmanns, die zwar durchaus einige Überschneidungspunkte mit kybernetischen Gedankengängen hat und auch von Schelsky beeinflußt wurde, jedoch stärker dem Einfluß Talcott Parsons' unterliegt und daher jenseits des von dieser Arbeit behandelten Bereichs liegt.
In den Schlußbetrachtungen komme ich noch einmal auf die Frage zurück, was der Mensch sei. Die Frage beantworte ich nun nicht mehr mit einer ad-hoc Definition, sondern nähere mich ihr von einem normativen Standpunkt aus.
(borkenau34): Franz Borkenau, Der Übergang vom feudalen zum bürgerlichen Weltbild. Paris, 1934 (Nachdruck: Darmstadt: Wiss. Buchges., 1971).
(hegel71): Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Wer denkt abstrakt? (1807). Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1971, Werke Bd. 2, S. 575–581.
(illich73): Ivan Illich, Selbstbegrenzung. Eine politische Kritik der Technik. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1980.
(forrester70): Jay W. Forrester, Testimony before the Subcommittee on Urban Growth of the Committee on Banking and Currency of the United States House of Representatives, given in Washington, D. C., October 7, 1970.
(freud00): Sigmund Freud, Die Zukunft einer Illusion (1927). In: Freud Studienausgabe. Hrsg. von Alexander Mitscherlich, Angela Richards und James Strachey. Bd. IX: Fragen der Gesellschaft/ Ursprünge der Religion. Frankfurt am Main: Fischer, 2000, S. 135–189.
(freud82): Sigmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur (1930 [1929]). In: Freud Studienausgabe. Hrsg. von Alexander Mitscherlich, Angela Richards und James Strachey. Bd. IX: Fragen der Gesellschaft/ Ursprünge der Religion. Frankfurt am Main: Fischer, 2000, S. 191–270.
(marx62): Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band. Buch I: Der Produktionsprozeß des Kapitals. MEW Bd. 23. Berlin (Ost): Dietz-Verlag, 1962.
(maxwell68): James Clerk Maxwell, On Governors. In: Proceedings of the Royal Society of London. Vol. 16 (1867/1868), p. 270–283.
(mayr71): Otto Mayr, Maxwell and the Origins of Cybernetics. In: Isis, December 1971, p. 424–444.
(mumford63): Lewis Mumford, Technics and Civilization. New York 1963.
(sohn-rethel72): Alfred Sohn-Rethel, Geistige und körperliche Arbeit. Zur Theorie der gesellschaftlichen Synthesis. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2. Aufl. 1972.
(turing36): Alan M. Turing, On Computable Numbers with an Application to the Entscheidungsproblem. In: Proceedings of the London Mathematical Society, Second Series. Vol. 42, 1936, p. 230–265.
(völker71): Klaus Völker, Nachwort. In: Künstliche Menschen. Dichtungen & Dokumente über Golems, Androiden und lebende Statuen. Bd. 2. Hrsg. von dems. Herrsching: Manfred Pawlak, o. J. (1991), S. 209–280.
(wiener52): Norbert Wiener, Mensch und Menschmaschine. Kybernetik und Gesellschaft. Frankfurt am Main: Alfred Metzner, 1952.
(wiener68): Norbert Wiener, Kybernetik. Regelung und Nachrichtenübertragung in Lebewesen und Maschine. Reinbek bei Hamburg: Rohwolt, 1968.