Zur normalen Fassung

Artikel als pdf-Datei

Selbstthematisierung, Selbstoptimierung, Selbstdarstellung – Warum der Neoliberalismus eine große Erzählung anbieten kann

Überlegungen zu Patrick Schreiner, "Unterwerfung als Freiheit – Leben im Neoliberalismus"[1]

von Wilfried Gaum

Lange, allzu lange haben wir in Europa nicht begriffen, dass in Lateinamerika und anderswo im globalen Süden nicht lediglich eine neue neokoloniale Praktik unter der wohlwollenden Ägide der USA und Duldung der europäischen Hauptmächte durchgesetzt wurde. Hier wurde ein strategischer Gegenentwurf zu den wohlfahrtsstaatlich organisierten Nachkriegsgesellschaften durchgesetzt. Dass diese Episode zu Ende war, begriff wohl als einer der Ersten Fritz Scharpf, der 1987 das Ende keynesianischer Krisenpolitik analysierte. Seine strategische Empfehlung für die Sozialdemokratie war die Schaffung einer angebotsorientierten Wirtschaftspolitik und ein "Sozialismus in einer Klasse", also die Umverteilung von Einkommen und Arbeitsangebot in den Schichten der Lohnabhängigen untereinander. Es wird übrigens in der Linken gerne vergessen, dass einer der lautesten Vertreter dieser Schule damals ein gewisser Oskar Lafontaine war.

Mit dem Wahlsiege Thatchers in Großbritannien 1979 und der Präsidentschaft Reagans ab 1980 nahm die Herausforderung des Neoliberalismus in den bis dahin sozialstaatlich regulierten Ländern des globalen Nordens eine offensive Gestalt an. Diese Geschichte ist oft genug geschrieben worden. Aber sowohl Thatcher als auch Reagan wurden in Wahlen in parlamentarischen Demokratien an die Regierung gebracht. Und es bedurfte keines Putsches und keiner Diktatur, um Massenloyalitäten und Massenunterstützung zu erreichen, mithin die politische und ideologische Hegemonie des Neoliberalismus durchzusetzen. Weshalb aber bedurfte es in den kapitalistischen Kernländern keiner Putsche, sondern hatte und hat neoliberale Politik durchaus Masseneinfluß? Wie konnte es gelingen, dass sich in Europa nach Nationalsozialismus und Stalinismus eine weitere Variante totalitären Denkens etablieren und hegemonial werden konnte?

Patrick Schreiners flüssig geschriebenes und fundiert begründetes Buch liefert einen Beitrag zur Diskussion dieser Fragen. Es fragt "nach den alltäglichen – vermeintlich unpolitischen – Mechanismen, durch die Menschen diese Ansätze und Ideen gut, als angemessen und als alternativlos kennenlernen […]. Der Neoliberalismus ist längst zur Grundlage von Lebensstilen geworden, anerkannt und angesagt. Als solche ist er sehr viel hartnäckiger denn als einfache gesellschafts- oder wirtschaftspolitische Ideologie."(S. 8)

In einem kurzen, aber instruktiven Kapitel erklärt Schreiner zunächst, was er unter Neoliberalismus versteht und wie er sich von einer randständigen Minderheitenmeinung zur Hegemonie in den Wirtschaftswissenschaften und auch in der Politik entwickeln konnte. Dabei wird herausgearbeitet, dass auch die Freiburger Schule, die als wissenschaftliche Kaderschmiede der sozialen Marktwirtschaft der 50er Jahre gilt, ihre theoretische Plattform mit harten Neoliberalen teilt: freie Märkte, Vertragsfreiheit und Privateigentum sind primäre Aufgabenstellungen für die Politik (S. 11). Ab den 90er Jahren schwenken auch die sozialdemokratisch oder linksliberal orientierten Parteien im Westen auf diesen Kurs ein. "Sie forderten mehr Eigenverantwortung, mehr Flexibilität an den Arbeitsmärkten, weniger Sozialausgaben und ausgeglichene Staatshaushalte." (S. 16) Was sie ja denn auch mehr oder minder in den angelsächsischen und vielen kontinental-europäischen Ländern durchgesetzt haben.

Das Buch dekliniert auf repräsentativen Feldern durch, was ein neoliberales Selbst- und Weltbild bedeutet und wie und mit welchen Ideologemen es produziert wird. Wichtig ist für ein Verständnis des Neoliberalismus, dass er Freiheit verspricht, Abwesenheit von Bevormundung, sei sie staatlicher oder kollektiver Art. Grundlage für Erfolg ist Leistung. Insoweit greift Raul Zeliks Ansatz, dass die Sorge um die Existenz die wichtigste Triebfeder der Produktivität im Neoliberalismus ist, etwas zu kurz.[2] Zelik erklärt mit der Angst vor sozialer Abwertung die Herrschaft des Neoliberalismus. Dafür bezieht er sich auch auf die Studien der Frankfurter Schule zur psychischen Struktur der Beherrschten. Es wäre dann aber doch zu fragen, warum es einen Formenwechsel von der Anschlussfähigkeit der subalternen Psyche an Faschismus/Stalinismus und heute eben Neoliberalismus gegeben hat. Ich denke, dass die ersten beiden Formen totalitärer Ideologie im Kern rassistische oder klassenbedingte Abwertung Anderer und verbogene Formen eines kollektiven Ideals darstellten, während der Neoliberalismus im Kern sein individualistisches Freiheitsideal mit der sozialen Abwertung anderer, "weniger Leistungsfähiger" verbindet. Hier stellt sich eine gewisse Kontinuität zu den großen Erzählungen der Sozialdemokratie und Arbeiterbewegung heraus, zählen soll für Aufstieg und Erfolg die Leistung und eben nicht Herkunft oder Privileg.[3] Dabei verkürzt der Neoliberalismus diesen Begriff zwar: was zählt, ist das Ergebnis, nicht der Aufwand, der für ein Ergebnis erforderlich ist. Aber die Aufsteigermilieus der 50er bis 80er Jahre haben allzu leicht vergessen, dass es weder alleine und noch überwiegend ihre eigene Leistung war, die sie in Wirtschaft und Staat aufsteigen ließ und sie zu – nunmehr gefährdetem – Wohlstand brachte, sondern das Ergebnis politischer und gewerkschaftlicher, also kollektiver Aktionen war. Dennoch hat sich gerade auch hier eine neoliberale Moral durchgesetzt, die mit den Begriffen Marktkonformität, Anpassungsbereitschaft, Selbstdisziplin und einer aktiven, wettbewerbsfähigen, unternehmerischen und auch egoistischen Lebenspraxis verbunden wird. Daher muss sich der Mensch "thematisieren, optimieren und darstellen" – Schreiner zeigt dies an vielen Beispielen auf, von den Casting Shows über Beratungsliteratur bis hin zu esoterischen Angeboten. Wenn dann Individuen im Wettbewerb nicht mehr mithalten können, wenn ihr Wohlstandsniveau dahinschmilzt, liegt es nie an der Gesellschaftsstruktur und der herrschenden Ideologie, sondern immer an der fehlenden individuellen Anpassungsfähigkeit und –bereitschaft. Als Abhilfe kommt die Herstellung kollektiver Gegenwehr und politische Aktion nicht mehr in den Sinn, sondern nur die innere Anpassung, die mit Hilfe von Experten und Beratern hergestellt werden kann. So erscheint Unterwerfung als Freiheit.

Aufgabe des Buches war die Darstellung und Herausarbeitung von Erscheinungsformen des Neoliberalismus. Aber warum verfangen diese ideologischen Konstrukte? Dazu liefert Schreiners Buch keine Antworten.

Naomi Klein beschreibt 2007 in ihrem Buch "Schockstrategie", wie nach Militärputschen in den Ländern des globalen Südens neoliberale Wirtschaftspolitiken durchgesetzt wurden (Chile 1963, Argentinien 1976 et. al.). Die Bevölkerung wurde durch den gewaltsamen Sturz der bisherigen Regierung "geschockt", ihre linken und gewerkschaftlichen Aktivisten verfolgt, verhaftet, gefoltert und getötet, das gesamte gewohnte System der sozialen, politischen und industriellen Beziehungen wurde gesprengt. Mit der Durchsetzung marktgesellschaftlicher Praktiken wurde tabula rasa gemacht mit der parlamentarischer Demokratie, Gewerkschaften, politischer Opposition und kritischem Denken. Mit den ökonomischen Programmen der Chicago Boys wurden solidarische Sicherungen und kollektive Organisation von Bedürfnissen als "subversiv" verfolgt und ihre Träger zu Tausenden ums Leben gebracht. Diese systematische Gewalt traumatisierte große Teile der Bevölkerung, lähmte ihre Gegenwehr und war Voraussetzung für die Implementierung individualistischer Lebens- und Überlebensstrategien. Was daran "liberal" ist, Individuen so zu depravieren und ihre Identitäten zu zerstören, bleibt das Geheimnis von Hayek und Friedman und ihrer Apologeten weltweit.

In Europa war also keine Schockstrategie nötig, um den Neoliberalismus hegemonial zu machen. Dessen Sieg – und andauernde Hegemonie – ist nach den Schocktherapien des 1. Und 2. Weltkrieges, der Zerstörung der Freiheitsbewegungen der abhängig Beschäftigten durch Nationalsozialismus und Kommunismus eine weitere Niederlage. Aber: was macht andererseits die Faszination des Neoliberalismus für breite Bevölkerungsschichten aus, weshalb findet er Zustimmung bis weit in die Sozialdemokratie hinein? Weshalb wurde eine "moderne Sozialdemokratie" gar für entscheidende Jahre der Republik zur Avantgarde einer solchen Politik? Diese Frage hat jede ernsthafte Analyse der Politik der letzten 20 Jahre zu interessieren, wenn man nicht unfruchtbaren Verratstheorien aufsitzen will oder in der – berechtigten – moralischen Verurteilung dem die Gesellschaften spaltenden, sozialdarwinistischen und menschenverachtenden Menschenbild des Neoliberalismus verharren will.

Eine Antwort darauf ist sicherlich in der Unfähigkeit der Linken zu finden, ein Menschenbild zu entwickeln, das sich deutlich und glasklar von dem entsetzlichen Alptraum des "Realsozialismus" absetzte und gleichzeitig die Aufwertung des Individualismus quer durch alle Schichten und Milieus positiv zu besetzen. Der griechische Finanzminister Varoufakis hat in einem 2013 in Zagreb gehaltenen Vortrag Marx und den ihm folgenden Bewegungen vorgeworfen, der Arbeiterbewegung nicht die "Freiheit" und "Rationalität", sondern "Gerechtigkeit" und "Gleichheit" als Leitmotiv vorgeschlagen zu haben – so dass die Neoliberalen den Begriff der Freiheit für sich okkupieren konnten[4]. Daran ist richtig, dass der historische Determinismus, dem die alte, insbesondere reformerische Arbeiterbewegung folgte, keinen Begriff einer freien Gesellschaft entwickelte, der über die Schaffung sozialer Sicherungssysteme hinausging. Anders die mediterrane syndikalistische Arbeiterbewegung. Beunruhigen muss aber, dass es auch dem explizit libertären Teil der Arbeiterbewegung nach ihrer historischen Niederlage im spanischen Bürgerkrieg 1939 nicht gelungen ist, einer freiheitlich sozialistische Alternativen zu Masseneinfluss zu verhelfen. Zwar gab es durchaus Vorschläge für eine solche Alternative im Wohlfahrtsstaat, aber sie blieben gesellschaftlich minoritär. Und vergessen wir nicht – die freiheitlichen Aufbrüche von 1968ff. fanden in den bürokratischen Apparaten der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung nur wenige Freunde.

Vielleicht besteht daher die Aufgabe darin, ein Konzept von Freiheit durch Gerechtigkeit zu durchdenken, das Individualität, Freiheit und solidarische Sicherungen verbindet. Die Diskussion um ein garantiertes Mindesteinkommen weist in diese Richtung. Varoufakis weist zu recht auf das Problem hin, dass eine solidarische und demokratische Gesellschaft ohne eine Konzeption von solidarisch verankerter und demokratisch operierender Freiheit nicht auskommen kann. Eine solche Konzeption kann nicht mehr von den Mythen der kollektiven Aktion der Arbeiterbewegung des letzten Jahrhunderts bestimmt sein. Deren emanzipatorische Kräfte haben dazu beigetragen, dass in Europa für einen gewissen Zeitraum individueller Aufstieg und gesellschaftliche Wohlfahrt organisiert werden konnten. Nun sind sie vernutzt und verbraucht. Der Sieg und die fortdauernde Herrschaft des Neoliberalismus in den Köpfen und in der gesellschaftlichen Realität - auch weit über die Politik hinaus - hängt mit dieser konzeptionellen Schwäche zusammen. Es werden sich keine gesellschaftlichen Mehrheiten und Transformationsprojekte mit Aussicht auf Erfolg herausbilden, die hinter diese Einsichten zurückfallen. Dem Neoliberalismus müssen wir bald eine alternative große Erzählung von Freiheit, Demokratie und Solidarität entgegensetzen, und zwar bevor mit einem kollabierendes Weltklima die sozialen Verwerfungen die positiven Ressourcen dafür neutralisieren.

Anmerkungen

[1] Erschienen im PapyRossa-Verlag Köln 2015, 127 Seiten, 11,90 €

[2] Raul Zelik, Die Macht der Angst – Sorge um die Existenz ist wichtigste Triebfeder der Produktivität; Rosalux - Journal der Rosa Luxemburg Stiftung Ausgabe 1/2015; S. 24f

[3] Instruktiv hierzu Franz Walter, Vorwärts oder abwärts – Zur Transformation der Sozialdemokratie; edition suhrkamp Berlin 2010, S. 18ff

[4] Yannis Varoufakis, Wie ich zum erratischen Marxisten wurde, nd Dossier: Griechischer Frühling, März 2015, S. 20f

Zur normalen Fassung

Artikel als pdf-Datei


https://sopos.org/aufsaetze/557e9b0f5616d/1.phtml

sopos 6/2015