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Schockwellen aus Nahost

Zur Auseinandersetzung um die Proteste gegen den Krieg im Gaza-Streifen

von Gregor Kritidis (sopos)

Die Vehemenz, mit der in Deutschland Debatten zum Nahost-Konflikt geführt werden, ist selten der Qualität der Argumente zuträglich. Von vornherein werden den jeweiligen Gegnern niedere Beweggründe, Wahrnehmungsstörungen oder ideologische Verbohrtheit unterstellt, kritische Urteilsfähigkeit spielt bei der Bewertung von Informationen nur eine untergeordnete Rolle und soziologische Fragestellungen werden fast gar nicht erörtert.

Daher kann es nützlich sein, sich selbst die eigene Bedeutung im Weltgeschehen zu vergegenwärtigen: Die politische Auseinandersetzung um den Krieg im Gaza-Streifen, die in Blogs, auf Mailinglisten, in Kommentarspalten und auf der Straße geführt wird, kann und wird weder einen maßgeblichen Beitrag zur Bekämpfung des Antisemitismus noch zur Befriedung des Konflikts in Nahost leisten.

Wenn durch eine Kontroverse positiv etwas verändert werden kann, dann vor allem die politische Kultur, die die anderen – die politischen Kontrahenten - ernst nimmt und ihnen zumindest mit minimalen Respekt begegnet. Negativ kann vor allem die Beschädigung der allgemeinen Umgangsformen in der öffentlichen Debatte zu Buche schlagen.[1] Wer überall nur moralisch minderwertige Feinde sieht, verliert aus dem Blick, dass es nicht nur ein Recht auf politischen Irrtum (Eugen Kogon), sondern angesichts sehr unterschiedlicher Erfahrungshintergründe durchaus auch Positionen geben kann, die den eigenen zwar widersprechen, aber durchaus redlich und begründet sind. Selbst orthodoxe Leninisten haben ihren Gegnern mitunter zugestanden, dass sie subjektiv ehrliche, wenn auch objektiv konterrevolutionäre Positionen vertreten würden.

Kampf gegen Antisemitismus versus Kampf für den Frieden

Die Debatte über den Krieg im Gaza-Streifen gewinnt vor allem deswegen einen unversöhnlichen Charakter, weil die Verurteilung des Antisemitismus, die nach dem Holocaust in Deutschland zur Staatsraison geworden ist, wesentlich kategorischer ausfällt als in anderen Ländern.[2] Das Erschrecken darüber, dass Menschen, die als Juden identifiziert werden, offen angepöbelt und angegriffen werden, und in deutschen Innenstädten "Juden ins Gas" skandiert wird, ist aus diesem Grund größer als anderswo und relativiert sich auch nur wenig an dem Umstand, dass der Kern der antisemitischen Proteste von jungen Leuten mit Wurzeln in arabischen Ländern gebildet wird. Diese stehen der philosemitischen, im wesentlichen Israel-solidarischen Staatsräson fremd gegenüber, da sie zwar Teil der deutschen Gesellschaft, nicht aber Teil der Tradition der NS-Täter und -Mitläufer sind. Nicht Auschwitz, sondern die Kolonisierung der arabischen Welt, die mit dem westlichen Vorposten Israel ihre Fortsetzung zu finden scheint, ist für Jugendliche mit arabischem Hintergrund ein wesentlicher Bezugspunkt. Die Moral der Eliten der westlichen Klassengesellschaften ist aus ihrer Sicht in toto verlogen, weil sie die Universalität der Menschenrechte propagieren, diese für die Migranten hier und mehr noch für die Menschen in Gaza aber in der Praxis negieren. Aus diesem Grund bieten die militärischen Gruppen in Gaza ein Identifikationsangebot. Die Affekte der Empörung sind vor diesem Hintergrund zu verstehen, aber in ihrer Unmittelbarkeit unverstandene Vereinseitigungen, die sozialpsychologisch dem Bedürfnis folgen, die Komplexität des Nahost-Konflikts sich in schlichten Freund-Feind Schemata zu vereinfachen und dabei auf antisemitische und rassistische Tickets zurückzugreifen.[3] Angesichts dieser äußerst provokativen Proteste besteht die mehr als berechtigte Befürchtung darin, dass der untergründige, in Studien immer wieder konstatierte Antisemitismus breiter Teile der Bevölkerung – nicht nur der von Migranten - wieder salonfähig gemacht wird. Insbesondere Vertreter_innen jüdischer Gemeinden sind stetig anonymen Schmähungen und Drohungen ausgesetzt, die vermutlich aus ganz verschiedenen Milieus stammen. Und selbst hinter einem demonstrativ betonten Philosemitismus können sich antisemitische Stereotypen verbergen, wie etwa die Behauptung von CDU-Spitzenpolitikern gezeigt hat, die im Zuge der Parteispenden-Affäre behaupteten, die anonymen Spenden an die Partei stammten von reichen Juden aus der Schweiz. Auch der demonstrative, affektive Schulterschluss mit der israelischen Rechtsregierung kann in unverhohlenen Antisemitismus umkippen, wenn etwa Kritiker aus den Reihen der israelischen Linken wie Moshe Zuckermann als "linke Vorzeigejuden" geschmäht und Auschwitz-Überlebende als Antisemiten tituliert werden.[4]

Aber auch dafür, dass Kritik an der israelischen Außenpolitik immer wieder als antisemitisch klassifiziert wird, gibt es Gründe: Niemand kann ernsthaft bestreiten, dass sich antisemitische Stereotypen gerne im Windschatten oder unter der Maskerade einer Kritik an der israelischen Außenpolitik Bahn brechen. Wo die Kritik an politischen Akteuren in Israel in den Antisemitismus übergeht, ist in den Niederungen der politischen Auseinandersetzung nicht immer trennscharf zu bestimmen;[5] es liegt daher in der Natur der Sache, dass Überspitzungen auch die Falschen treffen können. So müssen sich Teile der Jugendorganisation der Linkspartei, die zu Demonstrationen gegen den Krieg im Gaza-Streifen aufgerufen haben und denen – etwa in Essen – diese Manifestationen unter der Dynamik der Mobilisierung entglitten sind, berechtigter Weise den Vorwurf gefallen lassen, durch unpräzise Formulierungen antisemitischen Kräften Vorschub geleistet zu haben, und brauchen sich zudem nicht darüber wundern, dass sie sich selbst dem Verdacht des Antisemitismus aussetzen.

Tabuisierung des Antisemitismus

Das ist allerdings nur die eine Seite des Problems. Mit der Tabuisierung des Antisemitismus geht eine Ideologisierung einher, die nicht nur einer sachbezogenen Diskussion des Nahost-Konfliktes den Boden zu entziehen, sondern Gesellschaftskritik als solche in den Bereich des Illegitimen zu rücken droht. Zwar wird unisono zugestanden, dass eine Kritik an der israelischen Regierung durchaus statthaft sei, der Protest gegen das Vorgehen des israelischen Militärs im Gaza-Streifen also nichts ehrenrühriges beinhalte. Faktisch setzen sich jedoch Kritiker_innen der israelischen Politik fast immer dem Vorwurf aus, selbst Antisemiten zu sein und das Mittel der Israel-Kritik bewußt oder unbewußt nur als Vehikel für antisemitische Ressentiments zu gebrauchen. Das geht bis dahin, die Ablehnung einer affirmativen Israel-Position selbst schon als einseitig und damit antisemitisch zu brandmarken. Mehr noch: Vor allem gegen Teile der antikapitalistischen Linken wird der Vorwurf vorgebracht, eine verkürzte Kapitalismuskritik und damit antisemitische Positionen zu vertreten. Insbesondere in der Linkspartei läßt sich in aller Regelmäßigkeit beobachten, wie der Antisemitismus-Vorwurf dabei zum innerparteilichen Machtkampf mißbraucht wird. Aber auch hier ist die Sache zweischneidig: Zweifelsohne gibt es insbesondere bei der orthodoxen Linken blinde Flecken, die ein Einfallstor für antisemitische Stereotypen bilden.[6] Und es wäre naiv zu glauben, in der Linken gäbe es keine Antisemiten.

Kampf um Land und Ressourcen

Andererseits liegt die Gefahr einer inflationären Verwendung des Antisemitismus-Vorwurfs in Auseinandersetzungen, die nur sehr vermittelt etwas mit der Sache selbst zu tun haben, auf der Hand: Er entwertet den Versuch einer präzisen Grenzziehung und führt den Versuch einer Ächtung ad absurdum. Zudem blockiert eine rigide Tabuisierung, die ihren eigenen Argumenten nicht mehr traut, die offene Auseinandersetzung, die der Aufklärung und Selbstaufklärung wesentlich dienlicher ist. Wenn die Empathie mit den Opfern der israelischen Intervention in Gaza schon pauschal als Antisemitismus klassifiziert wird, weil die Hamas die Zivilbevölkerung als menschliche Schutzschilde mißbrauche und folglich sie allein für die Toten von Gaza verantwortlich sei, verliert die Debatte an emanzipatorischem Gehalt. Diese Argumentation ist geeignet, jegliche zivilisatorischen Grenzen des Völkerrechts zu unterminieren. Im Übrigen wird es grotesk, wenn die Ursachen des Nahost-Konflikts dabei negiert und auf den Raketenbeschuss der Hamas reduziert werden: Selbst dem sozialrevolutionären, anarchistisch beeinflußten Flügel der zionistischen Bewegung war das mit der Besiedlung Palästinas verbundene Problem – die Konflikte mit der dort lebenden Bevölkerung – bewußt, es gab sogar Vorschläge, die jüdischen Zuwanderer sollten sich auf die Rolle als Bürger eines arabisches Staates beschränkten – eine Idee, die den Differenzen anerkennenden plurinationalen, in Lateinamerika praktizierten Konzepten nahekommt.[7] Wenn der Konflikt um Land und Ressourcen durch den Siedlungsbau in den besetzten Gebieten und die Blockade des Gaza-Streifens reproduziert und perpetuiert wird, ist das Kritik wert, weil eine Befriedung der Verhältnisse ohne eine Lösung dieser Problems unmöglich ist.

Ideologisierung des Philosemitismus

Wie weit die Ideologisierung des Verhältnisses zu Israel im bürgerlichen Lager vorangeschritten ist, hat Bundepräsident Gauck mit seiner Stellungnahme zu den Protesten zum Gaza-Krieg demonstriert: "Antisemitismus, auch wenn es neu ist, wenn er aus ausländischen Gesellschaften importiert wird, der wird genau so wenig geduldet wie ein alter autochthoner Antisemitismus, den es in einigen rechtsradikalen oder linksradikalen Milieus gibt. Wir nehmen alles ernst."[8] Diese antitotalitaristische Position, die die politische Mitte von antisemitischen Tendenzen freispricht, ist geradezu ein Paradebeispiel für eine Fehldeutung und Verharmlosung der Ursachen des Antisemitismus. Dieser ist nämlich nicht einfach ein Produkt "falscher" Ideen von Extremisten an den Rändern des politischen Spektrums, sondern das Bedürfnis nach ideologischen, vereinfachenden, rassistischen oder gar antisemitischer Welterklärungen resultiert aus den kapitalistischen Vergesellschaftungsverhältnissen, ist ein Produkt von Ängsten, die aus den Konkurrenz-, Ausgrenzungs- und Demütigungserfahrungen resultieren. Wer daher über den Kapitalismus nicht reden möchte, sollte zum Antisemitismus besser schweigen. Der Versuch, die bestehende Gesellschaftsstruktur zu legitimieren und gleichzeitig den Antisemitismus zu ächten, gleicht dem Versuch, der Hydra die Köpfe abzuschlagen, ohne auch ihren Körper zu spalten. Stattdessen kommt es darauf an, für eine egalitäre, klassenlose Gesellschaft selbstbewußter Menschen zu streiten, die rassistischer und antisemitischer Ideologien nicht bedürfen.

Anmerkungen

[1] Peter Nowack spricht in diesem Kontext von regressiver Israel-Kritik und regressivem Antizionismus. Ders., Kurze Geschichte der Antisemitismusdebatte in der deutschen Linken. Münster 2013.

[2] Vgl. Peter Ulrich, Deutsche, Linke und der Nahostkonflikt. Politik im Antisemitismus- und Erinnerungsdiskurs. Göttingen 2013. Marcus Hawel/Moritz Blanke (Hrsg.), Der Nahostkonfikt. Befindlichkeiten der deutschen Linken. Berlin 2010.

[3] Vgl. Detlev Claussen, Ventil der Gefühle, https://www.freitag.de/autoren/liebernichts/ventil-der-gefuehle

[4] Vgl. Utz Anhalt , Vorwort zu Moshe Zuckermann, Logik der Besatzung Mitternacht auf der Mavi Marmara: Anmerkungen zur Gaza-Flottille 2010. https://sopos.org/aufsaetze/4fe087355e8fc/1.phtml

[5] Vgl. Marcus Hawel, Zum 60. Jahrestag der Gründung des Staates Israel. Versuch, uns und anderen Israel von "außen" zu erklären. https://sopos.org/aufsaetze/4821de0ba7cb1/1.phtml

[6] Vgl. Timo Stein, Zwischen Antisemitismus und Israelkritik. Antisemitismus in der deutschen Linken. Wiesbanden 2011.

[7] Der aus Wien stammende Historiker Walter Grab beschreibt diese Debatten eindrucksvoll aus der Sicht eines Beteiligten: Meine vier Leben. Köln 1999.

[8] Spiegel online: http://www.spiegel.de/politik/deutschland/antisemitismus-bundespraesident-gauck-fordert-zivilcourage-a-982566.html

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https://sopos.org/aufsaetze/53eb8d65d6569/1.phtml

sopos 8/2014