von Hannes Denck
Lou Marin (Hrsg.), Albert Camus, Libertäre Schriften (1948-1960), LAIKA Verlag Hamburg 2013, 380 Seiten, 24,90 €
Zum 100. Geburtstag ist eine Reihe von Biographien erschienen, die neue Seiten von Albert Camus und mehr noch neue Interpretationen über sein Leben und Werk aufzeigen. Noch immer wird Albert Camus hierzulande entweder ignoriert oder aber als ein etwas blauäugiges linksliberales Leichtgewicht karikiert. Daran ändert auch die Biographie Michel Onfrays' nur bedingt etwas: er stellt zwar die hierzulande weitgehend unbekannten politischen Aktivitäten mit und für die libertären Sozialisten und Syndikalisten dar, kassiert aber dessen nach wie vor bestehende Subversivität durch gewagte Interpretationen.[1]
Es ist daher sehr zu begrüßen, wenn die Verbundenheit Camus' mit der französischen und spanischen libertären Bewegung und seine Mitarbeit an ihren Aktivitäten durch Aufsätze, Reden und andere Manuskripte dem deutschen Publikum deutlich wird. Dabei ist aber nur die Hälfte der Texte von Camus, einige unter seiner Mitwirkung entstanden. Die andere Hälfte der Texte von anderen Autoren trägt dazu bei, den Kontext seiner Äußerungen besser zu verstehen. Daher hätte eine wörtliche Übersetzung des französischen Buchtitels "Camus et les libertaires" besser gepasst.
Sicher, wir erfahren viel über die französische syndikalistische und anarchistische Bewegung der 1950er Jahren, wir erfahren viel über die enge Verbundenheit Camus' mit dieser Schule des europäischen Sozialismus und seine persönlichen Beziehungen mit ihren Aktivisten. Aber so sachkundig und informativ die Einleitungen von Marin zu den einzelnen Abschnitten des Bandes auch sind, sie lenken doch eher von der im deutschsprachigen Raum nahezu unbekannt gebliebenen Tatsache ab, dass sich Camus als libertärer Sozialist verstand und auch so agierte. Auf diese Tatsache haben bereits vor einigen Jahren zwei Publikationen aus dem kleinen Verlag Graswurzelrevolution aufmerksam gemacht: Lou Marins "Ursprung der Revolte – Albert Camus und der Anarchismus", auf deren angekündigte, 2. überarbeitete Auflage man gespannt sein kann, und die von Brigitte Sändig 2009 herausgegebene Dokumentation einer Tagung der Evangelischen Akademie Berlin aus dem Jahre 1991.
Camus' Vorstellung von einer freien Gesellschaft basieren politisch auf der vollständigen Durchsetzung der Menschenrechte und ökonomisch auf ihrer Organisation durch Gemeinde und Gewerkschaft. So nimmt es kein Wunder, wenn er der damals nicht nur in Frankreich weit verbreiteten intellektuellen Kumpanei mit dem stalinistischen Ostblock ebenso entgegentritt wie dem Verrat der westlichen Staaten an der weltweiten Geltung demokratischer Freiheiten, wenn deren Vergewaltigung nun im Namen des Antikommunismus und der Blockdiszplin geschieht. So gehört er nicht nur zu den publizistisch wirksamsten und vehementen Verteidigern der Sache der vom Westen verratenen und von den Stalinisten von innen zersetzten Spanischen Republik. Er verweigert auch konsequent eine Mitarbeit in der UNESCO, als diese das frankistische Spanien aufnimmt. Andererseits lässt er keinen Zweifel daran, dass es für ihn kein kontemplatives Verhältnis zu den demokratischen Freiheiten gibt: sie sind für ihn als Resultat der Volksbewegungen jederzeit zu verteidigen.
Camus fühlte sich in den Kreisen der Anarchisten und Syndikalisten wohl und gut aufgehoben, dies dokumentiert der Band durch die Wiedergabe von Begegnungen mit syndikalistisch organisierten Druckern und Aktivisten. Aber er war durchaus kein Anarchist. Das lässt sich gut belegen mit dem grundlegenden politischen Credo "Weder Opfer noch Henker", das er 1946 in der aus der Résistance stammenden Zeitung "Combat" abgab.[2] Hier entwickelt er gegen die sich abzeichnende Blockkonfrontation die Vorstellung einer internationalen Demokratie: "Es ist eine Gesellschaftsform, in der das Gesetz über den Herrschenden steht, da dieses Gesetz den Willen aller ausdrückt, der durch ein gesetzgebendes Organ vertreten wird."[3] Diese Weltgemeinschaft sollte die international wichtigen Produktionsmittel – schon damals Öl, Kohle und Uran – kollektivieren und über ihre Verwendung entscheiden. Wie weitschauend er dachte, kann an seinen Überlegungen zur Unmöglichkeit einer nationalstaatlichen Lösung der Friedens- und Entwicklungsproblematik abgelesen werden. Die Grundtatsache einer sich neu abzeichnenden Globalisierung finden sich schon hier. Seine Antwort besteht in der Errichtung transnationaler Lösungen. Auf den Vorwurf der Utopie antwortete Camus: "Es geht um die Utopie oder um den Krieg, wie ihn die veralteten Denkschemata für uns vorbereiten."[4] Auf dieser Basis ging es für ihn um einen neuen Gesellschaftsvertrag, deren erster Artikel die Abschaffung der Todesstrafe sein sollte und der eine Klarstellung der für jede Zivilisation des Dialogs notwendigen Grundsätze zu enthalten hatte. Ziel war für ihn dabei nicht, eine neue Ideologie zu schaffen, sondern "nach einem Lebensstil zu suchen." Aus allen Zeilen spricht Camus' Ablehnung von politischem Determinismus und autoritären Denksystem, zu denen er 1946 Kapitalismus und Marxismus zählte und zu denen er heute mit Sicherheit den im Kern totalitären Neoliberalismus zugesellen würde. Diese Überzeugung führte Camus in die politische Praxis einer Solidarität mit den spanischen Republikanern und Revolutionären von 1936 wie auch mit den Trägern der ungarischen Revolution von 1956.
Marin arbeitet in seiner Einleitung heraus, wie sich Camus' Haltung zur Gewalt – auch und gerade vor diesem Hintergrund – entwickelte, wie aus seinem philosophischen und politischen Denken Initiativen gegen gewaltsame Auseinandersetzungen hervorgingen. Der Grund dafür wurde schon in der Resistance gelegt, als Camus sich weigerte, den Kampf gegen die nazistische Besatzung mit nationalistischen Parolen zu führen. Während in Frankreich noch wütende Hetztiraden gegen die "Boches" geritten wurden, schreibt Camus: "Der Widerstandskämpfer … hat es Deutschland verübelt, durch Verbrechen auf seine Träume vom Frieden geantwortet zu haben. Und er wollte gleichzeitig, dass Deutschland die Erinnerung an diese Träume zugute kommt."
Diese wachsende Ablehnung von Gewalt und Terror im Namen der Befreiung und Freiheit – eines der wesentlichen Motive in "Der Mensch in der Revolte" – mündeten praktisch in Camus Unterstützung der Einführung eines Rechts auf Kriegsdienstverweigerung in Frankreich, die schließlich erfolgreich war – hier findet man seinen Namen in einer Reihe mit anarchistischen und religiösen Kriegsdienstgegnern. Darüber hinaus ergibt sich aus seiner Skepsis, ja Ablehnung gegenüber gewaltsamen Lösungen und Nationalismen jeder Art auch seine Ablehnung befreiungsnationalistischer Konzeptionen wie der algerischen Front de Liberation Nationale. Deren umgekehrter Rassismus führte zu Terroraktionen gegenüber französischstämmigen Zivilisten und zur physischen Vernichtung der Anhänger konkurrierender politischer Befreiungsbewegungen.
Diese Distanz ist ihm seinerzeit zum Vorwurf gemacht worden. Hier – wie auch im Übrigen – hätte es der politischen Linken gut getan, genauer hinzusehen und zu erkennen, dass nicht Jeder, der das Wort Befreiung im Titel führt, auch Freiheit meint. Uns wären beschämende Situationen wie die Leugnung des Gulag bis hin zu dem ohrenbetäubenden Schweigen zu den Massenmorden der Khmer Rouge, jeweils bis zum Beweis der unmenschlichen Realität dieser Ereignisse erspart geblieben. Auch insoweit hat Camus, nicht Sartre et. al. Recht behalten. Darauf hinzuweisen macht allein schon das Verdienst dieses Bandes aus.
[1] Vgl. hierzu die Kritik an Onfray in der gewaltfrei-libertären Zeitschrift "Graswurzelrevolution" November 2013 von Lou Marin
[2] Albert Camus, Weder Opfer noch Henker, deutsch in: Tintenfass – Das Magazin für den überforderten Intellektuellen Nr. 11, Zürich 1984, S. 83-115
[3] Vgl. hierzu die Kritik an Onfray in der gewaltfrei-libertären Zeitschrift "Graswurzelrevolution" November 2013 von Lou Marin
[4] Vgl. hierzu die Kritik an Onfray in der gewaltfrei-libertären Zeitschrift "Graswurzelrevolution" November 2013 von Lou Marin
https://sopos.org/aufsaetze/5304891c2d2ef/1.phtml
sopos 2/2014