Zur normalen Fassung

Aufstand der Würde

Die Gezi-Proteste als Symptom einer Legitimationskrise des kapitalistischen Systems

von Dilan Köse

"Boyun eğme" ("Beuge dich nicht")
Slogan der Gezi-Bewegung


Was als Widerstand einiger Aktivisten gegen die Umwandlung eines Istanbuler Parks in ein Einkaufszentrum begann, wuchs binnen kurzer Zeit zu einer massiven Protestbewegung heran. Die Gezi-Proteste läuten eine neue politische Ära in der Türkei ein.

Alles beginnt in Taksim

Am 27. Mai besetzte eine Gruppe von circa 70 Aktivisten den Gezi-Park im Istanbuler Stadtteil Taksim, um eine der letzten Grünflächen in der Gegend vor der Zerstörung zu bewahren. Einige Zeit zuvor hatte die türkische Regierung unter Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan - ohne mit der Bevölkerung in den Dialog zu treten - ein Städtebauprojekt beschlossen, welches unter anderem den Umbau des Gezi-Parks in ein weiteres Einkaufszentrum[1] miteinschloss. Von den Massenmedien weitgehend ignoriert, verbreitete sich die Nachricht vom Protest im Gezi-Park über soziale Medien wie ein Lauffeuer. Die Zahl der ProtestteilnehmerInnen stieg innerhalb weniger Tage auf schätzungsweise 10.000 Personen. Dies hinderte die vom Widerstand überraschte AKP-Regierung jedoch nicht daran, hart gegen die Protestierenden durchzugreifen. Frei nach dem Motto: Was die Bevölkerung will, interessiert uns nicht. Wir machen was wir wollen.[2] Am 31. Mai setzten Polizeitruppen die Zelte der ProtestteilnehmerInnen in Brand und begannen, den Park unter Einsatz von Tränengas und Wasserwerfern zu räumen. Zahlreiche Menschen wurden dabei schwer verletzt. In den darauf folgenden Tagen und Wochen kam es landesweit zu Massendemonstrationen und Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und Protestierenden. Tausende Menschen wurden dabei verletzt, fünf Menschen kamen in Zusammenhang mit Polizeigewalt ums Leben. In Solidarität mit den Gezi-Protesten demonstrierten Millionen Menschen sowohl in zahlreichen türkischen Städten als auch außerhalb der nationalen Grenzen. Entgegen dem Bild in den Massenmedien, es handele sich um eine Bewegung der säkularen Mittelschicht, schlossen sich zahlreiche ArbeiterInnen, Arbeitslose, linke und anarchistische Gruppen, Gewerkschaften, sowie religiöse, ethnische und sexuelle Minderheiten den Protesten an. Während die Massenmedien (auch hierzulande) versuchten, die Proteste auf einen "Kampf der Kulturen"[3] zwischen "weißen" und "schwarzen" Türken zu reduzieren[4], lassen Reichweite, Intensität, Kontinuität sowie die Zusammensetzung der Proteste und die Solidarität innerhalb der Bevölkerung darauf schließen, dass es sich bei den Gezi-Protesten um etwas handelt, was sowohl über den nicht unbedeutenden ursprünglichen Auslöser - die Zerstörung eines öffentlichen Parks - als auch über einen rein kulturell-religiösen Konflikt zwischen Kemalisten und Islamisten hinausreicht. Vielmehr sind die Gezi-Proteste das jüngere Symptom einer globalen Legitimationskrise des neoliberalen kapitalistischen Systems, welches einer Fülle an sozialen und politischen Erwartungen und Bedürfnissen breiter Bevölkerungsteile weltweit immer weniger nachkommt.

Privatisierung, Repression und Exklusion – Von Demokratisierung keine Spur

Aufgrund der Finanzkrise 2001 sah sich die Türkei gezwungen, auf Rettungspakete des IWF zurückzugreifen, welcher im Gegenzug die Erfüllung bestimmter wirtschaftlicher und politischer Auflagen erforderte, u.a. die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes, die Privatisierung öffentlicher Bereiche, die Eindämmung von Gewerkschafts- und ArbeiterInnenrechten sowie die Kürzung von Sozialausgaben.[5] Mit der drastischen Verschärfung des seit den 1980er Jahren verfolgten neoliberalen Kurses erlebte die Türkei mit der im Anschluss an die Finanzkrise regierenden Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) unter Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan ein (am BIP gemessenes) rapides Wirtschaftswachstum.[6] Die Privatisierung vieler öffentlicher Bereiche, von staatlichen Betrieben bis hin zu Autobahnen, Brücken und Grünflächen und die Einschränkung von ArbeiternehmerInnenrechten hatte jedoch auch zufolge, dass breite Teile der Bevölkerung immer unzufriedener mit dem politischen System wurden.

Trotz zahlreicher Proteste in den letzten 10 Jahren, u.a. der unbefristete Streik von ArbeiterInnen der Tabakfabrik Tekel in 2010[7] und die Anti-IWF-Demonstrationen 2009[8], gelang es der AKP jedoch ihre marktfreundliche Politik zu legitimieren, indem sie zum einen Proteste – unter anderem durch Schwächung der Gewerkschaften[9] – erfolgreich marginalisierte und zum anderen auf eine konservativ-islamische Kulturagenda zugriff, mittels derer sie sich Rückhalt bei den aus überwiegend ländlichen Regionen stammenden Religiös-Konservativen der unteren Mittel- und Unterschicht verschaffte. Diese aus dem politischen Geschehen jahrelang ausgeschlossene "stille Mehrheit"[10] profitierte unter Erdoğan von verschiedenen sozialen und politischen Leistungen. Darüber hinaus hat Erdoğan viele AnhängerInnen unter den UnternehmerInnen, die von der Privatisierung und Entflechtung von Militär und Ökonomie profitiert haben.[11] Während breite Bevölkerungsschichten am enormen Wirtschaftswachstum der letzten Jahre unbeteiligt blieben, entstand im Zuge der islamisch geprägten Neoliberalisierung eine neue religiös-konservative Mittelschicht, die bis heute mehrheitlich hinter Erdoğan und seiner "Politik des Aufschwungs" steht. Diejenigen Teile der Gesellschaft, deren Bedürfnisse weder mit der konservativen Werteorientierung noch mit dem neoliberalem "Modernisierungsprogramm" der AKP vereinbar sind, wurden in den letzten Jahren immer weiter an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Während ärmere Bevölkerungsschichten im Zuge der Gentrifizierung ganzer Stadtteile ihrer Lebensräume beraubt werden und immer mehr Menschen von Prekarisierung und Armut betroffen sind, haben immer breitere Teile der Gesellschaft mit einem verschärften Repressionskurs zu kämpfen.[12] So werden gegen Mitglieder linker Parteien sowie systemkritische JournalistInnen und StudentInnen unter dem Vorwurf der Mitgliedschaft in einer Terrororganisation regelmäßig Prozesse geführt und langjährige Haftstrafen verhängt - selbst wenn sie bloß an einer Demonstration teilgenommen haben. Die diesjährige 1. Mai-Demonstration auf dem historischen Taksim-Platz[13] wurde abermals verboten und durch Einsatz von Polizeigewalt verhindert. Zudem hat Erdoğan mit Restriktionen im Bereich des Alkoholkonsums, der Einschränkung des Abtreibungsrechts sowie weiteren regressiven Maßnahmen zunehmend auch den Zorn derjenigen auf sich gezogen, die in seinem Politik-Kurs die Gefahr einer Islamisierung der Türkei wittern. Jüngst wurden diese Ängste durch die Entscheidung der Regierung geschürt, die geplante dritte Bosporus-Brücke nach einem osmanischen Sultan zu benennen, der verantwortlich für den Massenmord an der religiösen Minderheit der AlevitInnen ist. Eben vor diesem Hintergrund ist die hohe Beteiligung an den Gezi-Protesten zu verstehen. Die Zerstörung des Gezi-Parks und die anschließende brutale Vorgehensweise der Polizei gegenüber den Aktivisten fungierten als Katalysator für viele soziale und politische Unzufriedenheiten, die schon lange vor den Gezi-Protesten existierten. Neben der Zerstörung und Privatisierung öffentlichen Raums, der zunehmenden Ausbreitung prekärer Lebenslagen, der verschärften Repression gegen breite Bevölkerungsschichten und der drastischen Eingrenzung demokratischer Rechte, sehen sich immer mehr BürgerInnen mit einer Politik konfrontiert, die ihnen vorschreibt, wo und wie sie zu leben haben, ohne darüber mitentscheiden zu dürfen - ein Autoritarismus, der ihnen über das "Recht auf die Stadt"[14] hinaus das Recht auf ein Leben in Würde und Selbstbestimmung verwehrt.

VerteidigerInnen von Erdoğans "Reformpolitik" versuchen derzeit Erklärungen für seinen plötzlichen "Schwenk zum Autoritarismus" zu finden. Schließlich habe Erdoğan in seinen ersten beiden Legislaturperioden "eine Demokratisierung der Türkei in über Jahrzehnte nicht denkbarem Umfang betrieben"[15]. Aufgrund persönlicher Schicksalsschläge und falscher Selbstwahrnehmung sei er in seiner dritten Amtszeit jedoch zu machtgierig geworden.[16]

Diese Erklärung ist ziemlich dürftig und lässt globale kapitalistische Transformationsprozesse unberücksichtigt, vor deren Hintergrund Erdoğans autoritäre Politik zu verstehen ist. Zudem haben die Autoren ein äußerst minimalistisches Verständnis von Wirtschaftswachstum und Demokratie. Während wirtschaftlicher Wohlstand auf einen Anstieg des BIPs reduziert wird, ist unter Demokratie die bloße Teilnahme an Parlamentswahlen, das Mehrheitsprinzip und die Beschneidung des Militäreinflusses zu verstehen.[17] Wachsende soziale Ungleichheiten und prekäre Arbeitsbedingungen werden dabei ebenso ausgeblendet wie die Verletzung von Menschenrechten und politische Repression.

Gezi – ein bunter Mix aus allem

Die Gezi-Bewegung aufgrund der hohen Anzahl junger, gut ausgebildeter AnhängerInnen aus der Mittelschicht als eine reine Bewegung des Bürgertums zu interpretieren, lässt schnell ihren Klassencharakter übersehen.

Eine Umfrage, die circa eine Woche nach Beginn der Proteste vom türkischen Forschungsinstitut KONDA[18] unter 4441 Gezi-Protestierenden durchgeführt wurde, ist relativ repräsentativ für das Gesamtprofil der Bewegung. Demnach sind knapp über die Hälfte der ProtestteilnehmerInnen abhängig Beschäftigte, circa 40 % sind Studierende, 6 % Arbeitslose, 3 % Pensionierte und 2 % Hausfrauen. Das Durchschnittsalter der Befragten beträgt 28 Jahre. 49,2 % der ProtestteilnehmerInnen sind männlich, 50,8 % weiblich. Knapp 10 % der Befragten haben keinen Schulabschluss, 35 % haben die Mittelschule abgeschlossen, 43 % haben Abitur und 13 % besitzen einen Hochschulabschluss. 33 % der Befragten haben einen Vater mit Hochschulabschluss. Die Umfrageergebnisse deuten auf einen relativ hohen AkademikerInnenanteil innerhalb der Bewegung. Dennoch besteht Gezi zu einem Großteil auch aus TeilnehmerInnen mit niedrigerem Bildungsgrad. Die Gruppe der abhängig Beschäftigten scheint sich folglich sowohl aus niedrigqualifizierten als auch hochqualifizierten Abhängigen zusammenzusetzen.

Was den politischen Hintergrund der Befragten betrifft, so sind knapp 80 % der TeilnehmerInnen laut Umfrage kein Mitglied einer politischen Partei oder politischen Organisation, 44,4 % haben sogar noch nie an Protesten teilgenommen. Auch die Motive, sich an den Protesten zu beteiligen, variieren, enthalten jedoch alle antisystemische Komponenten. So gaben knapp 60 % der Befragten als Grund für ihre Partizipation die Einschränkung ihrer persönlichen Freiheit an, 37 % sind "gegen die AKP-Politik", ein Drittel der Befragten mag "die Art, wie Erdoğan Politik macht" nicht, ein Fünftel ist gegen die "Abholzung der Bäume" und "gegen die Staatsordnung".

Tatsächlich setzte sich die Gezi-Bewegung sehr bunt zusammen. Neben zahlreichen Protest-Neulingen, deren Profil nicht zwingend dem eines politisierten Individuums entspricht, partizipierten in hohem Maße auch linke Gruppierungen und die anarchistische Bewegung in den Protesten. Beide Gruppierungen erleichterten aufgrund ihrer langjährigen Aktionserfahrungen die Mobilisierung der Proteste. Neben diesen eher traditionellen ProtestakteurInnen beteiligten sich zudem bislang verfeindete Fans verschiedener Fußballclubs vereint an den Protesten. Ihre Kritik richtete sich insbesondere gegen Polizeigewalt, mit der sie selbst oft konfrontiert werden.[19] Als ein weiterer, häufig von Polizeigewalt betroffener und eher untypischer Bewegungsakteur trat der Block der Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgender (LGBT) den Protesten bei. Die Gruppe der Transsexuellen versorgte bereits zu Beginn der Ereignisse Protestierende mit Medizin und Lebensmitteln und gewährten ihnen Zuflucht in ihren Wohnungen.

Besonders herausragend und repräsentativ für den antisystemischen Charakter der Bewegung war die Beteiligung der sogenannten antikapitalistischen Muslime an den Protesten. Trotz Zugehörigkeit zur religiösen Mehrheit der Sunniten kritisieren diese die AKP-Regierung für ihren Missbrauch von Religion, "um Kapitalismus zu legitimieren".[20] Auch die kurdische Bewegung und AnhängerInnen der Republikanischen Volkspartei CHP beteiligten sich an den Gezi-Protesten. Letztere kritisierten im Gegensatz zu anderen Teilen der Bewegung jedoch weniger das gesamte politische System sondern explizit die AKP-Regierung, deren Rücktritt sie seit Langem fordern. Selbst AnhängerInnen der rechtsradikalen Partei MHP schlossen sich zu Beginn den Protesten an. Jedoch zogen sie sich auf Anordnung des Parteiführers nach wenigen Tagen vom Geschehen zurück.

Es ist nicht zu übersehen, dass die Gezi-Bewegung viele Merkmale mit anderen Protestbewegungen der letzten Jahre teilt. Ihre sozialstrukturelle Zusammensetzung ist äußerst heterogen. Zudem finden sich in der Bewegung verschiedene Politisierungsgrade und Ideale wieder. Trotz dieser Vielfalt weist sich die Bewegung durch die Solidarität unter ihren AnhängerInnen, deren Gemeinsamkeit in ihrer anti-systemischen konfrontativen Haltung begründet ist, als kollektive Identität aus. Ein allgemeines Gefühl der Unzufriedenheit vereint verschiedene spezifische Forderungen. Der Kampf um Freiraum und die Hinterfragung eines zunehmend autoritär gewordenen politischen Systems stehen dabei im Vordergrund.

In ihren Aktionsformen erinnert die Gezi-Bewegung sehr an die globale Occupy-Bewegung: Besetzung und Aneignung des öffentlichen Raums, friedliche und kreative Protestformen (u.a. der "stehende Mann"), Nutzung alternativer Medien als Instrument der Gegeninformation.

Zudem ist Gezi eine Bewegung ohne Repräsentanten und ohne einheitliche Forderungen. Sie ist horizontal organisiert und verzichtet weitgehend auf die Unterstützung von Gewerkschaften und Parteien. Dafür weist sie einen hohen Selbstorganisierungsgrad auf.[21]

Taksim ist überall – das System bekommt weltweit tiefere Risse

In den letzten zwei Monaten versuchten die Massenmedien die Gezi-Bewegung zum einen als lokalen Protest gegen die Abholzung einiger Bäume und zum anderen als nationales Aufbegehren gegen einen türkeispezifischen wachsenden Autoritarismus und islamischen Fundamentalismus zu präsentieren. Angesichts der weltweiten Formierung von Protestbewegungen ist es jedoch angebracht, die Gezi-Ereignisse vor dem Hintergrund globaler Transformationsprozesse zu interpretieren. Wie andere jüngere Protestbewegungen in Europa, Nordafrika und den USA, ist die türkische Bewegung im Rahmen kapitalistischer Globalisierung entstanden. Diese ist gekennzeichnet durch eine Ausweitung des Marktes, die Begrenzung von öffentlichem Raum, die Abschaffung öffentlicher Leistungen und die Zunahme autoritärer Politikformen. Trotz länderspezifischer Unterschiede haben all diese Protestbewegungen daher eines gemein: Sie alle stellen Reaktionen gegen verschiedene Facetten des kapitalistischen Systems dar.[22] In diesem Zusammenhang überrascht es auch nicht, dass im Juni Protestierende in Griechenland bei ihrem Kampf gegen die totalitäre Vorgehensweise bei der Schließung des öffentlichen Senders ERT und die Entlassung von 2.500 Beschäftigten Slogans wie "Ertaksim" und "Samardogan" verwendeten, um solidarisch Bezug zur Gezi-Bewegung herzustellen.[23]

Wie geht es weiter mit Gezi? – Fragend und experimentierend schreiten sie voran...

Nach wochenlangen Demonstrationen, Besetzungen öffentlicher Räume und Auseinandersetzungen zwischen Protestierenden und der Polizei begann die Bewegung erste physische und geistige Ermüdungserscheinungen aufzuweisen. Vielen war unklar, wie es programmatisch und organisatorisch weitergehen soll. Zur Demobilisierung der Proteste trug insbesondere die immense Polizeigewalt bei. Fünf Menschen kamen bei den Protesten ums Leben, Tausende wurden schwer verletzt und ebenso viele verhaftet.

Trotzdem fand die Gezi-Bewegung damit nicht ihr Ende. Ein großer Teil der Bewegung ist weiterhin politisch aktiv. Gezi-Protestierende organisieren gegenwärtig Solidaritätsaktionen für inhaftierte ProtestteilehmerInnen, Gedenkmärsche in Erinnerung an ermordete ProtestteilehmerInnen und jüngst Demonstrationen gegen den von der USA geplanten Krieg gegen Syrien.[24] Generell fanden seit Gezi zahlreiche Proteste statt, u.a. ein Streik der Konföderation der Revolutionären ArbeiterInnengewerkschaften der Türkei (DISK).[25] Zudem protestieren StudentInnen der technischen Universität ODTÜ in Ankara gemeinsam mit BewohnerInnen der Umgebung seit zwei Wochen gegen den geplanten Bau einer Straße, die mitten durch den Campus und den zugehörigen Wald führen soll.[26]

Neben der Solidarität untereinander haben viele Menschen gelernt, was es heißt, an Protesten teilzunehmen. Viele atmeten erstmals in ihrem Leben Tränengas ein, standen Wasserwerfern gegenüber, lieferten sich Straßenschlachten mit der Polizei und bauten Barrikaden.

Zudem ist die Bewegung in eine neue Phase demokratischer Selbstorganisierung übergegangen. Ähnlich wie die globale Occupy-Bewegung begann Gezi bereits in der ersten Woche der Proteste, eine autonome Infrastruktur aufzubauen. In den von der Bewegung besetzten öffentlichen Parks wurden Zelte mit medizinischer Versorgung und Bibliotheken errichtet. Gezi kreierte zudem ihren eigenen Radiosender und ihre eigene Zeitung.

Inzwischen sind in zahlreichen Istanbuler Nachbarschaften sogenannte öffentliche Foren entstanden. Sie sind horizontal organisiert und dienen den Gezi-Protestierenden und anderen TeilnehmerInnen als Versuch, ihre eigene Form von Demokratie zu gestalten.

Neben der Suche nach alternativen Partizipationsformen wird in den Foren vor allem über die Wiederbelebung des öffentlichen Lebens diskutiert. Neben Ärzten, Anwälten und Journalisten kommen u.a. sexuelle und ethnische Minderheiten zu Wort.[27] Die Versammlungen bieten ihnen die Gelegenheit, auf ihre marginalisierte Stellung in der Gesellschaft aufmerksam zu machen. Während Transsexuelle von ihrer unfreiwilligen Prostitution erzählen, sprechen BürgerInnen erstmals in der türkischen Öffentlichkeit von "Kurdistan", ohne dafür ausgebuht zu werden.[28]

Ähnlich wie ihre VorgängerInnen in Griechenland, Spanien, den USA und Ägypten folgt Gezi bei ihren Demokratieversuchen keinem vorgefertigten Ideologierahmen, sondern orientiert sich vielmehr an der politisch-philosophischen Praxis der Zapatisten, "Preguntando caminamos" ("Fragend gehen wir voran").[29] Sollte es der Bewegung gelingen, ihre demokratischen Selbstorganisierungsprozesse zukünftig über die Nachbarschaften hinaus in die Betriebe zu transferieren, so könnte sie möglicherweise den Anstoß zu einem sozialen Wandel im Land geben. Ein Schritt in diese Richtung ist vielleicht bereits getan: Aufgrund mehrere Monate lang ausbleibender Lohnzahlungen traten ArbeiterInnen der Textilfabrik Kazova in Istanbul im April 2013 in den unbefristeten Streik und besetzten anschließend den Betrieb. Inzwischen haben sie mit der Produktion unter ArbeiterInnenkontrolle begonnen.[30]

Derweil setzt sich der autoritäre Kurs der türkischen Regierung fort. U.a. drohen acht inhaftierten Gezi-ProtestlerInnen in Izmir gegenwärtig Haftstrafen bis zu 17 Jahren wegen angeblicher Mitgliedschaft in einer Terrororganisation.[31] Jedoch haben die Gezi-Ereignisse auch zu einer Destabilisierung der Regierung beigetragen. Umfragen zufolge ist die AKP-Wählerschaft bereits um zehn Prozentpunkte geschrumpft.[32] Die Stabilität der Regierung ist angesichts anhaltender Proteste weiterhin gefährdet. Bei einer Antikriegsdemonstration in der Stadt Antakya kam vor einigen Tagen ein 22-jähriger Demonstrant - vermutlich durch eine Tränengas-Kartusche - ums Leben. Der Tod von Ahmet Atakan löste eine neue Protestwelle im Land aus.[33] Wohlmöglich steht der AKP eine parteiinterne Krise bevor, die in der Zukunft zur Spaltung der Partei führen könnte. Möglich wäre auch, dass die Türkei einem Bürgerkrieg entgegensteuert. Die politischen Aussichten sind ungewiss.

Eines steht jedoch fest: Die Türkei ist nicht mehr das Land, das es einmal war. Gezi hat vielen Menschen in der Türkei einen Eindruck davon verschafft, wie Politik jenseits kapitalistischer Logiken funktionieren könnte. Viele haben daran Gefallen gefunden. Der in Taksim geborene Widerstand wird daher nicht leicht zu brechen sein.

Anmerkungen

[1] In der Türkei gibt es mittlerweile 347 Einkaufszentren, davon 94 allein in Istanbul. Dagegen existieren landesweit nur 295 Museen. Vgl. Özdemir, Cüneyt 2013: AVM sayisi müze sayisini gecince! (Wenn die Zahl der Einkaufszentren die Zahl der Museen übersteigt!). In: Radikal, 7. Mai.

[2] Kurz nach Beginn der Proteste gab Ministerpräsident Erdoğan in einer Rede bekannt, dass er nicht die Erlaubnis einiger "Capulcu" ("Plünderer") benötige, um das Bauprojekt durchzuführen und dass dieses in jedem Fall umgesetzt werde. Vgl. Radikal 2013: Basbakan Erdoğan: "Topcu Kislaşı´ni yapıyoruz" (Ministerpräsident Erdoğan: "Wir bauen die Kasernen"), 6. Juni.

[3] Der Begriff "Kampf der Kulturen" geht auf den Politikwissenschaftler Samuel P. Huntington zurück. Ihm zufolge stellt ein Antagonismus zwischen westlichen und islamischen Kulturkreisen in der heutigen Zeit die größte Gefahr für die Stabilität internationaler Beziehungen dar. Vgl. Huntington, Samuel P. (1998): Clash of Civilizations and the Remaking of World Order. New York: Simon&Schuster.

[4] Vgl. Steinvorth, Daniel/ Zand, Bernhard: Weiße Türken, schwarze Türken. In: Der Spiegel, Nr.26, S. 80-85.

[5] Roos, Jerome 2013: The Turkish protests and the genie of revolution. In: Roarmag.org, 3. Juni. URL: http://roarmag.org/2013/06/tahrir-taksim-egypt-turkey-protests-revolution/ (Stand: 20.08.2013).

[6] Tansel, Cemal Burak 2013: The Gezi Park Occupation: Confronting Authoritarian Neoliberalism. In: David Morton, 1. Juni. URL: http://adamdavidmorton.com/2013/06/the-gezi-park-occupation-confronting-authoritarian-neoliberalism/ (Stand: 20.08.2013).

[7] Vgl. zahlreiche Artikel zu "Privatisierung und Widerstand" unter http://labournet.de/internationales/tr/antipriv.html (Stand: 20.08.2013).

[8] Roos, Jerome 2013.

[9] Cakir, Murat 2013: Arbeiterklasse am Taksim. In: Junge Welt, 2. Juli.

[10] In seinen Reden bezeichnet Erdoğan seine AnhängerInnen als "stille Mehrheit".

[11] Aver, Caner/ Halm, Dirk 2013: Proteste gegen die Regierung in der Türkei - eine Zwischenbilanz. In: Stiftung Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung (ZfTI), 24. Juni. S.1-4.

[12] Seifert, Franz 2013: Auch eine Folge der neoliberalen Politik. In: Science ORF, 11. Juni. URL: http://science.orf.at/stories/1719331/ (Stand: 20.08.2013).

[13] Am 1.Mai 1977 wurden 36 DemonstrantInnen auf dem Taksim-Platz massakriert. Vermutungen zufolge waren Teile der damaligen Regierungskoalition und Geheimdienste an dem Massenmord beteiligt gewesen.

[14] "Das Recht auf die Stadt" ist ein Konzept, welches ursprünglich von dem französischen Soziologen Henri Lefébvre (1968) stammt. Im Groben meint es den Anspruch der BürgerInnen auf die Nutzung des öffentlichen Lebensraumes und das Recht, an städtischen Entwicklungsprozessen teilhaben zu können.

[15] Aver, Caner/ Halm, Dirk 2013: 2.

[16] Steinvorth, Daniel/ Zand, Bernhard 2013.

[17] Steinvorth, Daniel/Zand, Bernhard 2013: 84.

[18] Vgl. KONDA 2013: Gezi Parki Arastirmasi. URL: http://www.konda.com.tr/ (Stand: 20.08.2013).

[19] Der noch unfertige Dokumentarfilm "Istanbul United" behandelt die Rolle der Fußballfans in den Gezi-Protesten. URL: http://www.istanbulunitedthemovie.com/ (Stand: 20.08.2013).

[20] Yinanc, Baris 2013: Anti-Capitalist Muslim leader says Gezi youth want new approach to Islam. In: Hürriyet, 21. August.

[21] Saktanber, Binnaz 2013: The voices of Turkish protesters have been heard. In: Guardian, 2. Juni.

[22] Žižek, Slavoj 2013: Trouble in Paradise. In: London Review of Books, Vol. 35, Nr. 14.

[23] Kadritzke, Niels 2013: Griechenland exekutiert den staatlichen Rundfunk - Teil 1. In: Nachdenkseiten, 14. Juni. URL: http://www.nachdenkseiten.de/?p=17602 (Stand: 20.08.2013).

[24] Mumcu, Özgür 2013: Herkes ABD´ye kizgin (Alle sind wütend auf die USA). In: Radikal, 29. August.

[25] Bolulu, Utku 2013: Izmir'de 7500 işçi greve çikacak (In Izmir treten 7500 ArbeiterInnen in den Streik). In: Radikal, 25. Juli.

[26] Bianet 2013: ODTÜ Direniyor: Kahrolsun Bagzi Yollar (ODTÜ leistet Widerstand: Nieder mit den Straßen). In: Bianet, 26. August. URL: http://www.bianet.org/bianet/insan-haklari/149421-odtu-direniyor-kahrolsun-bagzi-yollar (Stand: 10.09.2013).

[27] Talay, Zeynep 2013: The ongoing Turkish protests have left us enlightened and emboldened. In: the Guardian, 20. Juli.

[28] Vgl. 07.07.2013 Yoğurtçu Parki Forumu 2. Bölüm (07.07.2013 Forum in Yoğurtçu Park 2. Teil). URL: http://www.youtube.com/watch?v=HSOW825Kjgg (Stand: 20.08.2013).

[29] Oikonomakis, Leonidas 2013: Don't miss the forest when it comes to Turkey’s trees. In: Common Ground News, 17. Juni. URL: http://www.commongroundnews.org/article.php?id=32992&lan=en&sid=2&sp=0&isNew=1&partner=rss&emc=rss (Stand: 22.08.2013).

[30] vgl. Weblog der Kazova ArbeiterInnen. URL: http://kazovaiscileri.blogspot.gr/ (Stand: 10.09.2013).

[31] Karatas, Bahri 2013: İzmir'de Gezi eylemcilerine 17 yıl hapis istendi (In Izmir wurden für Gezi-Protestierende 17 Jahre Haft gefordert). In: Radikal, 28. August.

[32] Milliyet 2013: AKP oylari yüzde 35´e gercekten düstü mü? (Sind die AKP-Stimmen wirklich auf 35 % gesunken?). In: Milliyet, 18. Juni. URL: http://blog.milliyet.com.tr/akp-oylari-yuzde-35-e-gercekten-dustu-mu-/Blog/?BlogNo=419390 (Stand: 20.08.2013).

[33] Radikal 2013: Ahmet Atakan icin eylemli gece (Eine Nacht voller Proteste für Ahmet Atakan). In: Radikal, 11. September.

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sopos 10/2013