von Gregor Kritidis (sopos)
In kaum einem westlichen Land haben in den letzten Jahrzehnten derart dramatische Transformationsprozesse stattgefunden wie in Griechenland. Hellas ist seit Anfang 2010 zu einem gesellschaftlichen Krisenlabor geworden, und zwar in doppelter Hinsicht. Zum einen hat die EU in Kooperation mit dem IWF mit den Kreditverträgen vom Mai 2010 der griechischen Gesellschaft eine Wirtschafts- und Sozialpolitik verordnet, die das Ziel der sogenannten "inneren Abwertung", das heisst die Senkung von Löhnen und Transfereinkommen verfolgt. In der Folge ist es zu einem dramatischen Verarmungsprozess der Unter- und Mittelschichten gekommen, aber auch zu einer weitgehenden Zersetzung der bisherigen gesellschaftlichen Beziehungen, sei es in politischer, sozialer oder kultureller Hinsicht. Zum anderen haben sich zahlreiche Varianten der individuellen wie kollektiven Krisenbewältigung herausgebildet, die einen Bruch mit traditionellen Orientierungen, Organisationsformen und Verhaltensweisen markieren.
Große Teile der griechischen Gesellschaft befinden sich in einem Zustand der Paralyse, die ihren deutlichsten Ausdruck in der sprunghaft gestiegen Selbstmordrate gefunden hat. Insbesondere in den städtischen Zentren sind zehntausende Menschen auf Suppenküchen und andere Formen der Unterstützung angewiesen, zumal die traditionellen Formen der gegenseitigen Hilfe innerhalb der Familie angesichts der hohen Arbeitslosigkeit sich als nicht mehr ausreichend erwiesen haben. Daneben hat es eine umfangreiche Flucht aufs Land gegeben, wo Formen der Subsistenzwirtschaft praktiziert werden. Zehntausende Griechen sind zudem nach Mitteleuropa, Nordamerika oder Australien ausgewandert.
Eine weitere Form der Krisenbewältigung besteht in der Hinwendung zu autoritären und faschistischen Organisationen. Diese schließen ideologisch an die rassistischen Kampagnen der bisherigen Volksparteien an, mit denen der soziale Unmut auf die schwächeren Teile der Bevölkerung gelenkt wird. Besonders für jüngere Männer bieten die rassistischen Aktivitäten der offen mit der der Diktatur der Junta und dem NS-Regime sympathisierenden "Goldenen Morgendämmerung" die Möglichkeit, Handlungsfähigkeit zu demonstrieren, die mit Auflösung ihrer sozialen Stellung in der Familie verloren gegangen ist. Mehr als alles andere ist der Neofaschismus ein Ausdruck der Krise patriarchaler Verhältnisse. Die Faschisten versuchen, sich als öffentlicher Ordnungsfaktor zu profilieren, und durch die Verteilung von Lebensmitteln oder Blutspende-Aktionen ("Nur für Griechen"), eine soziale Basis zu schaffen. Die Finanzierung der umfangreichen Aktivitäten der Goldenen Morgendämmerung liegt weitgehend im Dunkeln, es steht aber zu vermuten, das Teile der Unternehmerschaft und insbesondere kriminelle Wirtschaftsorganisationen die Faschisten unterstützen.
Eine starke Minderheit insbesondere der politischen Linken versucht, innenpolitisch die Machtfrage zu stellen und über die Eroberung des Staatsapparates mit dem Stimmzettel die Möglichkeit für eine alternative Wirtschaftspolitik zu eröffnen. In ihrer traditionalistischen Variante, repräsentiert durch die Kommunistische Partei (KKE), kann dieser Versuch als gescheitert betrachtet werden. Erfolgreicher ist dagegen bisher die Koalition der Radikalen Linken (SYRIZA), die aus einer Vielzahl von Organisationen hervorgegangen ist und sich auf breite soziale Bewegungen stützen kann. SYRIZA ist gegenüber Formen der Selbstorganisation und Selbsthilfe im Gegensatz zu anderen Parteien sehr offen. Im Unterschied zu den stark hierarchisch geprägten Parteien traditionellen Typs ist SYRIZA auch wesentlich pluralistischer und aufgrund der Existenz einer innerparteilichen Opposition mit eigenständigen programmatischen Vorstellungen demokratischer.
Die wichtigsten Impulse für einen gesellschaftlichen Wandel in Griechenland gehen jedoch von der äußerst heterogenen anarchistischen Strömung aus. Die Ideen der direkten Demokratie, der Selbstorganisation und Selbsthilfe auf lokaler und regionaler Ebene, des ökologischen, genossenschaftlichen Wirtschaftens und des zahlungsfreien Tausches haben sich in Griechenland rasant verbreitet. Dies ist aus mehreren Gründen bemerkenswert. Zwar gibt es in Griechenland eine lange Tradition genossenschaftlichen Wirtschaftens und ökonomischer Selbsthilfe vor allem in der Landwirtschaft. Diese war aber in der Regel eng in die klientelistischen Netzwerke der Parteien eingebunden und hatte zudem kaum Berührungspunkte mit der Gedankenwelt der ökologischen Bewegung. Von der Krise der traditionellen Organisationsformen sind daher auch viele Genossenschaften betroffen, deren ideeller und wirtschaftlicher Niedergang kaum zu übersehen ist.
Unter den Bedingungen der allgemeinen wirtschaftlichen Depression hat nun die Idee der Konsumgenossenschaft eine Renaissance erfahren: Um die Bevölkerung der städtischen Zentren mit günstigen Lebensmitteln zu versorgen und den Bauern Preise über den Erzeugerkosten zu ermöglichen, haben sich zahlreiche Initiativen entwickelt, die mit Hilfe des Internet den Direktverkauf von Grundnahrungsmitteln organisieren. Teilweise können sich diese Initiativen auf kommunale Verwaltungen stützen oder sie wurden gar von Kommunen initiiert.[1] Die Ausschaltung des Zwischenhandels mit seinen riesigen Gewinnspannen ist zweifelsohne für Produzenten und Konsumenten von Vorteil. Inwieweit sich diese von den Medien als "Bewegung der Kartoffel" getauften Initiativen institutionalisieren können, ist ebenso unklar wie die Frage, ob mit diesen Initiativen weitergehende gesellschaftspolitische Perspektiven verknüpft sind.[2] Teile der antiautoritären/anarchistischen Bewegungen sind dazu übergegangen, eigene Supermärkte zu etablieren, während viele Bauern dieses Jahr angesichts gestiegener Preise sich aus der Bewegung zurückgezogen haben.
Daneben sind in zahlreichen Städten Tauschringe und Regionalwährungen entstanden, mit denen vor allem Dienstleistungen getauscht werden. In ihren einfachsten Formen werden Arbeitsleistungen auf Berechnungsgrundlage der Arbeitszeit gegeneinander getauscht, es gibt aber auch Versuche, materielle Güter, vor allem Lebensmittel, einzubeziehen.
Bemerkenswert und in ihrem Ansatz darüber hinausgehend sind die Umsonstmärkte, auf denen Kleidung, Haushaltsartikel und anderer Güter zur Verfügung gestellt werden. Dabei steht weniger der Tausch von Äqivalenten im Mittelpunkt, sondern die Bereitstellung von bzw. die Versorgung mit Gütern nach dem Bedürfnisprinzip. Mehr als die vorgenannten Modelle handelt es sich um eine Schenk-Ökonomie, die vom Prinzip der Solidarität getragen wird, durchaus aber Menschen mit einbezieht, die selbst keine oder nur in geringem Umfang Gebrauchswerte beisteuern.
Die mittlerweile bekanntesten Initiativen solidarischer Ökonomie betreffen den Gesundheitssektor. Ursprünglich handelte es sich zumeist um selbstorganisierte Gesundheitszentren, in denen Ärzten und Pflegepersonal auf freiwilliger Basis vor allem Migranten ohne Papiere kostenlos behandelten. Angesichts des sukzessiven Zusammenbruchs der Gesundheitsversorgung und der zunehmenden Zahl von Menschen, die aus der Krankenversicherung fallen, haben diese durch Spenden finanzierten Zentren an Bedeutung erheblich gewonnen. Von den Beteiligten Aktivisten wird jedoch immer wieder betont, dass es vollkommen unmöglich ist, die Zerstörung des öffentlichen Gesundheitssystem auch nur annähernd auszugleichen.
Ebenso wie die Gesundheitszentren fußen die selbstorganisierten "Kollektiven Küchen" auf Spenden und freiwilliger Arbeit. Mit ihrer Unabhängigkeit von staatlichen, kommunalen oder kirchlichen Einrichtungen stellen sie einen wichtigen Pfeiler sozialer Selbstorganisation dar. Mittlerweile versucht SYRIZA, die verschiedenen solidarischen Projekte zu organsieren.[3] Inwieweit damit eine politische Einflußnahme erfolgen könnte, die der Eigenlogik solidarischer Ökonomie widerspricht, wird sich zeigen.
Ein Novum für griechische Verhältnisse stellt die Übernahme der Baustofffabrik Vio.Me durch die Belegschaft in Saloniki dar. Der Betrieb war infolge des Bankrotts der Muttergesellschaft geschlossen und schließlich von den Arbeitern besetzt worden. Flankiert von einer breiten Solidaritätswelle wurde die Produktion Anfang diesen Jahres als Genossenschaft der Arbeiter wieder aufgenommen.[4] Die Belegschaft, und das unterscheidet Vio.Me von traditionellen Genossenschaften, hat sich zur Aufgabe gestellt, die Produktion ökologisch zu gestalten.
Ein weiteres Beispiel für die Übernahme eines Betriebes stellt die "Zeitung der Redakteure" dar.[5] Nachdem die einzige (und bedeutendste linksliberale) Tageszeitung, die nicht mit dem Bau- oder Reedereikapital verbunden ist - die "Eleftherotypia" -, ihr Erscheinen eingestellt hatte, ergriffen Teile der Belegschaft die Initiative und gründeten eine neue Zeitung. Trotz des schwierigen wirtschaftlichen Umfeldes konnte diese sich Zeitung bisher behaupten.
Derartige Formen der direkten Aktion bewegen sich konträr zu den Traditionen der griechischen Arbeiterbewegung und werden insbesondere von den kommunistischen Gewerkschaften mißtrauisch beäugt.[6] Die breite Unterstützung für die Arbeiter von Vio.Me ist jedoch ein Indiz dafür, dass die "feindliche Übernahme" von Unternehmen durch die Belegschaften paradigmatisch für die sozialen Bewegungen werden könnte.
Versucht man, ein Grundprinzip aus der Mehrzahl der Projekte und Initiativen herauszudestilieren, so sticht die Grundlage der Solidarität heraus: Weniger klassische Formen des Tausches, sondern gegenseitige Hilfe und Bewahrung der menschlichen Würde als gesellschaftliches Gut bilden eine wesentliche Basis. Zumeist sind diese vielfältigen Initiativen nicht unabhängig vom politischen Kampf gegen die in Griechenland etablierten Formen autoritärer Herrschaft.
Ein wesentliches Problem stellt die Frage dar, inwieweit diese Initiativen verallgemeinerbar sind. Es liegt auf das Hand, das die gegenwärtigen Formen vor allem den Zweck haben, die gesellschaftlichen Reproduktionsmöglichkeiten zu verteidigen. Ihre Zukunft wird davon abhängen, inwieweit es gelingt, die zentralen Bereiche der Ökonomie, deren wichtigste Steuerungsinstanz die Banken sind, einzubeziehen. Ohne dahin gerichtete koordinierte politische Initiativen wird dies ebenso wenig möglich sein wie ohne internationalen Rückhalt ähnlicher Initiativen in anderen Ländern.
[1] http://www.redpepper.org.uk/organising-to-survive-in-greece/
[2] http://www.taz.de/!90852/
[3] http://www.solidarity4all.gr/about-solidarity-initiative
[4] http://www.viome.org/p/deutsch.html
[5] http://www.efsyn.gr/
[6] Dagegen hat SYRIZA-Vorsitzender Alexis Tsipras die Übernahme als "Form des Klassenkampfes" bezeichnet.
https://sopos.org/aufsaetze/52303b2b15831/1.phtml
sopos 9/2013