von Stefan Janson
Selbsthilfegruppe Ei des Kommunismus (SEK); Was tun mit Kommunismus, Unrast-Verlag Münster, 1. Auflage 2013, 388 Seiten
Ist der Begriff des "Kommunismus" für die Sache der menschlichen Emanzipation aus allen Unterdrückungsverhältnissen und zur Beschreibung einer Gesellschaft der Freien und Gleichen noch geeignet? Und können wir eine Welt, deren Struktur so offensichtlich nicht nur von sozialen Polaritäten geprägt, sondern die einer massiven Gefährdung ihrer natürlichen und humanen Grundlagen gegenübersteht, noch hinreichend mit einem solchen Begriff beschreiben?
Das diese Zweifel bestehen und daher in einem aktuellen Sammelband diskutiert werden, hat mit dem doppelten Gehalt des Begriffs des "Kommunismus" zu tun: ein gesellschaftlicher Zustand ist damit ebenso gemeint wie eine politische Bewegung. Da für den gesellschaftlichen Zustand des Kommunismus nach der marxistischen Lesart ein Utopieverbot – außerhalb von ein paar sehr grob gezimmerten Leitplanken, über deren Praktikabilität sich trefflich streiten ließe – gilt, muss sich "Kommunismus" aus der Theorie und Praxis als politische Bewegung ergeben.
Mit der Sache einer Partei verbindet sich der "Kommunismus" mit dem Beginn des Bürgerkrieges und auf dem Weg zur Errichtung einer Ein-Parteien-Diktatur in Rußland. Im März 1918 benannte sich die "Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands (Bolschewiki)" auf ihrem VII. Parteitag in "Kommunistische Partei Russlands (Bolschewiki)" um. Dies war eine berechtigte Reaktion auf den Verrat der internationalen Mehrheits-Sozialdemokratie an den Idealen des Friedens und Internationalismus. Rosa Luxemburg sagte bei der Gründung der KPD zur Jahreswende 1918/1919, nun sei man wieder bei Marx.[1] 38 Jahre später, mit und nach dem XX. Parteitag der KPdSU führte ihr damaliger Generalsekretär Chrustschow die von aufmerksamen Beobachtern und freiheitlichen Sozialisten immer wieder bezeugte terroristische Geschichte dieser Partei und den mit ihr einhergehenden millionenfachen Blutzoll einer halbherzigen offiziellen Aufarbeitung zu. Übrigens: in der Sowjetunion hat es keinen einzigen Prozess gegen die Henker und Gulag-Wärter des NKWD und KGB gegeben. Danach verschwand im Verlauf der nächsten Jahrzehnte das Attribut "kommunistisch" nach und nach aus den Organisationsnamen, wenn nicht die Organisation selbst verschwand. So recht wollte man sich nicht mehr in diese Tradition stellen. Wenn aber doch, dann haben die folgenden Jahrzehnte mit dem "Großen Sprung nach vorn", der chinesischen "Großen Proletarischen Kulturevolution", den Umerziehungslagern der siegreichen vietnamesischen Kommunisten und dem Völkermord der kambodschanischen Kommunisten am eigenen Volk den Begriff des Kommunismus nochmals mit der massenhaften Erfahrung von Terror, Unterdrückung, Arbeitslagern, Erziehungsdiktatur und in den letzten 20 Jahren ungebremster, offen kapitalistischer Ausbeutung von Millionen Arbeiterinnen und Arbeitern amalgamiert.
Die Ausgangslage dafür, den Begriff des Kommunismus gegen die Geschichte und die real existierenden Kommunisten zu verteidigen, ist also denkbar schlecht.
Das es die Autoren mit dem Sammelband "Was tun mit Kommunismus?" dennoch versuchen, hat damit zu tun, dass neben der nazistischen auch die oben skizzierte Vergangenheit nicht vergehen will. In ihrem ausführlichen Vorwort weisen sie auf eine Wiederbelebung "der lange von vielen Linken für tot geglaubten ML-Ideologie der gescheiterten pseudo-sozialistischen Diktaturen des Ost-Blocks" hin (S. 11). Ja, sie konstatieren sogar die "Rückkehr des (Neo)Stalinismus in die linke Öffentlichkeit." Das dies nicht nur eine Angelegenheit alter Stasi- und SED-Kader oder der Reste der westdeutschen ML ist, stellen sie bestürzt auf den folgendem Seiten die Erfolge und das Gebaren der "marxistischen Tageszeitung" "Junge Welt", der "Antifaschistischen Revolutionären Aktion Berlin (ARAB)" und solcher Schriftsteller wie Losurdo, Canfora und ihre positive Rezeption durch Zizek, Fülberth, Dath und Co. dar. Dies war für eine kleine Gruppe emanzipatorischer Linker Anlass genug, die "Selbsthilfegruppe Ei des Kommunismus (SEK)" und drei Diskussionen mit 19 Podiumsteilnehmern in Berlin zu organisieren. Insgesamt konnten zwischen 400 und 500 Teilnehmer_innen für diese ganz überwiegend selbstkritisch geführte Auseinandersetzung gewonnen werden. Das die politische Auseinandersetzung mit dem Neostalinismus nicht dem Verfassungsschutz und den feixenden bürgerlichen Medien überlassen wurde, allein das ist positiv zu vermerken.
Die Diskussionsbeiträge sind jedoch nicht nur der Auseinandersetzung mit den "historischen Sackgassen, in die uns die antiemanzipatorischen Regime des sogenannten real-existierenden Sozialismus geführt haben" (S.21) gewidmet, sondern wollen eine weitergehende Debatte über "künftige Auswege aus dem Kapitalismus" anregen. Zuzustimmen ist den Herausgebern unbedingt, wenn sie sagen: "Angesichts seiner heutigen Brutalitäten und der von ihm ausgehenden Zukunftsbedrohungen für die Menschheit brauchen wir diese Auswege mehr denn je. Ob wir sie finden, wird maßgeblich mit davon abhängen, ob sich eine antikapitalistische Linke auf den Weg macht, wirklich 'alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.' Das aber heißt, nicht wieder in die Fallstricke bloß neuer Varianten von Unterdrückung und Ausbeutung zu geraten."(aaO.)
Der Band umfasst 3 Teile, in die die Beiträge eingeordnet werden: ""Die Linke und der 'real existierende Sozialismus'", "Wie sozialistisch war der 'real existierende Sozialismus'" und "Raus aus dem Kapitalismus – aber wohin? Konkrete Utopie heute". Die Beiträge lassen sich häufig nicht bruchlos in dieses Schema einordnen, natürlich überschneiden sich Fragestellungen und mancher Beitrag beantwortet auch gar nicht die Fragestellung, der er zugeordnet worden ist.
Es ist unmöglich, den ganzen Reichtum der Zugänge, Kritiken und theoretischen Erkenntnisse in jeder Einzelheit darzustellen. Das sollte der Leser durch eigenständige Lektüre selbst versuchen – die Anschaffung dieses Bandes lohnt sich in der Tat schon deshalb, weil hier von linkssozialdemokratischen bis zu eher orthodox anarchistischen Autoren ganz überwiegend gehaltvolle Beiträge zum Themenkomplex geleistet worden sind. Hier kann es nur darum gehen, besonders hervorzuhebende bzw. besonders kritikwürdige Positionen darzustellen.
Bini Adamczak weist in ihrem Beitrag "Socialism for real? Träume, Begriffe, Geschichten" auf einen wesentlichen Aspekt hin, der die Auseinandersetzung mit der Realität des "real existierenden Sozialismus"" von Anfang geprägt hat. Sie zitiert Victor Serge, der die atemberaubende Unfähigkeit der ausländischen Kommunisten bemerkt, die Realität schon der Sowjetunion zur Gründungszeit der Komintern schlicht zur Kenntnis zu nehmen: Verhaftungen, Hungerrationen, Spekulation, Gefängnisgeschichten, Privilegien für Wenige. Die Delegierten des Weltsozialismus machten "den Eindruck, als fühlten sie sich im Urlaub oder als reisten sie als Touristen durch unsere ausgeblutete, belagerte Republik. Ich entdeckte eine neue Form der Unbewusstheit, die marxistische Unbewusstheit." (S.27) Diese Wahrnehmungssperre und Wirklichkeitsverleugnung findet sich bis heute.[2] Dieses Phänomen muss unbedingt aufgearbeitet werden.
In seinen Ausführungen zu "Linke(r) und Realsozialismus" setzt sich Hauke Benner mit einem Grundirrtum realsozialistischer Theorie und Praxis auseinander: der "Unschuld der Produktivkräfte". Angefangen mit Engels' Verdikt, die Abschaffung jeder Autorität in der kooperativen Produktion sei eine reaktionäre Illusion (S.41) bis zu Lenins Überzeugung, das Sozialismus undenkbar sei ohne großkapitalistische Technik (S. 39) blieb eine Kritik der politischen Technologie – für die sich bei Marx durchaus Hinweise finden – unausgeführt und die Subsumtion der lebendigen unter die tote Arbeit entmutigende Realität. Sehr wichtig auch die Beobachtungen zum Sozialcharakter der DDR-Bevölkerung, erzeugt durch die Perpetuierung von patriarchaler und autoritärer Erziehung und der auffällig viele Übereinstimmungen mit dem 'autoritären Charakter', den Adorno in den 1940er Jahren bei US-Amerikanern feststellte, die eine Disposition für faschistisches, rassistisches Denken aufweisen. Diese Sozialpsychologie ist von einer "regelrechten Angst vor Freiheit und Selbstbestimmung geprägt." (S. 45) Es liegt auf der Hand, dass so geprägte Menschen schwerlich eine Gesellschaft der Freien und Gleichen aufbauen werden. Und er kommt zu der plausiblen These, dass die SED durch diese politisch gewollte Sozialisation dafür mitverantwortlich war, "dass es in der DDR Rassismus und Neofaschismus als 'neues Phänomen' gab."(S. 46)
Der nächste Beitrag von Willi Hajek stellt die Frage "Wie können wir selber Produzieren, die Maschinen verändern und die Arbeit anders organisieren, wenn wir die Macht haben, selbst zu bestimmen?" (S. 53). Dieser stark autobiographisch geprägte Aufsatz ist von einer gewissen Verständnislosigkeit gegenüber dem Gebaren der Realsozialisten geprägt und hält an einem Blick von Unten" fest, der in dieser Klarheit in keinem anderen Beitrag des Buches wiederzufinden ist. "Da drüben können Arbeiterkinder aufs Gymnasium und an die Universität gehen. Ohne etwas zu bezahlen. Das ist doch prima. Aber sie regieren und bevormunden die Leute wie die Nazis." (S. 54) Wer mit dieser illusionslosen Sicht auf den Realsozialismus ausgestattet ist, der denkt dann auch eher über wirkliche Versuche und ernste Bewegungen zur Selbstverwaltung bzw. Selbstverwaltung von Arbeiterinnen und Arbeitern nach: Hajek zieht hier Beispiele aus Jugoslawien 1950, Ungarn 1956, Kuba 1959, Algerien 1962, Mai 1968, Polen 1970, 1976, 1980, sowie Selbstverwaltungsversuche wie die Uhrenfabrik Lip in Frankreich , das Flugzeugwerk Lucas Aerospace in Großbritannien etc. heran. Mit diesem Rüstzeug leistet Hajek bis heute als Basisgewerkschafter einen praktischen Beitrag zur Überwindung des autoritären Erbes in der Gewerkschaftsbewegung, gegen die Apologeten des Realsozialismus, die es auch an der Basis gibt.
Christoph Jünke warnt in seinen "Sechs Thesen zum langen Schatten des Stalinismus" berechtigterweise vor einen spürbar um sich greifenden Philo- und Neostalinismus, nicht nur unter der Ägide Putins in Rußland, sondern auch hier in der positiven Rezeption apologetischer Versuche, die historische Notwendigkeit und Unausweichlichkeit der stalinistischen Herrschaft herzuleiten, u.a. auch durch Georg Fülberth, Uwe-Jens Heuer und Oskar Lafontaine (S. 77f.). Auch wenn ich Jünkes Ansicht, beim Stalinismus handele es sich um "eine erstarrte Übergangsgesellschaft" (Übergang wohin?) nicht teile, so ist seine Aussage bedenkenswert, dass wir es "mit einem Schatten zu tun (haben), der nicht nur von der Vergangenheit, sondern auch aus der Zukunft zu uns herüber weht" (S.81f). Er kennzeichnet damit zu recht die "Versuchung eines gesellschaftspolitischen Substitutionismus", d.h. eines autoritären und erziehungsdiktatorischen Kurzschlusses und zeigt auf, dass dagegen nur der "Geist einer universellen demokratischen Selbsttätigkeit in den Köpfen der Menschen" hilft (S. 82).
Zur "Linken in Deutschland und (dem) real existierende(n) Sozialismus in der DDR" trägt Thomas Klein einen gedrängten Abriss der Geschichte und Theorie der nicht-stalinistischen Linken mit Schwerpunkt auf die DDR bei. Dabei vermittelt er interessante Details über den Widerstand linkssozialistischer, rätekommunistischer und libertärer Gruppen, die aber allesamt bis Mitte der 50er Jahre von der SMAD und dem SED-Regime zerschlagen worden sind, gerade weil sie eine freiheitliche Alternative zum Kasernenhof-"Sozialismus" der SED verkörperten. Zusammen mit der Lähmung des klassischen Arbeiterwiderstands nach der Niederlage des 17. Juni 1953 war danach die Grundlage für eine Massenverankerung von dissidenten und oppositionellen Aktivitäten nicht mehr gegeben. Der SED war es gelungen, auch durch sozialpolitische Zugeständnisse die Massen zu entpolitisieren, "Lebenswelt und traditionelle Kultur der industriegesellschaftlichen geprägten Arbeiterklasse in der DDR" boten keinen Resonanzboden für die überwiegend subkulturell sozialisierten Jugendbewegungen (S. 89). Auch hier kollidiert der emphatische Anspruch an die revolutionäre Potenz der Arbeiterklasse mit der empirischen Realität. Wenn diese Realität schon fast – von seltenen und kurzfristigen Ausnahmen abgesehen – siebzig Jahre anhält, sollten wir uns Gedanken über den Realgehalt solcher Theoreme wie einer besonderen "historischen Aufgabe des Proletariats" machen. Auch dafür ist Kleins Beitrag ein guter Beleg.
Monika Runge äußert sich zum "Verhältnis des realen Sozialismus zur kommunistischen Bewegung heute". Jedenfalls ist das ihr Anspruch. Verblüfft muss der Leser feststellen, dass Runge zwar ihr Verhältnis in und zur SED aus biographischer Betroffenheit (sie sah sich u.a. Anwerbungsversuchen durch die Stasi ausgesetzt) darstellt, dass aber die kommunistische Bewegung nicht als Massenbewegung analysiert wird, sondern die kommunalpolitische Arbeit der PDL als Baustein für eine Bewegung zurechtgeschnitten wird, die zum Kommunismus führen kann. Dabei wird ein kühner Zusammenhang hergestellt zwischen der Pariser Commune und der doch ganz und gar unrevolutionären Tätigkeit deutscher Kommunalparlamente. Das ist dann doch eher skuril als hilfreich für die Aufhellung des Verhältnisses der Linken zum Stalinismus.
An den Anfang seines skeptisch, nachdenklichen Beitrages "Die Linke oder: die liebevolle Pflege selbstverschuldeter Unmündigkeit" setzt Jörg Schütrumpf neun Lerninhalte, mit denen er die Hoffnung verknüpft, dass die Linke sie "lernen" könnte. Der erste dieser Lerninhalte heißt: "Ein Sozialismus, der durch eine Partei von oben eingeführt wird, endet immer in bürgerlich-kapitalistischen Verhältnissen. Die Differenz zwischen den verschiedenen verordneten "Sozialismen" besteht lediglich in der Zahl ihrer Opfer und im Weg zu ungeschminkten kapitalistischen Zuständen: nach dem Sturz der Staatspartei oder unter ihrer Führung."(S. 110) Im folgenden entwickelt er eine Kritik am Etatismus der deutschen Sozialdemokratie und dem leninistischen Konzept, in dem sich der Staat eine Basis schaffte und nicht umgekehrt (S. 124). Als neue herrschende Klasse in dieser sich unverschämt Räteunion (sowjet = russ. Rat) nennenden Diktatur macht er Armee, Parteiapparat und Politische Polizei aus. Interessanterweise sieht er als Methoden zur Erhaltung ihrer Herrschaft die absichtsvolle Zerstörung aller sozialen Beziehungen, soweit sie sich auf Vertrauen gründen, und die Erzeugung von Angst aus: "Angst zerstört jede Zivilcourage, verwandelt die Gesellschaft in eine Agglomeration bindungs- und damit hilfloser, das heißt zu jeder Form von Widerstand unfähiger Individuen." (S. 129) Durch den ganzen Beitrag schwingt die berechtigte Angst mit, dass eine zersplitterte Linke einer bürgerlichen Klasse, die immer weiter diese Welt dem Untergang zutreibt, nicht gewachsen sein könnte. Aber reicht es denn, am Ende für eine "kooperative Linke" und für den Diskurs untereinander zu plädieren, wenn ein Teil dieser Linken partout an Konzepten der Diktatur und Gewalt meint festzuhalten müssen?
In einer sehr aufschlussreichen Kritik der Perpetuierung von Herrschaftsverhältnissen in den Betrieben der DDR geht Renate Hürtgen der Frage nach, "wie sozialistisch der 'real-existierende Sozialismus' (war)" und kommt zu dem Ergebnis, dass "nicht immer drin ist, was draufsteht." "Die Gesellschaften des 'realexistierenden Sozialismus', auch die der DDR, sind der Konkurrenz des Westens unterlegen, weil sie die alten Herrschafts- und Eigentumsverhältnisse nicht nur nicht beseitigt, sondern in Gestalt von Diktaturen etabliert hatten, eine für moderne Industrieentwicklungen denkbar ineffektive Herrschaftsform, die spätestens mit Übergang von einer extensiven zur intensiven Produktionsweise ihre Innovationskraft verlor.." Hürtgen nennt diese Gesellschaften wegen ihres Umwelt und menschliche Ressourcen zerstörenden Charakters "schlechte Kopien" des kapitalistischen Westens (S.186). Die abschließende Frage allerdings, ob diese "staatsmonopolistisch verfassten Gesellschaften... nicht vielleicht doch die günstigeren Voraussetzungen für einen Übergang zu 'höheren' Organisation der Gesellschaft boten oder bieten?" (S. 187) ist nach der konzisen Analyse der betrieblichen und gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse in der DDR so überraschend wie meines Erachtens überflüssig.
In "'Mein Staat DDR' und die Alternativen" stellt Anne Seeck als 1962 in der DDR Geborene und Aufgewachsene anhand des Umgangs mit der Unterschicht, dem Anderssein und den Andersdenkenden die repressiven Momente der DDR dar, zählt aber auch sozialistische Komponenten auf: die Enteignung der Naziverbrecher, des Kapitals und der Großgrundbesitzer, das Fehlen von existenzieller Not und schließlich die flachere Einkommenspyramide (S. 203f.). Aus ihrer Kritik entwickelt sie konstruktive und libertäre Kriterien für eine freie und gleiche Gesellschaft: Vergesellschaftung und Gemeineigentum, Rätedemokratie bzw. partizipative Demokratie, Freiheit (statt Abschaffung bürgerlicher Freiheiten), Anders wirtschaften, solidarische Ökonomie, Selbstverwaltung und demokratische Planung, Anders leben, verantwortlicher Konsum, schließlich Toleranz gegenüber Menschen, die anders sind. Elemente eines "Sozialismus mit menschlichem Antlitz", dem Streeck eine ganze Reihe von kritischen und selbstkritischen Fragen stellt. Zu recht weist sie auf die Notwendigkeit hin, alternative Konzepte zum Kapitalismus nicht am Schreibtisch auszuarbeiten, sondern in den sozialen Kämpfen lebendig und greifbar zu machen.
Für Frank Engster ist "Kommunismus – Die Selbstkritik des Kapitals!" Aus 40 Seiten kommen zum Abschluss 9 Zeilen Fragen heraus, was Kommunismus eigentlich sein könnte bzw. welchen Problemen sich eine solche Gesellschaft gegenübersähe (S. 255). Allerdings bereitet mir schon die Überschrift Probleme: wie haben wir uns das vorzustellen - "Selbstkritik des Kapitals"? In Marx' Kapital sei nichts weniger als die Idee des Kommunismus angelegt (S.218f). Ja und? "Wenn die bisherige Idee des Kommunismus, zugespitzt formuliert, darauf hinauslief, dass die Produktivkraft zum Gegenstand einer bewussten und gesamtgesellschaftlichen Organisation und Planung werden soll, um die Gesellschaft gleichsam ihrer Selbstbestimmung zu unterziehen, dann ist in der im Geld sich selbst messenden Ökonomie genau diese Idee auf den Punkt gebracht" (S. 251). Ich mag dergleichen Quatsch nicht mehr kommentieren.
Christian Frings nennt seinen Beitrag "Das Kapital – die entfremdete Form der Kommune aus sieben Milliarden" (S.256). Es handelt sich aber nicht um eine positive Fortsetzung der Engsterschen Analyse. "Das Kapital ist kein Ding, es kommt nicht von einem anderen Stern, sondern es ist nur die ver-rückte, verdinglichte, entfremdete Existenzweise unseres Kooperierens, unseres gesellschaftlichen Zusammenwirkens" (S.258). Frings hält in seiner Betrachtung der gedachten Voraussetzungen für eine kommunistische Utopie seine Skepsis hinsichtlich der Gebrauchs- und Emanzipationsfähigkeit von Technologie, des in einer kapitalistischen Gesellschaft sozialisierten Subjekts und universalistischer Konstrukte durch. Vorsichtige Hoffnungen setzt er auf das Verschwinden von Repräsentation und die Ablösung des Staates als dem Utopieträger in den Bewegungen seit 1956, spätestens aber 1968. Es zeige sich eine neue Fähigkeit zur Selbstorganisation und zur Zurückweisung von bevormundenden Repräsentationen (S. 267).
Nach einer detaillierten und massiven Kritik an den Wiedergängern des Stalinismus (Inge Viett "Was war die DDR?") nähert sich Bernd Gehrke einem "Sozialismus nach dem 'real existierenden Sozialismus'" mit einem "Blick zurück nach vorn" an (S. 269ff). Es sei heute unmöglich für Marxistinnen und Marxisten, "die nicht nur die Befreiung vom Kapitalismus, sondern auch eine Gesellschaft der Freiheit anstreben, sich ins Gewand des Kommunismus zu kleiden", dieser Begriff sei für eine emanzipatorische Bewegung über den Kapitalismus hinaus "politisch verbrannt"(S. 283). Er will "einen positiven Begriff für eine freiheitliche postkapitalistische Gesellschaft...bestimmen, welcher der Begründung von emanzipatorischen Entwicklungspfaden in Gegenwart und Zukunft dienen kann."(S. 289). Diesen Begriff findet er bei Marx in der Vorstellung von einem "Verein freier Menschen, die mit gemeinschaftlichen Produktionsmitteln arbeiten und ihre vielen individuellen Arbeitskräfte selbstbewusst als eine gesellschaftliche Arbeitskraft verausgaben" (S. 297), kurz, in den Arbeiterkooperativfabriken und Genossenschaften, die bereits vor Marx entstanden und sich politisch in der 1. Internationale nicht unbedingt von den Marxisten repräsentiert sahen – wie man kritisch anmerken muss. Kurz weist Gehrke auf das Problem von Wissenshierarchien als Herrschaftsquellen nicht nur in der Produktion hin. Die wirklich wichtigste der aktuellen Fragen stellt er gegen Ende seines Beitrages: "Ein aus dem bisherigen Entwicklungspfad des Mensch wie Natur zerstörenden Industrialismus führender Ausweg muss Produktion wie Reproduktion, muss alle Gebiete des Lebens erfassen. Und aus der dritten industriellen muss eine wirklich ökologische, mit der Natur und ihren Lebewesen haushaltende Revolution werden. Das aber bedeutet eine so grundsätzliche soziale Revolution, wie sie die neolithische oder die industrielle Revolution es waren." (S.302). Zwar meint er, dass der Schlüssel dafür noch immer in den Zentren des Weltkapitals selbst liege, aber es ist das Verdienst dieses Beitrages, die Frage so klar und radikal zu stellen und auch die Kriterien für ihre Lösung zu benennen: "Radikal demokratisch. Radikal sozial. Radikal ökologisch. Und deshalb nicht mehr kapitalistisch." (S. 305) Hätte er hinzugefügt: radikal gewaltfrei, dann hätte er die ursprüngliche Programmatik der Grünen eingefangen.
An dieser Stelle sei ein Teil des Resumées vorweggenommen: hier wird klar, dass eine Lösung der oben gestellten Frage sich eben nicht mehr aus den Traditionen der Arbeiterbewegung herleiten lässt, dass auch hier der Bruch vollzogen werden muss und dann die kritische Aufhebung ansteht. Denn mir scheint eine weitere Lehre aus dieser Geschichte zu sein, die auch an keiner anderen Stelle dieses Bandes aufgearbeitet wird: Gewaltbeziehungen sind immer Herrschaftsbeziehungen, sie produzieren und provozieren wieder Gewalt und damit neue Herrschaftsbeziehungen, sie vergiften jede soziale und gesellschaftliche Organisation und sei sie mit noch so hehrem Anspruch angewandt.
Interessant ist Sebastians Gerhardts Abrechnung mit einer Fraktion in der "Partei Die Linke", die aus dem Lager der SED- und PDS-Modernisierer kommt und auf eigene Weise die moderne kapitalistische Gesellschaft, insoweit ganz alten sozialdemokratischen Mustern folgend, als Transformationsplattform für einen "modernen Sozialismus" einschätzt. Weshalb er diese Kritik im Rahmen seiner "Schwierigkeiten mit dem Kommunismus" (S. 306ff.) abhandelt, wird nicht ganz klar. Festzuhalten bleibt aber der Abschluss seiner Kritik an der Teilung in kommandierte Arbeit und Arbeit des Kommandierens, die sich in den Köpfen der eingangs genannten "Modernen Sozialisten" festgesetzt hat. Enttäuschungen über Weg, Ziel und Ergebnisse emanzipatorischer Praxis hat es immer gegeben. "Und sie hat etwas Gutes: sie räumt Täuschungen weg und macht den Weg frei für ein Stück mehr Selbsterkenntnis, die zur Freiheit und Emanzipation nun einmal dazugehört. Selbst die Kritik der politischen Ökonomie ist nicht nur 'Aufklärung über den Gegner', wie es Karl Korsch einst schrieb, sondern Aufklärung über uns selbst. Zur Orientierung im Gelände ist eine Landkarte nur hilfreich, wenn man die eigene Position mit ihr bestimmen kann."(S. 336)
Unter dem wuchtigen Titel "Was tun mit Kommunismus? Mitkämpfen! Die Chancen der sozialen Weltrevolution in der Krise der Innovationsoffensive" liefert Detlef Hartmann neben einer atemberaubenden Erzählung über den globalen Widerstand auch eingangs eine These über eine schwächer werdende "Gouvernementalität" (Foucault):"...die in die Menschen eingelagerte Bereitschaft zur Gefolgschaft und Selbstbeteiligung am Regime ist matt geworden."(S. 340) Er selbst nimmt den Widerspruch zu dieser These einen Satz zuvor selbst auf: "Inzwischen ist hier wie dort ("Trikont ./. Metropolen" – d.Verf.) das Unvermögen offenbar geworden, die hartnäckigen in den Alltag eingelagerten Machtverhältnisse, Gewohnheiten, Mentalitäten schnell zu durchbrechen." (ebenda) Was kennzeichnet die Stärke von Gouvernementalität besser als dies? Wie passt zu dieser Revolte der Subjektivität, die Hartmann als Triebkraft für eine Bewegung zum Kommunismus behauptet, dass ihr Ziel ja offensichtlich ganz überwiegend nicht in einer alternativen Vergesellschaftung, sondern der Teilhabe an und in der kapitalistischen Moderne besteht? Die Bewegungen, die Hartmann als Ausweis für die Selbstfindung gegen die hier zum Subjekt erhobene Innovationsoffensive aufführt, könnten auch lediglich "Subsistenz- und Überlebensbewegungen" sein, deren Elan sicher absolut notwendig wäre, um diese – aber eben auch nur diese – Ziele zu erreichen.Leider erinnern seine Kritiken an der metropolitanen Linken und ihrer Theoriebildung allzu sehr an die "Kritik- und Selbstkritik"-Rituale maoistischer Provenienz, die selbst nur drastischer Ausdruck für brutale Unterdrückungsregimes waren (S. 343, 346, 352).
Als direkte Antwort auf Hartmann kann Michael Wilk gelesen werden, der zu recht fragt, was die Angestellten und die Arbeiter Zentraleuropas mit den Paria in Indien gemein haben – sie seien wohl kaum Angehörige ein und derselben Klasse von Unterdrückten. Er kritisiert den in Teilen der Linken vorhandenen "Reflex, jedes Aufbegehren allerorten als Zeichen einer großen gemeinsamen antikapitalistischen Bestrebung zu interpretieren, bzw. als Ausdruck für revoltierende Subjektivität unter ein so großes theoretisches Zeltdach zu packen, dass damit analytisch und praktisch nichts mehr gewonnen werden kann. Dagegen sagt Wilk. "Protest in der BRD ist noch lange nicht Revolte, Widerstand und Revolution sind nicht zwingend antikapitalistisch und schon überhaupt nicht antihierarchisch." (S. 375) Sehr nüchtern und streckenweise brutal realistisch schätzt Wilk die Situation in den kapitalistischen Metropolen und besonders in Deutschland ein. Die Ausdünnung sozialer Sicherungssysteme ist im Wesentlichen ohne breiten Protest, geschweige denn Widerstand geschehen. Wo Ansätze zu einer solchen Bewegung waren, wie bei der 500.000 Menschen umfassenden Protestkundgebung gegen die Hartz-Gesetzgebung im Frühsommer 2004 in Berlin, konnte die DGB-Führung ohne großes Murren ihren Anpassungskurs durchsetzen und die zarte Gegenbewegung versanden lassen – die Bewegung ließ es aber auch mit sich machen! Integrations- und Versöhnungsillusionen führen schnell zu solchen Ergebnissen und wenn das nicht reicht, wird die Angst vor dem Abstieg in Vereinzelung, Anpassung und Verteidigung des eigenen Standards gegen die da Unten, "die Anderen, vorzugsweise die Nichtdeutschen, alles Fremde überhaupt" gewendet (S.380). Wilk sieht zu recht eine bedeutende Schwachstelle der Linken darin, dass sie kaum Orte "praktisch erfahrbarer Lebendigkeit" schafft. Ihm geht es "um die sinnliche Erfahrbarkeit eines anderen Lebens, selbstorganisiert, autonom und antihierarchisch."(S.382)
Zum Abschluss sei Lucy Redlers Beitrag "Wohin vom Kapitalismus aus?" (S. 358) mit einem Satz charakterisiert: "Rosa Luxemburg, Leo Trotzkis und viele andere haben darauf verwiesen, dass eine internationale revolutionär-sozialistische Partei der ArbeiterInnenklasse nötig ist, um der geballten organisierten Macht des Kapitals eine starke sozialistische Organisation entgegenzustellen, die Antworten auf programmatische, strategische und taktische Fragen geben kann und aus Fehlern die richtige Schlussfolgerungen zieht."(S. 372) Wie wir wissen, arbeiten daran fleißig etwa 10 bis 12 verschiedene "IV. Internationalen" und wir sollten sie ermutigen, weiterhin fleißig ihr Werk zu tun, damit sie anderswo keinen Schaden anrichten können.
Ziehen wir ein Resumée. Was bieten die 19 Beiträge zur "K-Frage" an Desiderata, Gemeinsamkeiten und noch offenen Fragestellungen? Durchweg nicht im klassischen Sinne der orthodoxen Linken zugehörig, sollte der Sammelband den "Stand der Wissenschaft" bieten.
Ich denke daher, eine noch so tief gehende – und auch absolut erforderliche – selbstkritische Reflektion über 70 Jahre Kommunismus, so wie er sich in der wirklichen Geschichte den Menschen präsentierte, wird es nicht mehr erreichen, dass mit diesem Begriff politisch wirksam irgendetwas Positives verbunden werden könnte.
Zunächst zu zwei grundlegenden Desiderate: die Autorinnen und Autoren arbeiten sich an den leninistischen Kommunismusmodellen ab, nur am Rande wird die Frage nach "positiven" freiheitlichen Alternativen angerissen.
Es erstaunt, dass keiner der Beiträge sich bei der Diskussion um "Kommunismus" auf die Spanische Revolution bezieht, dem Paradigma für den "freiheitlichen Kommunismus", der nach dem Putsch der Militärs im Sommer 1936 spontan, selbstorganisiert und genährt aus freiheitlichem Geist erstand. Auf einer ethischen Grundlage, die schon aus der Gründungserklärung der spanischen Syndikalisten 1910 eine so ganz andere Sprache spricht als die Marx-Exegese der deutschen Sozialdemokratie: "Die Emanzipation (der Arbeiter) ist das unmittelbare Ergebnis der moralischen Emanzipation; erstere wird nicht erlangen, wer weiterhin moralisch Sklave eines anderen ist. Und Sklave ist, wer nicht eigenständig denkt, wer nicht spontan in Übereinstimmung mit seiner Vernunft und kraft eigener Anstrengung handelt."[3] Zugegeben, auch hier sorgten die Bürgerkriegssituation, aber auch das Treiben der sowjetischen Kommunisten und ihrer spanischen Handlanger dafür, dass diese hoffnungsvollen Ansätze entweder den Notwendigkeiten der Kriegsproduktion zum Opfer fielen oder aber aktiv liquidiert werden konnten. Aber als historische Referenz muss diese Erfahrung mindestens in Betracht gezogen werden, von den Erfahrungen in der DDR 1953, Ungarn 1956, Polen 1970 und 1980/81 ganz zu schweigen, um ein Denken in Alternativen als realhistorische Gelegenheit und Möglichkeit zu ermöglichen.[4]
Zum zweiten ist es in der heutigen Situation absolut unzureichend, über eine neue Gesellschaft nachzudenken ohne sich mit den ökologischen Beschränkungen und Problemen durch Klimawandel und Rohstoffknappheit auseinanderzusetzen. Eine freie Gesellschaft kann aller Wahrscheinlichkeit nach nur eine Postwachstumsökonomie sein. Dazu finden sich in dem Sammelband nur wenige und dann nicht systematisch aufgearbeitete Hinweise. Hier ist meines Erachtens theoretische Arbeit und praktisches Experiment am dringlichsten: wie können Massenkonsum, der Wunsch nach ihm, die Ungleichzeitigkeit von Unterprivilegierung und Sedierung durch diesen Konsum zusammengebracht werden mit einem Suffizienzansatz, ohne in eine Diktatur der oder über die Bedürfnisse zu verfallen? Hilfreich wäre es gewesen, hier eine Auseinandersetzung mit schon bestehenden Diskussionssträngen zu finden (z.B. E. Ostrom, Transition Town o.ä.).
Im Übrigen sind aus der Debatte eine Reihe von Bedingungen für eine neue Gesellschaft abzuleiten:
Es wird keine freie Gesellschaft geben ohne unverfügbare Garantien für die Unversehrtheit des menschlichen Lebens, seine Freiheit und seine Würde. Dies setzt institutionelle Garantien voraus, die dem Mehrheitsprinzip nicht zugänglich sein dürfen. Eine freie Gesellschaft ohne "Habeas Corpus"-Akte, aber mit Todesstrafe und politischer Strafgesetzgebung ist ein Widerspruch in sich selbst.
Es wird keine freie Gesellschaft geben, wenn – in welcher Form auch immer – an dem Mythos von der revolutionären Produktivkraft "Arbeiterklasse" festgehalten wird. Nicht nur, dass heute keine schlüssige und konsistente Analyse gegeben werden kann, was die "Klasse an sich" umfasst. Auch mit der "Klasse für sich" ist es nicht weit her, soweit es um Emanzipation, Freiheit und Selbstbestimmung geht. Lohnarbeit per se konstituiert eben Kapital, sonst nichts. Freiheit und Selbstbestimmung sind wohl in den Individuen angelegt, aber sie müssen als Denk- und Handlungsmöglichkeiten erfasst, verstanden, erfahren und erprobt werden – und zwar im Alltag, hier und jetzt. Eine freie Gesellschaft kann nicht mit unfreien Individuen aufgebaut werden, schon gar nicht mit aufgehetzten und fanatisierten Massen wie zum Beispiel in der "Großen Proletarischen Kulturrevolution".
Es wird daher keine freie Gesellschaft geben ohne Auseinandersetzung mit der Psychodynamik der entwickelten kapitalistischen Gesellschaften, aber auch der Peripherie. Sozialisten müssen sich mit dem Wunsch auch der militantest kämpfenden Unterprivilegierten nach Teilhabe auseinandersetzen, nicht nur an den Voraussetzungen für ein menschenwürdiges Leben, sprich: Nahrung, Wasser, Gesundheitsversorgung, Kommunikation und Mobilität, sondern auch an Erwerb und Verzehr positionaler Güter (Veblen). Es bedarf also einer Theorie und Praxis der Reflexion und Selbstbeschränkung bei der Produktion und dem Gebrauch von Gütern. Auch hierzu findet sich nur in wenigen Beiträgen überhaupt ein Ansatz von Problembewusstsein.
Das Nachdenken über eine freie Gesellschaft setzt schließlich voraus, dass wir die Grundlagen unserer theoretischen Zugänge zur Welt überprüfen. Insoweit und nur insoweit hat Hartmann in seinem Beitrag recht: Sind nicht auch wir Sozialisten allzu oft und allzu sehr auf dem Pfad der instrumentellen Vernunft an die Erscheinungen des Sozialen herangegangen, haben mit unseren Kategoriebildungen ("Klasse, Gesellschaftsformation, Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse usw. usf.") die wirklichen Konflikte und Bewegungen gar nicht erfasst?
Zu guter letzt: Alle geschichtliche Erfahrung zeigt, dass "je mehr Gewalt, um so weniger Revolution." Eine Transformation zu einer freien Gesellschaft muss von den Individuen selbstständig, selbstbewusst und selbstorganisiert gewollt und gestaltet werden. Dies ist zwar in einer Reihe von Beiträgen präsent, aber immer noch unterliegen viele Diskutanten dem Mythos der Militanz, die an und für sich überhaupt kein Gradmesser für die Emanzipation der Kämpfenden aus Unterdrückungsverhältnissen sein kann und eher etwas über ihr Verhaftetsein an alte Vergesellschaftungsformen aussagt. Es ist aus der Geschichte leider ersichtlich, daß sich die sozialen Bewegung mit massivster Gewalt von Seiten der Herrschenden auseinandersetzen muß. Aktuell ist da sicher die EZLN in Mexico zu nennen: Ich erinnere mich an ein Zitat von Marcos: "Wir wären gern viel demokratischer. Aber der militärische Kampf (zum Schutz der Zapatista-Gemeinden) läßt das nicht zu." Ich denke, er bringt damit das ganze Dilemma auf den Punkt, aus dem ein Ausweg darin liegen könnte, anstatt die Militanz mit Waffen zu affirmieren über Formen des gewaltfreien Widerstandes und unsere Phantasie und Kompetenzen hier zu investieren.
Insoweit hat die Diskussion über eine Gesellschaft der Freien und Gleichen überhaupt erst zu beginnen.
[1] In zumindest einem Punkt sollte sie damit für den "realen Sozialismus" nur zu Recht behalten: heißt es doch im "Kommunistischen Manifest" zu den ersten Maßnahmen der siegreichen Revolution „8. Gleicher Arbeitszwang für für alle, Errichtung industrieller Armeen, besonders für den Ackerbau.“ Trotzki setzte diese Idee in Rußland tatsächlich um. Wie Trotzki überhaupt allzu oft als Ideengeber für seinen Widersacher Stalin fungierte.
[2] Ein gutes Beispiel dafür findet sich in dem Buch „Pol Pots Lächeln“ von Peter Fröberg Idling, in dem die Reise von vier schwedischen Internationalisten in das „Demokratische Kampuchea“ im Jahre 1978 geschildert wird. Dieses Buch hat in der schwedischen Linken heftige Kontroversen ausgelöst. Das wäre auch für die deutsche Rezeption wünschenswert.
[3] Gründungserklärung der Confederacion National del Trabajo (CNT) vom 30.10.1910/1.11.1910 in: Hrsg. Walther L. Bernecker, Kollektivismus und Freiheit; München 1980, S. 87 (90)
[4] Interessanterweise sind es gerade die Autoren aus der dissidenten Linken der DDR, die diese letztgenannten Beispiele präsentieren: Klein, Schütrumpf, Hürtgen, Gehrke, Seeck und Gerhardt. Ihre Beiträge sind essentiell für das gesamte Buch.
https://sopos.org/aufsaetze/51ed2bced5834/1.phtml
sopos 7/2013