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Von der Notwendigkeit einer neuen Klassendebatte und von den Angestellten im VEB

Rezension

von Bernd Gehrke

Renate Hürtgen: "Angestellt im VEB. Loyalitäten, Machtressourcen und soziale Lagen der Industrieangestellten in der DDR", Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster 2009, 309 S., ISBN 978-3-89691-774-4, 34,90 Euro

Neues Interesse an den "arbeitenden Klassen"?

Nicht nur die Bilder der sozialen Landschaft und der "Welt der Arbeit" haben sich in Deutschland, Europa und global gegenüber den 1990er Jahren dramatisch verändert. Soeben haben wir mit rund 100.000 Millionen Beteiligten in Indien den größten Generalstreik der Geschichte erlebt. Es kann kaum verwundern, dass die krisenhaften Veränderungsprozesse des Kapitalismus nicht nur in der Linken, sondern selbst im akademischen und Bildungsbereich inzwischen auch ein neues Interesse an "den arbeitenden Klassen" hervorrufen. Gewiss, schon längere Zeit bereichern Spezialforschungen, wie sie etwa vom Frankfurter Institut für Sozialforschung zu den industriellen Veränderungsprozessen oder zu den europäisierten Interessenvertretungsstrukturen der Beschäftigten im Rahmen der globalisierten Arbeitsteilung vorgenommen werden, unser empirisches Wissen über solche Veränderungen. Auch dass die Ungleichheitsforschung in den letzten Jahren nicht nur zugenommen und verschiedenste Felder beackert hat, kann angesichts der sozialen Polarisierung kaum verwundern.[1] Mit spektakulären Studien sind einige Sektoren der Ungleichheitsforschung in bürgerliche Öffentlichkeit und Politik gedrungen und haben den Begriff der "Prekären" an jene Stelle gesetzt, an dem früher "Proletariat", "Pöbel" oder "gefährliche Klassen" standen.

Doch wenn aktuell gerade in Mannheim und ab Herbst in Chemnitz eine Ausstellung über die "Geschichte der Arbeiterbewegung" stattfindet, begleitet von einer Konferenz und einer bundesweit bestückten Vortragsreihe, und dies auf beachtliche Resonanz stößt, dann kann das sehr wohl als Ausdruck einer veränderten Interessen- und Bedürfnislage über akademische und politische Zirkel sowie über thematische Einzelaspekte hinaus gewertet werden.[2] Dies scheint zugleich auch Ausdruck eines wieder erstarkten Interesses an historischen Themen zur ArbeiterInnenbewegung jenseits alter Forschungsstränge zu sein, welches gerade unter jüngeren HistorikerInnen zu bemerken ist. Dafür sprechen die Arbeiten von Peter Birke zum wilden Streik oder von Ralf Hoffrogge zur Rätebewegung in der Novemberrevolution ebenso wie die von Stefan Heinz über die RGO oder Jan-Ole Arps’ Darstellung der "68er Betriebslinken".[3]

Insofern scheint die Hoffnung nicht unberechtigt, dass durch dieses Interesse nun auch in Deutschland wieder eine über Zirkel hinaus gehende Debatte über "soziale Klassen" neu entsteht. Denn sie fehlte bisher in diesem Aufschwung des Interesses an der "Arbeiterbewegung". Wie notwendig eine in der Gegenwart empirisch fundierte, aber auch theoretisch reflektierte neue Klassendebatte ist, die nicht nur Einzelaspekte zu thematisieren, sondern sich auch ihres Gegenstandes theoretisch zu versichern weiß, sollte spätestens seit der offenen Erklärung des "Krieges der Klassen" durch den US-Milliardär Warren Buffet allen emanzipatorisch engagierten WissenschaftlerInnen und gewerkschaftlichen AktivistInnen bewusst sein. Natürlich kann es nicht darum gehen, empirisch etwas aufgemöbelte alte Dogmen hervor zu holen, die keine andere Funktion haben, als ebenso alte Gewissheiten zu reproduzieren, statt von den aktuellen empirischen Entwicklungen ausgehend auch widersprüchliche Entwicklungen und zukünftige Tendenzen der Klassenentwicklung zu diskutieren.[4] Das setzt allerdings den Anschluss an die neueren internationalen Diskussionen voraus, wie sie etwa Hard/Negri über "die Immateriellen" ausgelöst hatten oder die Arbeiten Beverly Silvers im Kontext der Weltsystemtheorie. Auch der Versuch der Lissabonner Konferenz über "Strikes and social Conflicts" im Jahr 2011, eine Welt-Arbeitergeschichte anzustoßen, könnte ein Stimulus hierfür werden.

Seit den 1980er Jahren hat eine solche Klassen-Debatte in Deutschland nur noch in Rudimenten, an wenigen Instituten und Lehrstühlen überlebt. Deren Hauptakteure sind inzwischen allerdings zerstreut. So die Projekte an der Universität Hannover, wo bis zu seiner Emeritierung Michael Vester mit seinen MitarbeiterInnen an der theoretischen Begründung und empirischen Erforschung des Zusammenhangs von Klassen- und Milieubildung in Deutschland arbeitete. Worum es sowohl angesichts der Erfahrung dogmatisierter Klassendebatten in der Vergangenheit, als auch der Veränderungen des empirischen Zustands der "Welt der Arbeit" in einer solch neuen Klassendebatte gehen müsste, hatte Hans-Günter Thien, einer der wenigen "übrig gebliebenen" Einzelkämpfer zu diesem Thema, in jüngeren Publikationen als Aufgabe benannt. Er konstatiert, dass es nicht nur gelte, den notwendigen Zusammenhang von aktueller Kapitalismusanalyse und Klassenanalyse zu entwickeln , sondern vor allem auch die damit verbundene Einheit neuerlicher Formbestimmung und empirischer Analyse herzustellen. "Aufgabe einer Klassentheorie, die diese Bezeichnung zu Recht verdient," so Thien, "ist es deshalb, die Transformationen dieser Beziehungen und ihrer Implikationen für die Handlungen der beteiligten Gruppierungen und Individuen in ihrer empirischen Gestalt zur Kenntnis zu nehmen und als Momente des Prozesses kapitalistischer Produktion und Reproduktion zu entschlüsseln. Zentral dabei ist die Aufnahme der Klassenpraxis, d.h. der gesellschaftlichen Verkehrsformen von ArbeiterInnen und Arbeiterkulturen wie von EinzelkapitalistInnen und Kapitalistenklasse, schließlich auch ihrer vermittels des Staates erfolgenden Formierung zur herrschenden Klasse."[5] In diesen wenigen Sätzen hat Thien ein ganzes Forschungsprogramm für eine heute aus- und anstehende Klassendiskussion formuliert.

Um so bemerkenswerter ist es, dass gerade in den letzten Jahren von einem scheinbar ganz anderen Sektor der Forschung her – in der empirischen Untersuchung moderner Produktions- und Arbeitsprozesse ausgerechnet der neuen IT- und Kommunikationsbranche – von der "Rückkehr" des "Gegensatzes von Kapital und Arbeit" in die Welt der modernen immateriellen Arbeit die Rede ist. Gerade jener Zweig der Produktion galt Jahre lang als Beleg für die Aufhebung dieses Gegensatzes durch "kreative Selbständigkeit". Dass solche Ergebnisse nur möglich waren, weil sie methodisch dezidiert nach den durch Herrschaft gestalteten, also kapitalgeprägten Formen und Methoden dieser modernen Arbeit fragten, entspricht eben jenem Ansinnen, welches Thien formuliert hatte.[6]

Neuansatz der Analyse des "Gesamtarbeiters"

Um so erstaunlicher und befremdlicher ist es, dass trotz der neueren Diskussionen über "immaterielle Arbeit" sowie solch neuer, für die Klassendiskussion relevanter empirischer Ergebnisse, das Buch von Renate Hürtgen "Angestellt im VEB. Loyalitäten, Machtressourcen und soziale Lagen der Industrieangestellten in der DDR", in dem mit Hilfe einer nach der Herrschaftsform fragenden Methodik die soziale Analyse eines Segmentes des gesellschaftlichen, hier: des betrieblichen Gesamtarbeiters vorgenommen wird, nicht als Teil eines solchen notwendigen neuen Ansatzes einer Klassenanalyse wahrgenommen wird. Das Desinteresse sowohl in der akademischen Zunft als auch in den linken Theorie-Zirkeln ist umso auffallender, als dieses Buch das bisher erste überhaupt ist, welches sich mit den "Industrieangestellten der DDR" in Gänze beschäftigt. Immerhin waren die Angestellten über Jahrzehnte hinweg ein Gegenstand von zentraler Bedeutung für die Untersuchung von gesellschaftlichen und sozialstrukturellen Modernisierungsprozessen in der Bundesrepublik – und sind es gerade in aktuellen Strategie-Debatten der IGM wieder.

Es soll hier nicht lange spekuliert werden, woher das Desinteresse an dieser wie an anderen Arbeiten der sozialgeschichtlich orientierten Forschung zur DDR, darunter auch jenen zur Arbeiterschaft rührt.[7] Wahrscheinlich sind sie in der Schublade der "DDR- und Kommunismusforschung" vergraben worden. Zu vermuten ist wohl, dass diese Ignoranz gegenüber den Ergebnissen der sozialgeschichtlichen DDR-Forschung im Fehlen der eingangs beklagten modernen "Klassendiskussion" begründet liegt: Das Braten im eigenen empiristischen Themensaft lässt gerade den Zusammenhang der heutigen Herrschaftsform und ihrer sie konfliktorisch realisierenden gesellschaftlichen Akteure mit jenen in der DDR nicht erkennen. Dabei hat das Buch von Hürtgen allein durch seine unter dem Gesichtspunkt der möglichen Kompatibilität mit der DDR erfolgten Auseinandersetzung mit dem Forschungsstand zu den Angestellten in der Bundesrepublik einen auch aktuell wichtigen Erkenntniswert. Das Besondere dieses Buches ist aber zweifellos, dass die Autorin ihren Gegenstand, die Angestellten, eben mit jenen methodischen Fragestellungen empirisch untersucht, die auf die Herrschafts- und Klassenproblematik zielt, ohne dass die Antwort bereits von vornherein feststeht. Also gerade jene Methodik praktiziert, die Thien für die Gegenwart einfordert.

Wer hatte die Macht im VEB?

Zum ersten Mal beschäftigt sich eine Historikerin mit den GehaltsempfängerInnen in der Industrie über den gesamten Zeitraum von SBZ und DDR hinweg. Die Besonderheit ihres Ansatzes ist, dass sie sich nicht auf einen Teil der Angestellten beschränkt, sondern deren Zusammensetzung vom Generaldirektor eines Kombinates bis zur angelernten Bürofrau und deren Funktionen im betrieblichen Ablauf analysiert. Sie hat deren finanzielle Lage und sonstige Arbeitssituation rekonstruiert und die soziologischen Befunde ihrer Entwicklung seit 1945 aufgezeigt. Damit ist der Text nicht nur wegen der vielen bisher unbekannten Fakten ein Novum in der Zeitgeschichte.

Renate Hürtgen setzt sich auch mit der westdeutschen Angestelltenforschung kritisch auseinander. Eine Erklärung für die Ignoranz des akademischen Betriebs gegenüber diesem Buch könnte darin liegen, dass in der zeitgenössischen Soziologie und Geschichte, und gerade auch in der sozialdemokratisch und gewerkschaftlich orientierten, für längere Zeit das Bild vom "herrschaftsfreien Betrieb" dominierte. Das, was als betriebliche Co-Managementpraxis bekannt ist, kam so etwas zeitversetzt in der These von der "Herrschaft, die an den Fabriktoren endet", in der Wissenschaft an (vgl. Hürtgen, S. 21–31). Und die TotalitarismusforscherInnen, auf die politische Unterdrückung im engeren Sinne fokussiert, interessierten und interessieren sich ohnehin nicht für ökonomische Verhältnisse, auch nicht die in der DDR.

Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die Entstehung des Buches. Als das Manuskript vorlag, wurde es vom Direktor eines zeithistorischen Instituts abgelehnt. Ein Buch, welches Machtstrukturen und Akteure der Herrschaft im Betrieb zum Gegenstand hat, gehört eben nicht in eine Sozialwissenschaft, die seit den 1990er Jahren dynamisch fortsetzt, was bereits seit den 1980er Jahren begann, indem sie eine Auffassung von Gesellschaft etablierte, die keine Klassen, sondern nur sozialstrukturelle Unübersichtlichkeiten kennt und unter Herrschaft die Abhängigkeitsbeziehung zwischen Menschen versteht.

Umso erstaunlicher ist es, dass auch die linke, sich durchaus vom Mainstream unterscheidende Wissenschaft und Publizistik sich für ein solches Buch nicht interessiert. Knüpft die Autorin doch im gewissen Sinne an die am Ende der 1970er Jahre abgebrochene Diskussion über die sozialstrukturellen Veränderungen in der "Zusammensetzung der Lohnarbeiterschaft" an, und bietet Anregungen dafür, wie sich dem alten Thema der Klassenstruktur in der Industrie auf neue Weise genähert werden kann.

In ihrer Einleitung behandelt Hürtgen ausführlich die westdeutsche historische und soziologische Angestelltenforschung, die sich seit Ende der 1960er Jahre zu einem eigenen Forschungszweig zu etablieren begann (S. 10–20). Die dort geführten Debatten waren ein theoretischer Reflex auch auf die Zunahme von "geistigen Anteilen an der Arbeit", auf die Entstehung eines neuen Typs von LohnarbeiterInnen, bei gleichzeitigem Anstieg der Angestelltenzahlen. Hürtgen dokumentiert, dass sich mit zeitlicher Verzögerung dieselben Veränderungen in der Industrie der DDR vollzogen; auch hier betrug der Anteil von GehaltsempfängerInnen unter den Beschäftigten in den 1980er Jahren in einigen Branchen über 50 Prozent aller abhängig Beschäftigten (S. 53–63).

Eine Diskussion, die diese Veränderungen begleitet hätte, gab es in der DDR jedoch nicht. In einem längeren Abschnitt über die Rolle der Soziologie in der frühen DDR verdeutlicht die Autorin zwei entscheidende Gründe dafür, warum die DDR-Ideologen keinerlei Interesse daran hatten, die Situation von Angestellten überhaupt zu thematisieren. Zum einen war die besondere Hochschätzung des auch "bewusstseinsmäßig" den Angestellten "überlegenen" Produktionsarbeiters Staatsdoktrin. Die stetige Zunahme von Angestellten in der Industrie vertrug sich nicht mit diesem Verständnis. (In diesem Zusammenhang behandelt die Autorin auch den kaum bekannten Versuch, schon in der SBZ eine Angestelltengewerkschaft zu gründen). Zum anderen hätte ein offener Umgang auch mit dieser Beschäftigtengruppe zutage gebracht, dass die DDR eine Gesellschaft von Herrschaft, gesellschaftlicher Hierarchie und Segmentierung der sozialen Gruppen war. Die Gruppe der Angestellten bestand nämlich auch in der DDR nicht nur aus jenem Typus von GehaltsempfängerInnen, der sich zwar deutlich von den ProduktionsarbeiterInnen unterschied, jedoch seinen Status als abhängig Beschäftigte beibehielt. Auch in der DDR gab es eine Reihe von Angestellten, die in leitenden Funktionen tätig waren, von denen wiederum ein Teil direkte Unternehmensfunktionen ausübten. Kombinatsdirektoren, Betriebsleiter (Frauen gab es in dieser Funktion kaum) und – für die DDR-Gesellschaft charakteristisch – betriebliche Funktionäre der Partei und sogenannter Massenorganisationen stellten das Personal, um die Macht- und Herrschaftsverhältnisse im Betrieb zu sichern. Was sie verdienten und wie sie lebten, wurde in der DDR tabuisiert; keine soziologische Erhebung hat das je untersuchen dürfen. Mit dem Begriff des "Werktätigen", der die Mitglieder des Politbüros wie alle höheren FunktionärInnen einschloss, wurden nicht nur soziale Differenzierungen, sondern auch die asymmetrischen Machtverhältnisse verschleiert.[8]

"Abzeichenlinie" ersetzt "Kragenlinie"

Renate Hürtgen beschreibt die Differenzierungen innerhalb der Angestellten, zeichnet die Gruppe der Industrieangestellten insgesamt ebenso wie die "feinen Unterschiede" nach, die sie auch in der DDR von den LohnempfängerInnen unterschieden. Das Verhältnis zwischen beiden Beschäftigtengruppen war – ähnlich wie im Westen – von zahlreichen Klischees geprägt, von unzulässigen Allgemeinplätzen, von gegenseitigen Negativkonnotationen. Das "Bild vom Angestellten" in der DDR-Industrie umreißt die Autorin mit den Begriffen "Wasserkopf" und "Faultierhaus"; sie seien als angepasste "rote Socken" und "Kaffee trinkende Nichtstuer" von den ArbeiterInnen wahrgenommen worden (S. 197–229). Das verweist auf eine eher spannungsreiche Beziehung zwischen Büro und Produktion, die allerdings anders aussah als das distanzierte Verhalten der Angestellten gegenüber den LohnarbeiterInnen in Westunternehmen. Die "Kragenlinie" verlief im VEB nicht zuvörderst entlang der finanziellen, kulturellen und habituellen Unterschiede. Sie wurde in der DDR durch die "Abzeichenlinie" ersetzt. Das entscheidende Merkmal der Zugehörigkeit zu "denen da oben" war die Zugehörigkeit zur staatstragenden Partei, der SED, wie Hürtgen empirisch fundiert nachweisen kann. Da diese unter den Angestellten verbreitet war und so gut wie alle LeiterInnen in der Industrie erfasste, prägten Ressentiments das Verhältnis der Beschäftigten in der Produktion zu denen in der Verwaltung: Es seien "staatsloyale Angestellte gewesen, parteitreue Gehaltsempfänger, die unfähig waren, die Wirtschaft ordentlich zu lenken und zu leiten". Derartige Pauschalisierungen hatten allerdings, wie Hürtgen nachweisen kann, durchaus einen realen Grund. So finden sich unter den Angestellten tatsächlich nicht nur die meisten SED-Mitglieder, ehrenamtlichen Funktionäre und auch inoffiziellen Mitarbeiter der Staatssicherheit. Angestellte verhielten sich auch in der DDR politisch konformer und leisteten so gut wie keinen Widerstand gegen die Zumutungen der Betriebsleitungen. Und trotz des für große Teile der Angestellten in der DDR typisch niedrigen Gehalts genossen sie aus Sicht der ProduktionsarbeiterInnen einige Privilegien (S. 64–84). Da aber hören die Gemeinsamkeiten in der Gruppe der GehaltsempfängerInnen schon auf; denn auch in der DDR waren die Unterschiede zwischen der Büroangestellten und dem Generaldirektor in jeder Hinsicht größer, als deren gemeinsamer Sitz im Verwaltungsgebäude vermuten ließ.

In Hürtgens Buch werden drei Gruppen von Angestellten in der Industrie ausgemacht: Die "herrschende Funktionselite", die "ohnmächtige Funktionselite" und die sogenannten einfachen Angestellten. Letztere waren vor allem gering bezahlte Frauen, die in den Büros der Betriebe technische und Verwaltungstätigkeiten ausübten. Sie stellten die Mehrzahl der Industrieangestellten in der DDR, spielten jedoch in der offiziellen Propaganda von Staat und Partei keine Rolle. Ein Kapitel des Buches widmet die Autorin der Arbeitssituation und dem Selbstverständnis dieser Angestelltengruppe. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass das "Frauenleben" Ost dem im Westen trotz einiger Unterschiede erstaunlich ähnlich war. Sie kann hier u.a. auf Ergebnisse einer interessanten Arbeit von DDR-SoziologInnen zurückgreifen, die allerdings mit dem Stempel "Nur für den Dienstgebrauch" versehen, unveröffentlicht blieb[9].

Die Gruppe der hochqualifizierten Angestellten in der Industrie der DDR unterscheidet die Autorin danach, ob sie als "einfache" IngenieurInnen und TechnikerInnen arbeiteten oder ob sie qua Funktion in die betriebliche Leitung des VEB aufgestiegen waren. Da dieser Aufstieg seit Ende der 1960er Jahre in der Regel mit einer Zugehörigkeit zur SED verbunden gewesen war, ließen sich deutlich zwei Gruppen ausmachen, die die Autorin auch als zwei unterschiedliche Milieus charakterisiert. So gab es nach Renate Hürtgen die "herrschende Funktionselite" der betrieblichen Leiter und Funktionäre und eine "ohnmächtige Funktionselite" der parteilosen akademischen Fachleute in der Forschung, Entwicklung, Instandhaltung oder in der Produktionskontrolle des Betriebes. Die Ohnmacht dieser zweiten Gruppe rührte daher, dass sie nicht zu der die Herrschaft in der DDR ausübenden Partei gehörten, die auch im Betrieb die alleinige Verfügungsmacht und Kontrolle über "Mensch und Maschine" hatte. Sie waren aus dem Kreis der über die betrieblichen Vorgänge Informierten ausgeschlossen, konnten ihr Fachwissen nicht im westlichen Ausland erwerben, erhielten keine leitenden Funktionen und waren trotz gleicher oder höherer Qualifikation finanziell und materiell deutlich schlechter gestellt. Eben weil sie keine Parteimitglieder waren. Interessanterweise gehörte ein Teil dieser parteilosen betrieblichen Intelligenz 1989 zu den Akteuren einer betrieblichen Wende, wie Hürtgen recherchiert hat.

Unter der "herrschenden Funktionselite" versteht Hürtgen jenen Personenkreis, der im DDR-Betrieb die Entscheidungs- und Definitionsmacht über die Organisation der Produktion, über Arbeitsbedingungen und Löhne ausübte, jene Akteure, die die innerbetriebliche Herrschaft als Befehls- und Gehorsamsverhältnis personifizierten.[10] Angesichts einer übermächtigen Zentrale waren deren Zuständigkeiten häufig eingeschränkt, was jedoch nichts an ihrer Stellung im Betrieb änderte. Mit der konkreten Beschreibung dieses Personenkreises, seiner Funktionsweise im Betrieb, seiner Freizeit- und Geschlechterbeziehungen, seines Verhältnisses zu der "ohnmächtigen Funktionselite" gelingt es der Autorin, das Abstraktum "Parteiherrschaft im Betrieb" begreifbar zu machen.

Interessanterweise war die für die 1970er und 1980er Jahre typische Personalunion von betrieblichem Leiter und SED-Mitgliedschaft nicht von Anfang an gegeben. Zunächst standen sich fachliche und parteiliche Kommandogewalt im Betrieb getrennt gegenüber: in Person der alten und etwas später auch der neuen akademische Intelligenz und eines Vertreters der Partei, welcher einige Mühe hatte, seine Betriebsleiter auf "Planwirtschaftslinie" zu bringen. Die Politisierung der Fachleute einerseits und die fachliche Ausbildung der Parteisekretäre andererseits veränderten die Situation gründlich: Nunmehr hatten es die Beschäftigten mit einem betrieblichen Leiter zu tun, der den Weisungen der Partei unterstellt war, welche die eigentliche Macht auch im Betrieb in der DDR ausübte. Das war eine durchaus effektive, viele Reibungsverluste vermeidende, Herrschaftspraxis. Auf diese Weise erfahren wir etwas über die "Modernisierung in den Grenzen der DDR-Diktatur" (S. 254–258) und zugleich etwas über Macht- und Herrschaftsverhältnisse in einem VEB.

Auch unter Linken ist es bisher kaum verbreitet, die DDR bzw. die Gesellschaften des "Ostblocks" sowohl in die Problematik moderner Industrieentwicklung einzuordnen, als auch deren soziale Strukturiertheit mit Hilfe der Kategorien von Macht- und Herrschaftsbeziehungen zu begreifen. Für beide Aspekte bietet "Angestellt im VEB" zahlreiche Anregungen. Man kann die in Renate Hürtgens Buch vertretenen Thesen zurückweisen, sie kritisieren oder auch weiterdenken – ignorieren sollte man sie jedoch nicht. Gerade dann, wenn man nicht nur eine Antwort auf die Frage sucht, "wie sozialistisch war der 'real existierende Sozialismus’?". Vor allem sollten sich alle, die sich für eine methodisch-begrifflich konzipierte empirische Untersuchung der aktuellen Strukturzusammenhänge von gesellschaftlichen Gruppenbildungsprozessen und Herrschaftsverhältnissen interessieren, Hürtgens Buch anschauen. Womit wir wieder bei der notwendigen Klassenanalyse der Gegenwart wären. Deren methodische Zugänge zur Empirie müssen eben neu diskutiert werden. Das macht das Buch von Renate Hürtgen so wichtig – für das Verständnis von Vergangenheit wie von Gegenwart.

Der Artikel ist zuerst erschienen in: Bernd Gehrke: »Einträge ins Klassenbuch. Von der Notwendigkeit einer neuen Klassendebatte und von den Angestellten im VEB«, über Renate Hürtgen: »Angestellt im VEB. Loyalitäten, Machtressourcen und soziale Lage der Industrieangestellten in der DDR« Express (Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit), Heft 6/2013, S. 6–8.

Anmerkungen

[1] Siehe exemplarisch den von Robert Castel und Claus Offe herausgegebenen Tagungsband "Prekarität, Abstieg, Ausgrenzung. Die soziale Frage am Beginn des 21. Jahrhunderts", Frankfurt/Main 2009.

[2] Vgl. Durch Nacht zum Licht. Geschichte der Arbeiterbewegung 1863-2013. Große Landesausstellung Baden-Württemberg, Technoseum Mannheim

[3] Vgl. Peter Birke: "Wilde Streiks im Wirtschaftswunder – Arbeitskämpfe, Gewerkschaften und soziale Bewegungen in der Bundesrepublik und Dänemark", Frankfurt/Main 2007; Ralf Hoffrogge mit mehreren Titeln zu Richard Müller und seinem Rätesystem, siehe ders.: "Sozialismus und Arbeiterbewegung in Deutschland. Von den Anfangen bis 1914", Stuttgart 2011; Stefan Heinz: "Moskaus Söldner? Der 'Einheitsverband der Metallarbeiter Berlins'. Entwicklung und Scheitern einer kommunistischen Gewerkschaft", Hamburg 2010; Jan Ole Arps: "Frühschicht. Linke Fabrikintervention in den 70er Jahren", Berlin/Hamburg 2011

[4] Dass eine solche Art der Klassendiskussion immer noch existiert, die sich vor allem ihrer Gewissheiten zu versichern sucht und in leicht modifizierter Gestalt auch vor Jahrzehnten hätte veröffentlicht worden sein können, zeigt der von Ekkehard Lieberam und Klaus Miehe veröffentlichte Band "Arbeitende Klasse in Deutschland. Macht und Ohnmacht der Lohnarbeiter", Bonn 2011. Trotz einiger interessanter Statistiken scheint der Band vor allem die Funktion zu erfüllen, sich zu vergewissern, dass "Die Klasse lebt!". Und wie damals geht es darum zu zeigen, dass es sie gibt und weshalb ihr "Bewusstsein" nicht ihrem "Sein" folgt.

[5] Hans-Günter Thien (Hg.): "Klassen im Postfordismus", Münster 2010, S. 16; ders.: "Die verlorene Klasse.

ArbeiterInnen in Deutschland", Münster 2010, Einleitung, S. 7-16

[6] Vgl. zusammenfassend: Andreas Boes/Tobias Kämpf: "Zeitenwende im Büro", in: GEGENBLENDE. Das gewerkschaftliche debattenmagazin, 19. April 2012; www.gegenblende.de

[7] Vgl. exemplarisch die Literaturangaben in: Peter Hübner/Christoph Kleßmann/Klaus Tenfelde: "Arbeiter im Staatssozialismus. Ideologischer Anspruch und Wirklichkeit", Köln-Weimar-Wien 2005 oder Christoph Kleßmann: "Arbeiter im Arbeiterstaat DDR" (1945 – 1971), Bonn 2007

[8] Als die westdeutsche Angestelltenforschung noch in den Kinderschuhen steckte, ging übrigens auch sie selbstverständlich davon aus, dass ein Teil der Angestellten zur herrschenden Klasse gehört.

[9] Das betrifft folgende soziologische Studie, die nur als parteiinternes Material veröffentlicht wurde und zu der nur ausgewählte SED-Mitglieder in der Soziologie Zugang hatten. 1977 wurde sie erneut als vertrauliches parteiinternes Material in gekürzter Fassung publiziert:
Autorenkollektiv, Über die soziale Struktur der Arbeiterklasse. Ergebnisse einer repräsentativen soziologischen Untersuchung in der zentralgeleiteten sozialistischen Industrie der DDR, Teil I-III: Arbeits- und Lebensbedingungen der Werktätigen in ihrem Zusammenhang mit der sozialen Struktur der Arbeiterklasse, Gemeinschaftsarbeit der Fachrichtung Sozialstruktur des Lehrstuhls Marxistisch-Leninistische Soziologie im Institut für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED, der Abteilung Soziologe im Zentralinstitut für Philosophie der Akademie der Wissenschaften der DDR sowie des Wissensbereich Soziologie der Technischen Hochschule Karl-Marx-Stadt, Berlin 1974.
Ebenfalls hervorzuheben ist die Dissertation von Estrid Binder über Industrieangestellte, die sich zum Teil auf die o.g. Studie von 1974 bezieht, die aber auch eigene empirische Untersuchungen vorgenommen hatte. Auch ihre Arbeit blieb unveröffentlicht.
Vgl. Binder, Estrid, Das Verhältnis zur Arbeit bei nichtleitenden Angestellten im sozialistischen Industriebetrieb, Diss. A, eingereicht an der Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät des Wissenschaftlichen Rates der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg über die Sektion Wirtschaftswissenschaften, vorgelegt im Juli 1985 von Diplomsoziologin Estrid Binder.

[10] Hürtgen bezieht sich hier auf Welskopp: "Ein modernes Klassenkonzept", der diese Bestimmungen für westliche Industrien getroffen hat. Vgl. Hürtgen, S. 30.

Zur normalen Fassung


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sopos 7/2013