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Transformation liberaler Demokratie

Dekolonisierungsversuche in Bolivien

von Tanja Ernst

Das liberal-repräsentative Demokratiemodell trat seinen weltweiten Siegeszug mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges an. Doch erst mit dem Zusammenbruch der staatssozialistischen Systeme in Osteuropa und dem Ende ideologischer Blockbildung nahm es die Gestalt eines expliziten Leitbildes an, das sich global als normativer und empirischer Bewertungsmaßstab für die neuen oder noch jungen Demokratien durchsetzte. Folglich waren Weg und Ziel demokratischer Transitionsprozesse in den Staaten der Peripherie nie offen.[1] Der vorliegende Beitrag unterzieht liberal-demokratische Grundannahmen einer kritischen Prüfung. Am Beispiel Bolivien wird exemplarisch illustriert, dass in anderen gesellschaftlichen Kontexten berechtigte Zweifel sowohl an der Funktionsfähigkeit, als auch der Legitimation liberaler Demokratie bestehen. Eine ernst gemeinte Dekolonisierung erfordert somit auch die Dekolonisierung der Demokratie in Theorie und Praxis.

Soziale Ungleichheit und Demokratie

Liberale Demokratietheoretiker_innen gehen implizit oder explizit davon aus, dass freie Wahlen und offener Wettbewerb die Politik unter innergesellschaftlichen Legitimationsdruck setzen beziehungsweise die Interessen der Mehrheit Berücksichtigung finden und die soziale Gleichheit sich schrittweise erhöht.[2]

Empirisch betrachtet entzieht sich (nicht nur) das Beispiel Lateinamerika dieser Grundannahme liberal-demokratischer Reflexion. Der Subkontinent vereint eine im Kontext der ehemaligen Zweiten und Dritten Welt einmalige Erfolgsgeschichte demokratischer Entwicklung mit einem nicht minder beeindruckenden Spitzenplatz in der globalen Statistik sozialer Ungleichheit.[3] Große Teile der Bevölkerung (oft sogar die Mehrheit) bleiben trotz formaler Gleichheit politisch, gesellschaftlich und ökonomisch ausgeschlossen.[4] Die Persistenz der eklatanten Ungleichheitsverhältnisse seit der mehr als drei Jahrzehnte währenden Re-Demokratisierungsphase zeigt, wie stark die Interessen einer privilegierten Minderheit und ungleiche Besitzverhältnisse die Spielregeln der politischen Sphäre und die wesentlichen Richtungsentscheidungen innerhalb der lateinamerikanischen Gesellschaften prägen. Wie groß die Diskrepanz zwischen formaler Gleichstellung, dem Fortwirken sozioökonomischer Benachteiligung und asymmetrischer Machtverhältnisse auch unter demokratischen Vorzeichen bleibt, soll hier nur exemplarisch am Beispiel des Wahlrechtes verdeutlicht werden. Letzteres wird allgemein als verlässlichstes Instrument betrachtet, wenn es darum geht, weitgehend unabhängig von der sozialen Lage eine annähernd gleichberechtigte politische Entscheidungsbeteiligung gewährleisten zu können.[5] Die Frage, warum es in Bolivien - wo die Mehrheit bis heute arm und indigen ist - mit der Wahl Evo Morales erst 30 Jahre nach der Wiedereinführung der Demokratie zu einem tief greifenden Politik- beziehungsweise Machtwechsel kam, ist aus liberal-demokratischer Perspektive nicht leicht zu beantworten. Die faktische Einführung des universellen Wahlrechtes - im Falle Boliviens bereits 1952 - war und ist eben nicht gleichbedeutend damit, dass alle dieses Recht auch gleichermaßen in Anspruch nehmen können. Erkenntnisse der politischen Partizipationsforschung und Länderstudien zur Wahlbeteiligung verweisen neben sozioökonomischen und Bildungsbarrieren darauf, dass die Betreffenden Kenntnisse über ihre Rechte und das Funktionieren des politischen Systems haben müssen.[6] Wer wählen will, muss in der Regel eine Geburtsurkunde besitzen, um weitere offizielle Dokumente beantragen zu können und sich ins Wahlregister einschreiben zu lassen. Die Beschaffung dieser Ausweisdokumente ist - vor allem in abgelegenen Regionen - häufig mit einem hohen Zeit- und Kostenaufwand und viel Bürokratie verbunden. Personen, die nicht lesen oder schreiben können, der Amtssprache nicht mächtig sind oder bereits schlechte Erfahrungen mit dem oft diskriminierenden Umgang der Behörden gemacht haben, wägen ab, ob sich der Aufwand für sie lohnt. In Bolivien lag die Wahlbeteiligung 1982 - zu Beginn der demokratischen Transition - bei 65% und pendelte sich zwischen 1989 und 1997 - trotz Wahlpflicht - im Durchschnitt bei 54% ein.[7] Aus den Daten der Volkszählung von 1992 wird ersichtlich, dass in den ländlichen Regionen Boliviens nur 52.8% der Männer und lediglich 37.8% der Frauen die notwendigen Papiere besaßen, die zur Wahlregistrierung berechtigten.[8] Hinzu kam das Problem, dass sich gerade indigene Wähler_innen durch die traditionellen Parteien und ihre Programme häufig nicht vertreten fühlten. So ging die Wahlbeteiligung zwischen 1985 und 1997 vor allem in mehrheitlich von Indigenen bewohnten Wahlkreisen zurück: Nur rund 40% der Wahlberechtigten machten hier im Durchschnitt von ihrem Stimmrecht aktiven Gebrauch.[9]

Und schließlich sind auch die konkrete Ausgestaltung des Wahlrechtes als Mehrheits- oder Verhältniswahlrecht, die genaue Zuschneidung der Wahlkreise und weitere institutionelle Designs entscheidend. Diese wurden nicht von subalternen Gruppen oder in ihrem Interesse entwickelt, beeinflussen aber, wie die abgegebenen Stimmen nach der Wahl tatsächlich gezählt und gewichtet werden.[10]

So illustriert das Beispiel der lateinamerikanischen Re-Demokratisierungsprozesse, dass die Orientierung am Allgemeinwohl oder der Mehrheit in sozial stark polarisierten Gesellschaften für politische Mandatsträger_innen keineswegs rational oder opportun erscheint. Schließlich verfügt die Mehrheit nicht über die notwendigen Ressourcen, den Zugang und ausreichenden Einfluss, um spürbaren Druck auszuüben. Demgegenüber kann die Missachtung vitaler Interessen ökonomisch potenter Bevölkerungsgruppen schnell zur politischen Selbstentmachtung führen. Hinzu kommt, dass sich die systematische Aushöhlung demokratischer Prinzipien in Lateinamerika zur Vorbedingung eines von den Eliten gestützten Transitionsprozesses entwickelte. Ohne den Widerstand derjenigen, die im Untergrund gegen die lateinamerikanischen Militärdiktaturen kämpften, schmälern zu wollen » […] ergab sich die (Wieder)Einführung der Demokratie in den meisten Ländern aus paktierten Zugeständnissen derer, die vorher an der Macht waren und an ihr beteiligt bleiben wollten.«[11] In der Folge wurden demokratische Aushandlungsprozesse durch technokratische Expertise und elitäre Führungszirkel ersetzt, welche die Durchsetzung des neoliberalen Paradigmas und damit zentrale polit-ökonomische Richtungsentscheidungen jeglicher Form der parlamentarischen Mitsprache oder Kontrolle und öffentlichen Meinungsbildung entzogen. Hinzu kam die systematische Demobilisierung kritischer gesellschaftlicher Kräfte. Die geringe Durchlässigkeit des politischen Systems sicherte zudem die schwache Vertretung von Mehrheitsinteressen beziehungsweise die starke Rolle der traditionellen Parteien, in denen die soziale Herkunft der Mandatsträger_innen die enge Bindung zwischen Politik und Privilegierten fortsetzte.[12] Trotz fairer und freier Wahlen und erweiterter politischer Freiheiten beschränkte auch die fehlende materielle Basis die Teilhabe großer Teile der Bevölkerung. Folglich wurde und wird die Funktionslogik von Mehrheitsentscheidungen durch tiefer liegende Herrschafts- und Besitzstrukturen unterhöhlt. Die Erkenntnis, dass materielle Aspekte wie Einkommensarmut und Existenznot sowie ökonomische Abhängigkeiten die Artikulation und Vertretung demokratischer Rechte substanziell begrenzen, ist keineswegs neu.[13] Sie sollte innerhalb der liberalen Demokratietheorie (an)erkannt und theoretisch-konzeptionell entsprechend reflektiert werden. Das Festhalten an formaler Gleichheit ohne die (Wechsel)Wirkungen von multiplen Ungleichheiten und die sich dadurch (re)produzierenden Herrschaftsverhältnisse in den Blick zu nehmen, bedeutet, undemokratische Prozedere sowie gesellschaftliche Asymmetrien zu legitimieren und zu stabilisieren.

Dazu passt auch, dass der demokratietheoretische Mainstream Armut und sozialer Ungleichheit in jüngster Vergangenheit wieder mehr Aufmerksamkeit schenkt, dabei aber lediglich politische Destabilisierungseffekte und Nachteile für die Volkswirtschaft im Blick hat.[14] So scheint es in den Hauptströmungen der Debatten weiter kaum Interesse zu geben die demokratischen Folgen sozialer Ungleichheit und polit-ökonomischen Bedingungen von gesellschaftlicher Teilhabe ernsthaft zu reflektieren. Gleichzeitig herrscht eine schon fast reflexartige Ablehnung gegenüber allen demokratischen Alternativen vor, die versuchen neue Pfade jenseits des liberal-repräsentativen Erfahrungshorizontes zu beschreiten.

Postkoloniale Kritik einer globalen Blaupause

Historisch und ideengeschichtlich entstammt der Begriff der Herrschaft des Volkes der griechischen Polis. Die Tatsache, dass indigene Gruppen und andere Kulturen sich positiv auf den westlich geprägten Demokratiebegriff beziehen und Demokratie aktiv einfordern, illustriert zwei Dinge: zum einen pochen die nach wie vor Ausgeschlossenen auf grundlegende Rechte beziehungsweise fordern die Einlösung des universalen Versprechens von Freiheit, Gleichheit und egalitärer Teilhabe; zum anderen zeigt sich hier die Deutungshoheit des eurozentristischen Diskurses. Wer gehört werden will, kommt nicht umhin die Begriffe und Spielregeln der dominanten Kultur und die entsprechenden Diskurse zu beherrschen. Diesem strukturellen Zwang können sich die Subalternen nicht entziehen.[15] Trotzdem wäre es unzutreffend diesen Zwang ausschließlich als Vereinnahmung und Einhegung indigener Forderungen zu interpretieren. Denn mit der Betonung eigener demokratischer Praxen stellen indigene Gruppen die Hegemonie liberaler Demokratie gleichzeitig in Frage und präsentieren traditionsverbundene Organisations- und Entscheidungsstrukturen als demokratischere Alternative.

So erklärt sich der weltweite Siegeszug der liberalen Demokratie keineswegs aus ihrer funktionalen Überlegenheit, sondern ist ein Ausdruck der global existenten Machtasymmetrien und konkreter ökonomischer und politischer Interessen des „Westens über den Rest“.[16] Ideologisch gründet der Universalitätsanspruch zudem auf der Vorstellung, dass liberale Demokratie das evolutionistisch-rationale Endprodukt der menschlichen Zivilisationsgeschichte insgesamt sei. Ignoriert wird dabei, dass es die gewaltsamen kolonialen Eroberungen und die imperiale Politik der kapitalistischen Industriestaaten waren, die den Grundstein für diese Hegemonie legten, welche erkenntnistheoretisch und ideengeschichtlich keineswegs ausschließlich, aber doch maßgeblich durch griechisch-römische sowie christlich-abendländische Denktraditionen dominiert wurde.[17] Für lateinamerikanische Intellektuelle wie Aníbal Quijano ist diese bis heute aufrecht erhaltene Dominanz ein Ausdruck der Kolonialität der Macht[18], für Enrique Dussel bedeutet sie das Verleugnen der Transmodernität und für Walter Mignolo zeigt sich hierin die Geopolitik des Wissens. Quijanos Konzept der Kolonialität der Macht zielt darauf, dass sich die koloniale Machtausübung nicht auf die offensichtlichen Zwangsakte und die direkte ökonomische, politische sowie militärische Unterwerfung der ehemaligen Kolonien beschränken lasse, sondern auch auf kognitiver, erkenntnistheoretischer und ideologischer Ebene gewirkt habe und weiter wirke. Er streicht heraus, dass die Idee der Rasse, die hierarchische Klassifizierung der eroberten Bevölkerungen entlang von kulturellen und rassistisch-phänomenologischen Zuschreibungen zentral war, um den brutalen Akt der Kolonisierung zu legitimieren sowie die innergesellschaftlichen Machthierarchien und die asymmetrischen Beziehungen zwischen Zentren und Peripherien festzuschreiben. Damit aber sei der Kolonialismus nicht als bedauerliche Begleiterscheinung von Moderne und Kapitalismus zu verstehen, sondern war konstitutiv, um die internationale Arbeitsteilung, die weltweite Sicherung der kapitalistischen Akkumulation und die moralisch-ideologische Überlegenheit der europäischen Moderne und ihrem Entwicklungs- und Zivilisationsverständnis durchzusetzen.[19]

Enrique Dussel bestreitet mit seinem Konzept der Transmoderne zudem das kulturelle und erkenntnistheoretische Monopol der einen dominanten Moderne und übte früh Kritik am universalistischen Anspruch der europäischen Philosophie der Vernunft. Dussel begreift die Entstehung der Moderne als einen weltumspannenden Prozess. Zu diesem hätten die ausgeschlossenen Barbaren beigetragen, auch wenn ihr Beitrag als solcher nicht anerkannt werde.[20] Aus Sicht der postcolonial studies führte der von Europa ausgehende Siegeszug der kapitalistischen Ökonomie und die Grenzziehungen zwischen moderner und kolonialer Welt, nicht dazu, die strukturell heterogene Welt, die Vielfalt lokal und regional existenter Realitäten einfach auszulöschen. Doch wurden die lokalen und regionalen gesellschaftlichen Entwicklungen ab einem gewissen Punkt mit der Geschichte des Westens verschränkt sowie der dominanten europäischen Geschichtsschreibung semantisch einverleibt und somit weitgehend unsichtbar gemacht.[21] Mignolo und andere postkoloniale Autor_innen bezeichnen das als Geopolitik des Wissens und fordern dazu auf, die abendländischen Denktraditionen über Grenzdenken beziehungsweise epistemologische Grenzgänge zu demaskieren und aufzubrechen.

Demokratie und kulturelle Differenz

Festzuhalten bleibt, dass andere Kulturen und Weltregionen eine eigene Geschichte sozialer Organisations-, Herrschafts- und Entscheidungsstrukturen haben, die sich mit dem Begriff demokratisch umschreiben lassen.[22] Selbst der liberale Demokratietheoretiker Robert Dahl bezeichnet Demokratie als eine der ältesten Formen gesellschaftlicher Selbstorganisation.[23] So hätte Führerschaft in segmentierten Gesellschaften wie Jäger- und Sammlergruppen des Konsenses bedurft und Entscheidungen seien vorwiegend über gemeinsame Diskussionsprozesse hergestellt worden. Anthropologische Untersuchungen ergänzen, dass diese demokratischen Ursprungsformen im Kern auf der Abwesenheit sozialer Ungleichheiten beziehungsweise dem Faktor der politischen Gleichheit, der begrenzten Größe der Gemeinschaften, der zentralen Rolle von Familie und Verwandtschaftsnetzen und auf dem weitgehend gleichen Zugang zu Ressourcen, Land, Technik und Werkzeugen basier(t)en.[24] Im Unterschied zum liberalen Selbstverständnis knüpfen traditionsverbundene Formen politischer Selbstorganisation hier an. Der territoriale Bezugspunkt indigener Entscheidungs- und Organisationspraxen ist in der Regel die lokale Ebene. Aufgrund der Heterogenität und Dynamik indigener Lebensformen lassen sich die zahlreichen Formen der Selbstorganisation und Alltagspraxen der Entscheidungsfindung allerdings nur in generalisierender Form beschreiben. Ich bezeichne sie als eingeschränkt direktdemokratisch. Direktdemokratisch, da in der Regel die Vollversammlung alle relevanten, die Gemeinschaft betreffenden Entscheidungen fällt und hier auch die indigenen Autoritäten bestimmt werden. Eingeschränkt, da in der Regel das Geschlecht, das Alter und der Familienstand, aber auch der Besitz über den Zugang zu Ämtern mitbestimmen.

Obwohl sich geschlechtliche Diskriminierungen zu verändern beginnen, wird Frauen bisher häufig nur eine untergeordnete Rolle zugestanden. In der Regel ist es der Mann, der die Interessen des Haushalts nach außen vertritt. Entscheidungen werden im gemeinschaftlichen Dialog getroffen und bedürfen des Konsensus. Die poststrukturalistische Kritik an deliberativen Demokratienentwürfen[25] beziehungsweise die Erkenntnis, dass in allen gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen keineswegs nur Sachverstand und das rational beste Argument konkurrieren, sondern direkt und indirekt Interessen, Affekte und Machtasymmetrien wirken, gilt selbstverständlich auch für indigene Gruppen. Weder die relative materielle Gleichheit, noch das Konsensprinzip sind ausreichende Garanten dafür, dass der Prozess der kommunikativen Aushandlung machtfrei abläuft.[26]

Im Gegensatz zur liberalen Demokratie existiert in indigenen Kontexten keine Professionalisierung der politischen Interessenvertretung. Die Übernahme von Funktionen gleicht einer hierarchischen Stufenleiter und bedeutet vor allem soziales Prestige. In erster Linie wird die Übernahme von Ämtern jedoch als Pflicht beziehungsweise Dienst an der Gemeinschaft verstanden und ist nicht an bestimmte Fähigkeiten oder besondere Sachkenntnisse, wohl aber an Alter und Erfahrung gebunden. Neben dem Rotationsprinzip gilt das imperative Mandat. Handelt jemand gegen die von der Basis getroffenen Entscheidungen, besteht zudem jederzeit die Möglichkeit der Abberufung. Die zeitaufwendige und über die Verpflichtung zur Ausrichtung ritueller Akte und Festlichkeiten auch kostenintensive Amtsübernahme wird zudem nicht entlohnt.[27]

Weitere Elemente, die liberal-demokratischen Vorstellungen nicht entsprechen, sind der oft bestehende Zwang zur Teilnahme an Versammlungen, Gemeinschaftsarbeiten, an Protesten und an deren Finanzierung, der soziale Druck Ämter zu übernehmen, das Fehlen von Rechtsgarantien für Minderheiten wie bspw. Homosexuelle oder die Alternativlosigkeit der heterosexuellen Eheschließung, will man als vollwertiges Mitglied der Gemeinschaft anerkannt werden. Von zentraler Bedeutung sind zudem die religiös-rituellen Aufgaben die indigene Autoritäten übernehmen, Funktionen, die im säkularisierten westlichen Demokratieverständnis gänzlich fehlen.

Indigene Führungspersonen, die ihre Gemeinschaften nach außen vertreten beziehungsweise formale politische Funktionen übernehmen, werden zwangsläufig mit modern-westlichen Verbands-, Entscheidungs- und Kommunikationsstrukturen konfrontiert. Das erzeugt Konflikte und Widersprüche. Denn erwartet wird in der Regel eine Politik im direkten Interesse der Basis. Diese Haltung führt in politischen Auseinandersetzungen jenseits des lokalen Rahmens häufig zu Maximalforderungen und dem Beharren auf den jeweiligen Partikularinteressen. Eine Person, die außerhalb der Gemeinschaft die Interessen der eigenen Gruppe erfolgreich vertreten will, muss zudem Spanisch sprechen können, sollte mit den Spielregeln der dominanten Kultur vertraut sein, Durchsetzungsvermögen besitzen und das notwendige Verhandlungsgeschick mitbringen. Fähigkeiten und Kompetenzen die für ein traditionelles indigenes Amt meist keine Rolle spielen.

Diese Gleichzeitigkeit und Überlagerung unterschiedlicher demokratischer Praxen und Funktionslogiken verweist auf einen wichtigen Punkt: Trotz der Spezifika und Unterschiede indigener Organisationsstrukturen und Entscheidungsfindungsprozesse sollten kulturelle Unterschiede weder als statisch betrachtet, noch essentialisiert werden. Ethnische Identitäten sind nicht als biologisches Wesen oder Faktum zu verstehen, sondern lassen sich vielmehr als eine gesellschaftliche Positionierung sowie soziales Konstrukt[28] begreifen oder auch als Prozesse der Identifizierung und Kategorisierung[29] umschreiben. Die Identität eines jeden Individuums setzt sich aus verschiedenen, sich überlagernden Eigen- und Fremdzuschreibungen zusammen. Gesellschaftspolitische Auseinandersetzungen sind Teil der Herausbildung, Gewichtung und (Re)Interpretation unterschiedlicher individueller und kollektiver identitätspolitischer Aspekte. So können neben Ethnizität weitere Differenzkategorien, wie Klasse oder Geschlecht, aber beispielsweise auch Zugehörigkeit zu einer religiösen Gemeinschaft, sexuelle Ausrichtung, Alter oder regionale Bindungen ein Individuum und seine jeweiligen Lebensphasen unterschiedlich stark prägen.[30] Das bedeutet, dass kein Subjekt und kein Kollektiv eine homogene, fest gefügte beziehungsweise prinzipiell in sich (ab)geschlossene Identität besitzt.[31] Identitäre Zuschreibungen sind immer relational, partiell sowie temporär und somit grundsätzlich wandelbar. Die Pluralität verschiedener Subjektpositionen sollte dabei nicht als Nebeneinander und Koexistenz, sondern eher als Unterwanderung und Überlagerung einiger Positionen durch andere oder auch als mögliche Verschiebung und Modifizierung von subjektbezogenen Prioritäten gedacht werden.[32] Das bedeutet allerdings nicht, dass Identitätssuche und -fixierungen in einem vorgesellschaftlichen Machtvakuum oder losgelöst von sozioökonomischen Strukturen, symbolischen Ordnungen, gesellschaftlichen Institutionen, sozialen Praxen und historisch-spezifischen Momenten stattfinden. Prozesse der Selbst- und Fremdzuschreibung, das heißt der Kategorisierung des Eigenen und des Fremden erfolgen weder beliebig noch bewegen sie sich außerhalb kollektiver Wahrnehmungs- und Deutungsmuster. Vielmehr entstehen sie in Interaktion mit gesellschaftlich dominanten Diskursen. Sie sind also nur in ihrem historisch-spezifischen Kontext und der Entwicklung der Gesellschaft insgesamt zu verstehen. So gilt es im Sinne Bourdieus Identitäten als vergesellschaftet zu denken und dementsprechend zu analysieren. Das bedeutet soziale Handlungen als Handeln des Individuums und als gesamtgesellschaftlich und feldspezifisch vorstrukturierte, aber potentiell veränderbare gesellschaftliche Praxis zu begreifen. Letztere wird oft macht- und gewaltvoll hergestellt und ist in diesem Verständnis nicht nur soziale Konstruktion, sondern materiell existent.[33] Hieraus folgt, Ethnizität nicht als frei verfügbare, strategisch beliebig einsetzbare Ressource zu konzeptualisieren. Vielmehr ist die Geschichte und Gewaltförmigkeit, die Ethnizität herstellt und festschreibt, mitzudenken.[34]

Dekolonisierte Demokratie?

Auf einer Fläche, die dreimal so groß ist, wie die Deutschlands, leben in Bolivien rund 10,4 Millionen Einwohner_innen. Große Teile des Landes sind bis heute schwach besiedelt, infrastrukturell schlecht erschlossen oder nur bei günstiger Wetterlage erreichbar.

Da der koloniale Eroberung und Herrschaft weder die vollständige Durchdringung des östlichen Tieflandes, noch die Reorganisation der Anbauwirtschaft im Hochland nach den Mustern der Alten Welt gelang[35] und der bolivianische Staat seit seiner formalen Unabhängigkeit 1825 bis heute vielerorts erst spät und zum Teil bis heute kaum präsent ist, konnten sich lokal und regional viele indigene Traditionen[36] erhalten. Ohne dabei den Anspruch auf präkoloniale Authentizität einlösen zu wollen, unterscheiden sich die vielfältigen lokalen usos y costumbres deutlich von westlich geprägten bspw. gewerkschaftlichen Funktions- und Entscheidungsfindungslogiken, mit denen sie oft konkurrieren, aber auch koexistieren oder sich überlagert haben.

Kommunitäre Produktionsformen und interne Verteilungsmechanismen die auf Reziprozität und Solidarität beruhen sowie die bereits skizzierten Formen und Logiken der Entscheidungsfindung und soziopolitischen Organisation sind bis heute vor allem territorial verankert. Ihre konkrete Ausgestaltung wurde und wird durch historisch-spezifische Entwicklungen sowie die Besonderheiten des geographisch-klimatischen Kontextes und unterschiedliche Formen menschlicher Aneignung der Natur mit geprägt.

Angesichts der kulturellen Vielfalt und Heterogenität erscheint es aus einer kritischen demokratietheoretischen Perspektive wenig sinnvoll national ein einheitliches demokratisches System westlicher Provenienz etablieren zu wollen. Stattdessen sollte auf unterschiedlichen politisch-administrativen Ebenen (national, regional und lokal) sowie im Kontext indigener Territorien verstärkt nach Möglichkeiten der Gleichzeitigkeit unterschiedlicher demokratischer Vorstellungen, Prozedere und Funktionslogiken nachgedacht werden.[37] Das beinhaltet, indigene Entscheidungspraxen und Rechtsvorstellungen anzuerkennen, unterschiedliche, demokratisch legitimierte Abstimmungsverfahren zuzulassen und ihr Zusammenwirken auf den verschiedenen politisch-administrativen Ebenen zu erproben. Dieser in Bolivien jüngst begonnene Suchprozess nach demokratischer Pluralität[38] steht noch am Anfang und wird nur graduell fortschreiten beziehungsweise keineswegs linear erfolgen.

Indigene Selbstbestimmung

Eine Möglichkeit den bolivianischen Staat zu dekolonisieren und von unten zu demokratisieren ist zweifelsfrei die Einlösung der langjährigen Forderungen indigener Völker auf kulturelle Selbstbestimmung und territoriale Selbstregierung. Mit dem Inkrafttreten der neuen Verfassung im Februar 2009 wurden beide Rechte konstitutionell festgeschrieben.[39]

Politisch umkämpft und bislang unerprobt bleiben sowohl Fragen der konkreten Umsetzung der Autonomien, als auch die Reichweite beziehungsweise die Vermittlung und Interaktion zwischen indigenen Autonomien und dem fortbestehenden liberal-repräsentativen Kommunalsystem einerseits sowie den zukünftigen Autonomien auf regionaler und departamentaler Ebene andererseits.

Fest steht, dass indigene Autonomien - mit der Anerkennung indigener Organisations-, Entscheidungsstrukturen sowie Rechtsvorstellungen - über eine politische Dezentralisierung und fiskale Dekonzentration zentralstaatlicher Ressourcen deutlich hinausreichen.

Neben der Anerkennung von eigenen Werten und Normen sowie der Bewahrung und Förderung kultureller Traditionen geht es bei den Diskussionen um indigene Autonomie aber immer auch um konkrete sozioökonomische Verbesserungen. So haben die internen Diskussionen im Vorfeld der am 06. Dezember 2009 in 12 Stadt- und Landkreisen abgehaltenen Referenden[40] über die Einführung indigener Autonomien gezeigt, dass produktive Projekte und eine bessere Planung sowie Investition knapper Ressourcen, sowohl von indigenen Führungspersonen, als auch der Basis als zentral erachtet werden, um die herrschende Armut zu überwinden, lokale Zukunftsperspektiven zu eröffnen und die Abwanderung und permanente oder temporäre Arbeitsmigration in Städte und Nachbarländer zu verringern.

Intensiv diskutiert wird dabei beispielsweise, ob und wie die indigenen Autoritäten neben ihren religiös-rituellen Aufgaben eine effiziente und transparente öffentliche Planung und Verwaltungsarbeit gewährleisten können oder wie sie - häufig ohne über das notwendige technisch-administrative Wissen zu verfügen - die Arbeit von bezahltem Fachpersonal effektiv kontrollieren können. Indigene Autonomie wird dabei nicht als Abspaltung und Rückkehr zu einem vormodernen Urzustand aufgefasst, sondern es wird eine territorial begrenzte Selbstregierung angestrebt, die auf eigenen kulturellen Werten fußt und die strukturellen materiellen und immateriellen Benachteiligungen, die als koloniale Schuld betrachtet werden, merklich verbessern will. Die Protagonist_innen indigener Autonomien betrachten ihre Realisierung als historische Chance auf die Befreiung aus kultureller Unterdrückung, sie sehen aber auch die Gefahren.[41]

Nicht Alternativen zur Demokratie, sondern demokratische Alternativen

Das Beispiel Bolivien zeigt, dass sowohl materielle, als auch immaterielle Voraussetzungen demokratischer Teilhabe und Repräsentanz existieren, die den liberalen Grundsatz der formalen Rechtsgleichheit beständig untergraben. Eine postkolonial-materialistische Perspektive hilft die historisch-spezifische Entstehung zwischenstaatlicher sowie innergesellschaftlicher Macht- und Herrschaftsverhältnisse aufzuzeigen und die universelle Gültigkeit von scheinbar rational überlegenen Leitbildern grundlegend in Frage zu stellen.

Für Bolivien gilt es die Komplexität und die Ambivalenzen, die sich aus der kulturellen Diversität des Landes, der Gleichzeitigkeit und wechselseitigen Durchdringung prä- und (post)kolonialer Einflüsse sowie der Vermischung und Überlagerung indigener Alltagspraxen mit okzidentalen Institutionen und Funktionslogiken ergeben, demokratietheoretisch stärker zu reflektieren.

So zielt die hier formulierte Kritik nicht darauf, die Bedeutung demokratischer Werte an sich, sowie sozialer, wirtschaftlicher und kultureller Rechte für alle Menschen in Zweifel zu ziehen, sondern stellt die Alternativlosigkeit einer bestimmten Form ihrer Institutionalisierung und ihres Funktionierens in Frage. Diese theoretische und empirische Engführung vergibt die Chance Potentiale einer Substantialisierung von Demokratie zu erkennen und weiterzudenken. Gleichzeitig sollte eine pauschale Idealisierung lokaler Kollektive und traditioneller Lebensformen als demokratischere Alternative und quasi natürlichem gesellschaftlichem Gegenprojekt zur individualistischen kapitalistischen Moderne und Postmoderne vermieden werden. Auf der Basis des aktuellen bolivianischen Transformationsprozesses fordert der Beitrag vielmehr dazu auf überfällige Diskussionen über die Erweiterung und Vertiefung liberaler Demokratie zu führen und über die Pluralität und Komplementarität demokratischer Alternativen - jenseits der bekannten Pfade - nachzudenken.

Tanja Ernst hat Freiraum- und Landschaftsplanung, Soziologie, Politik und Geschichte in Hannover studiert. Ihre Promotion an der Universität Kassel beschäftigt sich mit demokratietheoretischen und -praktischen Auswirkungen von sozialer Ungleichheit am Beispiel Boliviens.
Der Aufsatz ist im Doktorand_innen-Jahrbuch, Jg. 1, 2011 der Rosa-Luxemburg-Stiftung erschienen.

Anmerkungen

[1] Thomas Carothers: The End of the Transition Paradigm. In: Journal of Democracy, Jg. 13, Nr. 1, 2002, S. 5-21 sowie Jochen Hippler (Hrsg): Die Demokratisierung der Machtlosigkeit - Politische Herrschaft in der Dritten Welt. Hamburg..

[2] Wolfgang Merkel; Mirko Krück: Soziale Gerechtigkeit und Demokratie: Auf der Suche nach dem Zusammenhang. In: Internationale Politikanalyse: Globalisierung und Gerechtigkeit, Friedrich-Ebert-Stiftung, 2003, S. 6. Online verfügbar unter: http://library.fes.de/fulltext/id/01706.htm (09.09.2010).

[3] Ingrid Wehr: Die theoretische Aufarbeitung des Third Waves Blues in Lateinamerika: „Bringing the citizen back in". In: Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen, Nr. 4, 2006, S. 59.

[4] Heinrich W. Krumwiede: Armut in Lateinamerika als soziales und politisches Problem. In: ApuZ, B 38-39, 2003, S. 14–19. Online verfügbar unter: http://www.bpb.de/publikationen/TVAJK9,0,Armut_in_Lateinamerika_als_soziales_und_ politisches_Problem.html (14.10.2010)

[5] Schäfer, Armin (2010): Die Folgen sozialer Ungleichheit für die Demokratie in Westeuropa. In: Zeitschrift für vergleichende Politikwissenschaft, Nr. 4, S. 133. Online verfügbar unter http://www.springerlink.com/content/ 04g6jj516k70u271/fulltext.pdf (03.11.2010).

[6] Vgl. hierzu u. a.: Jorge Enrique Horbath: Pobreza y elecciones en Colombia. Algunos hallazgos para reflexionar. In: Espiral. Estudios sobre Estado y Sociedad, Jg. X, Nr. 29, 2004, S. 204 sowie Ricardo de Sáenz Tejada: Democracias de posguerras en Centroamérica: política, pobreza y desigualdad en Nicaragua, el Salvador y Guatemala (1979-2005), México D.F 2007.

[7] Raúl L. Madrid: The Indigenous Movement and Democracy in Bolivia. Denton, 2007, S. 4f.. Online verfügbar unter http://www.psci.unt.edu/Madrid.doc (13.09.2010).

[8] Esteban Ticona; Gonzalo Rojas Ortuste; Xavier Albó, (Hrsg.): Votos y Whiphalas. Campesinos y pueblos originarios en democracia, La Paz, 1995, S. 184.

[9] Raúl L. Madrid: The Indigenous Movement and Democracy in Bolivia, Denton 2007, S. 5f.. Online verfügbar unter http://www.psci.unt.edu/Madrid.doc (13.09.2010).

[10] Vgl. hierzu unter anderem Manfred Schmidt: Demokratietheorien. Eine Einführung, Opladen 2000, S. 275-281.

[11] Klaus Meschkat: Einleitung. In: Bultmann, Ingo; Hellmann, Michaela; Meschkat, Klaus; Díaz, Alvaro; Rojas Hernández, Jorge (Hg.): Demokratie ohne soziale Bewegung? Gewerkschaften, Stadtteil- und Frauenbewegung in Chile und Mexiko, Unkel/Rhein - Bad Honnef 1995, S. 17f..

[12] Jonas Wolff: Demokratisierung als Risiko der Demokratie? Die Krise der Politik in Bolivien und Ecuador und die Rolle der indigenen Bewegungen, HSFK-Report 6/2004, S. 21f.. Online verfügbar unter http://www.hsfk.de/downloads/report0604.pdf (04.09.2010).

[13] Vgl. hierzu u. a. Hermann Heller: Staatslehre, Leiden 1934; Thomas H. Marshall: Citizenship and Social Class. In: Ders.; Tom Bottomore (Hrsg.): Citizenship and Social Class, Chicago 1992, S. 3-51; Barrington Moore: Social Origins of Dictatorship and Democracy: Lord and Peasant in the Making of the Modern World, Boston 1966; Dietrich Rueschemeyer; Evelyne Huber; John D. Stephens: Capitalist Development and Democracy, Cambridge 1992.

[14] Francis Fukuyama: La experiencia latinoamericana. In: Journal of Democracy en Español, Jg. 1, 2008, S. 158f.. Online verfügbar unter http://www.journalofdemocracyenespanol.cl/pdf/fukuyama.pdf (29.08.2010).

[15] Gayatri Chakravorty Spivak: Can the subaltern speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation, Wien 2008.

[16] Stuart Hall: Rassismus und kulturelle Identität, Hamburg 1994.

[17] Dabei unterschlägt die europäische Geschichtsschreibung zumeist, dass die Philosophen der griechischen Antike ihre Anregungen und Erkenntnisse vielfach aus den Hochkulturen Ägyptens und Phöniziens übernahmen. Vgl. hierzu unter anderem Samir Amin: L´ Eurocentrisme: critique d´une idéologie, Paris, 1988 sowie Martin Bernal: Black Athena /// The fabrication of ancient Greece 1785 - 1985. Afroasiatic Roots of Classical Civilization, New Brunswick 1987.

[18] Quijano unterscheidet begrifflich zwischen der Kolonisierung (colonialismo), die den Tatbestand der Eroberung und Existenz einer Kolonialverwaltung meint und der Kolonialität (colonidad), welche die Fortdauer kolonialer Macht- und Herrschaftsverhältnisse über den Akt gewaltsam-militärischer Eroberung hinaus meint und die ökonomische, politische aber auch erkenntnistheoretische Fortsetzung kolonialer Einflussnahme in formal unabhängigen Staaten bezeichnet. Quijanos Hauptthese lautet, dass die Idee der Rasse zentral war, um den Akt der Kolonisierung zu legitimieren und die internen Machtstrukturen sowie die asymmetrischen Beziehungen zwischen den europäischen Kolonialmächten und ihren Kolonien festzuschreiben.

[19] Aníbal Quijano: Colonialidad del poder, eurocentrismo y América Latina. In: Edgardo Lander (Hrsg.): La colonialidad del saber: eurocentrismo y ciencias sociales. Perspectivas latinomericanas, Buenos Aires[1993] 2000, S. 201–246.

[20] Enrique Dussel: Europa, modernidad y eurocentrismo. In: Edgardo Lander (Hrsg.): La colonialidad del saber: eurocentrismo y ciencias sociales. Perspectivas latinomericanas, Buenos Aires, [1993] 2000, S. o.A.. Online verfügbar unter http://bibliotecavirtual.clacso.org.ar/ar/libros/lander/dussel.rtf (20.12.2010). Göran Therborn und Shalina Randeria prägten für diese Perspektive sehr viel später den Begriff entangled modernities.

[21] Walter Mignolo: Local histories/global designs. Coloniality, subaltern knowledges, and border thinking, Princeton 2000.

[22] Vgl. hierzu unter anderem Harald Mey: Ansatz zu einer intermediär-interkulturellen Soziologie der Demokratie am Beispiel der Problematik von Subsidiarität und Opposition. In: Gert Pickel; Susanne Pickel; Jörg Jacobs (Hrsg.): Demokratie. Entwicklungsformen und Erscheinungsbilder im interkulturellen Vergleich, Frankfurt (Oder)/Bamberg 1997, S. 55–68.

[23] Robert A. Dahl: Democracy and its critics, New Haven 1989, S. 232.

[24] Marvin Harris: Introducción a la antropología general. Madrid 1990, S. 309. Obwohl die andinen Agrar- und Handelsgesellschaften grundsätzlich eine ganz andere Entwicklung nahmen und über Arbeitsteilung und zunehmende Spezialisierungen gesellschaftliche Schichtung und Hierarchisierung sowie Herrschafts- und staatliche Machtstrukturen herausbildeten, stellte sich die lokale Situation in den andinen Hochebenen anders dar. Aufgrund der extremen Witterungsbedingungen, des Reliefs und der ertragarmen Böden, war und ist das Überleben hier nur im Kollektiv möglich und die internen Organisations- und Entscheidungsmuster ähneln bis heute den oben beschriebenen. Vgl. unter anderem Jürgen Golte: Die indigene Bevölkerung Lateinamerikas um 1500. In: Friedrich Edelmayer, Margarete Grandner, Bernd Hausberger (Hrsg.): Die Neue Welt. Süd- und Nordamerika in ihrer kolonialen Epoche, Wien, 2001, S. 41–60.

[25] Chantal Mouffe: Das demokratische Paradox, Wien 2008.

[26] Das lässt sich – keineswegs nur in indigenen Kontexten – unter anderem sehr gut am Beispiel geschlechtlicher Diskriminierung, Benachteiligung und Ausgrenzung verdeutlichen. Vgl. unter anderem Marisol de la Cadena: Women are more Indian:. ethnicity and gender in a community near Cuzco. In: Larson Brooke, Olivia Harris, Enrique Tandeter (Hrsg): Ethnicity, markets, and migration in the Andes. At the crossroads of history and anthropology, Durham, N.C., London 1995, 329–348 sowie I. S. R. Pape: This Is Not a Meeting for Women. The Sociocultural Dynamics of Rural Women´s Political Participation in the Bolivian Andes, Latin American Perspectives Jg. 35, Nr. 6, 2008, S. 41–62.

[27] Das heißt man muss sich diese Zeit im Dienste der Gemeinschaft auch leisten können bzw. darauf sparen, da man ein Jahr kaum aktiv zum Familieneinkommen beitragen kann und zusätzliche Ausgaben hat.

[28] Stuart Hall: Rassismus und kulturelle Identität, Hamburg, 1994, S. 29.

[29] Rogers Brubaker: Ethnizität ohne Gruppen, Hamburg, 2007, S. 68f.

[30] Vgl. Juliana Ströbele-Gregor: Indigene Völker und Gesellschaft in Lateinamerika. Herausforderungen an die Demokratie. Indigene Völker in Lateinamerika und Entwicklungszusammenarbeit. Eschborn, 2004, S. 6.

[31] Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a. M, 1991, S. 210.

[32] Vgl. Chantal Mouffe: Algunas consideraciones sobre una política feminista. In: La Época, Jg. IX, Nr. 426, 2010, S. 11–13.

[33] Vgl. hierzu Louis Althusser: Ideologie und ideologische Staatsapparate. In: ders. (Hrsg.): Ideologie und ideologische Staatsapparate. Aufsätze zur marxistischen Staatstheorie, Hamburg/ Berlin, 1977, S. 108–153 sowie Jens P. Kastner: Staat und kulturelle Produktion. Ethnizität als symbolische Klassifikation und gewaltgenerierte Existenzweise. In: Michael Schultze; Jörg Meyer; Britta Krause; Dietmar Fricke (Hrsg.): Diskurse der Gewalt – Gewalt der Diskurse. Frankfurt a. M., 2005, S. 113–126.

[34] Jens P. Kastner (vgl. FN 33), S. 113f.

[35] Vgl. Jürgen Golte: Die indigene Bevölkerung Lateinamerikas um 1500. In: Friedrich Edelmayer, Margarete Grandner, Bernd Hausberger (Hrsg.): Die Neue Welt. Süd- und Nordamerika in ihrer kolonialen Epoche, Wien, 2001, S. 43 u. 47.

[36] Dazu zählen sowohl sprachliche, als auch religiös-rituelle, gewohnheitsrechtliche sowie kollektive Formen des Wirtschaftens, als auch lokale Praxen der Selbstorganisation und Entscheidungsfindung.

[37] Boaventura de Sousa Santos: Democracia de alta intensidad. Apuntes para democratizar la Democracia, Corte Nacional Electoral de Bolivia, La Paz, 2004, S. 46.

[38] Pluralität beziehungsweise Pluralidad meint interkulturelle Akzeptanz von Diversität und Differenz, in diesem konkreten Falle die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher demokratischer Verfahren und Vorstellungen. Pluralität bezeichnet qualitativ somit etwas anderes, als die Forderungen nach einer pluralen, gruppenbezogenen Interessensvertretung von Seiten der Pluralismus-Vertreter_innen innerhalb der liberalen Demokratietheorie.

[39] Vgl. hierzu die Artikel 1, 2, 30, 269, 289, 290, 291 I., 292, 294 II. der neuen bolivianischen Verfassung; sowie Art. 2 Absatz 2 b) und Art. 7 des Gesetzes Nr. 1257 (ILO-Konvention 169) und Art. 3 u. 4 des Gesetzes Nr. 3760 (Deklaration der Vereinigten Nationen über die Rechte indigener Völker).

[40] Parallel zu den landesweiten Neuwahlen am 06.12.2009 wurde in einer ersten Pilotphase in 12 Stadt- und Landkreisen über die Einführung von indigenen Autonomien abgestimmt. In 11 dieser Stadt- und Landkreise wurde mehrheitlich dafür gestimmt.

[41] Eigene Erhebungen zeigen, dass vor allem vermehrte Korruption in den eigenen Reihen sowie interne Fragmentierungsprozesse aufgrund von Streitereien über die Verteilung von Ressourcen befürchtet werden. Darüber hinaus wird immer wieder das oft fehlende technisch-administrative und haushaltspolitische Fachwissen thematisiert und eine Wiederholung beziehungsweise Fortsetzung der Schwierigkeiten und Ineffizienzen befürchtet, die im Kontext des 15-jährigen Kommunalisierungsprozesses zu Tage traten. Eine weitere Angst besteht darin, dass der Staat sich aus seiner sozialen und ökonomischen Verantwortung zurückzieht und den indigenen Gemeinschaften lediglich die Selbstverwaltung der lokal herrschenden Armut überlässt.

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sopos 2/2013