von Stefan Janson
Gunnar Hinck, Wir waren wie Maschinen – Die bundesdeutsche Linke in den siebziger Jahren; 464 Seiten, Rotbuch-Verlag Berlin 2012; 19,95 €
Gunnar Hinck nimmt sich eine Entwicklungsphase der bundesdeutschen, besser: westdeutschen Opposition vor, die sich in der Retrospektive im Großen und Ganzen als antidemokratischer und totalitärer Wurmfortsatz der zuvor radikaldemokratischen und antiautoritären Studentenbewegung darstellt. Die Radikalisierung der bereits im SDS vorhandenen leninistischen Potenziale trug, so eine von Hincks Thesen, letzten Endes erheblich zur Entpolitisierung einer Generation von kapitalismuskritischen, überwiegend jungen Menschen bei. Zeitlich konzentriert sich das Buch auf das "rote Jahrzehnt" zwischen 1968 und 1978, das ab 1970 von marxistisch-leninistischen Kleinparteien und operaistischen Formationen dominiert wurde, deren Mitgliederzahl im umgekehrt proportionalen Verhältnis zu ihrem Einfluss auf die politischen Debatten jener Zeit stand.
Es handelt sich um ein spannendes Buch, gerade auch in den Händen jener Protagonisten, die sich nicht der Prominenz eines Joschka Fischer, Götz Aly, Joscha Schmierer oder Christian Semler erfreuen dürfen. Es handelt sich um ein Buch, das eine Erklärung des Wahns versucht, in dem ja nicht die Dümmsten einer Generation Massenmörder wie Stalin, Mao Tse-tung und Pol Pot zu ihren politischen Vorbildern erhoben – die Verklärung übler Diktaturen zwischen Elbe und Wladiwostok zu sozialistischen Modellländern inklusive. Und es ist ein Buch, das Trauerarbeit möglich werden lässt über die Jahre, die es Viele, allzu Viele kostete, sich aus den Sektenbezügen, dem Sektendenken und den Sektenängsten zu lösen. Kaum zu ermessen, wie viel Kraft es kostete, um wieder zu klarem Verstand zu kommen, Kraft, die viele aber auch nicht mehr hatten, die an und mit diesem Denken und an diesen Ängsten persönlich gescheitert sind. Trauerarbeit auch über die Zerstörung von emanzipatorischen Hoffnungen, Nachdenken über die Verdrängungs- und Verleugnungsarbeit, die manche brauchten, um ihre Herrschaftsphantasien nun in den Reihen der bürgerlichen Eliten zu verwirklichen – Hinck nimmt hier Bernd Ziesemer (KJVD – danach Handelsblatt-Chefredakteur), Thomas Schmid (Revolutionärer Kampf, heute Welt-Chefredakteur) und Joschka Fischer (Revolutionärer Kampf, Bundesaußenminister a.D.) aufs Korn. Dennoch ist das Buch eher ein Annäherungsversuch als eine Abrechnung, Hinck verfällt nicht in den Fehler Alys, aus einem "irritierten Blick zurück" – für den es in der Tat gute Gründe gibt – in eine polemische Überspitzung zu verfallen.
Hinck spricht von der kommunistischen Metamorphose der Studentenbewegung und der nachfolgenden Generation als einem bis heute nicht geklärten Rätsel in der Geschichte der Bundesrepublik. Das stimmt zum Einen, denn in der Tat beginnt eine gründliche und systematische Auseinandersetzung mit dieser Phase linker Geschichte gerade erst. Andererseits aber – und dafür bleibt Hinck dann eine plausible Erklärung schuldig - ist die marxistisch-leninistische Wende ja kein rein deutsches Phänomen gewesen. In ganz Europa gab es neben den traditionellen kommunistischen Parteien nach 1970 jede Menge Neugründungen, die beispielsweise die maoistische KPD auf den Aufbau einer neu-stalinistischen Internationale mit Organisationen in den Niederlanden (KEN-ML), Belgien ("Amada" - "Alle Macht den Arbeitern"), Frankreich (PCMLF), Portugal (PCP/ML), Spanien ("FRAP" noch in der Illegalität) und auch Schweden (KFML(R)[1] hoffen ließ.
Ebenso wie Aly stellt Hinck fest, dass die 68er eben nicht die Pioniere einer Bewegung waren, mit der die Bundesrepublik gleichsam eine nachholende demokratische Revolution in Politik und Zivilgesellschaft vollzog. An diesem Mythos wurde lange gestrickt – schon Aly weist überzeugend nach, dass die Auseinandersetzung mit dem nazistischen Erbe mit einer Reihe von großen Prozessen bereits in der ersten Hälfte der 60er Jahre begann, dass die Liberalisierung des Alltagslebens schon um 1960 sichtbar wurde und es z.B. die Große Koalition aus SPD und CDU war, welche die schlimmsten Auswüchse von christlich-reaktionärem Spießertum im Zivil- und Strafrecht beseitigte (gleichzeitig natürlich die Notstandsverfassung durch das Parlament peitschte). Die viel zitierte nachholende demokratische Revolution aber wurde gerade von den Sektoren der Linken vorangetrieben und durchgesetzt, die gerade nicht dem Sektenwahn der ML verfielen. Diese radikaldemokratische und zum Teil auch antiautoritär gebliebene Linke war es, die sich in den alltäglichen Kämpfen um eine menschenwürdige Kindererziehung, der Veralltäglichung demokratischer Verhaltens- und Denkweisen, dem Aufbau nicht-konsumistischer Lebensweisen widmete. Diese Strömungen waren es, die schon in den 60er-Jahren auf die Gefährdungen der Umwelt durch die imperialen Lebensweise des globalen Nordens hinwiesen und zu einer Technologiekritik vordrangen, Alternativen formulierten und Selbstorganisation und -verwaltung als Handlungsanleitung begriffen.
Alle diese Graswurzelbewegungen haben für die Demokratisierung Deutschlands mehr getan als die großmäuligen Sekten- und ihre Führer, die sich Marxisten-Leninisten nannten. Hinck stellt deren Elitismus und Avantgardismus dar und ruft in Erinnerung, wie dieses Gebaren aus einem Auftrag durch eine imaginierte Arbeiterklasse abgeleitet wurde, der in keiner Weise gedeckt war. Es wurde völlig daran vorbeigesehen, dass die real existierende Arbeiterschaft in ihrer übergroßen Mehrheit zu keinem Zeitpunkt in der bisherigen Geschichte dieser Republik auch nur ansatzweise deren Geschäftsgrundlage in Frage stellte. Gar nicht zu reden davon, dass diese Mehrheit politische Alternativen zur repräsentativen Demokratie und Parlamentarismus eingefordert hätte, und schon gar keine Diktatur des Proletariats, auf deren Kommandohöhen sich die K-Gruppen phantasierten. Insoweit ist der Titel des Buches irreführend: Hinck geht den Allmachtsphantasien der damaligen Marxisten- Leninisten auf den Leim, wenn er sie im Untertitel zu der bundesdeutschen Linken in den siebziger Jahren macht. Es gab neben den radikaldemokratischen und libertären Strömungen schließlich auch noch die sozialdemokratische und gewerkschaftliche Linke, die bereits seit den 50er Jahren um die demokratische Fortentwicklung der Gesellschaft kämpfte.
Aber wie ist dieser Wahn zu erklären? Der Rätesozialist Otto Rühle bemerkte einmal, dass "die Revolution in Generationen marschiere". Hier war es nicht die Revolution, die marschierte, eher das Gegenteil. Richtig aber ist, dass bei der Analyse gesellschaftlicher Erscheinungen der Aspekt generationeller Erfahrungen noch zu wenig Beachtung findet. Hinck macht hier den Bruch zwischen der Generation der Eltern, die als Jugendliche im Nazismus aufgewachsen und ihre Sozialisation erfahren haben, und den Nachgeborenen verantwortlich. So sind es in der Analyse Hincks – hier folgt er der These der vaterlosen Gesellschaft – die fehlenden Väter wesentlich verantwortlich – sei es, das sie tatsächlich physisch abwesend waren, sei es, dass sie sich den konkreten Auseinandersetzungen entzogen. Mit der Erfahrung der "Enthütung", des Abhandenkommens verlässlicher Strukturen, korrespondierte der Drang, dass eigene Leben unter Kontrolle zu bekommen und deshalb dieses Verhaltensmuster auf alle zwischenmenschlichen Beziehungen auszudehnen. In dem entsprechenden Kapitel sammelt er eine Reihe von überzeugenden Indizien für diese These, die aber dann doch einer genaueren Fundierung und wissenschaftlichen Absicherung bedarf.
Aufschlussreich ist die Bilanz, die Hinck zieht. Eines der Ergebnisse der ML-Phase der Linken ist eine weitgehende Diskreditierung alles dessen, was links von der SPD lag und liegt. Zudem wurden zahlreiche politische Felder widerstandslos geräumt und den Marktradikalen überlassen. Was die individuellen Biographien betrifft, so haben eine ganze Reihe von Führungskadern die in den politischen und Fraktionskämpfen der siebziger Jahre erlernten Fähigkeiten zum Netzwerken, Intrigieren und Polemisieren genutzt, um sich in Politik und Medien nach oben und vorne zu spielen. Beispiele benennt das Buch zur Genüge. Es ist wahrscheinlich sinnlos, den Beteiligten dafür moralische Vorwürfe zu machen. Wichtiger ist es, politische Strukturen zu schaffen und Grundsätze zu verankern, die es Menschen mit solchen Motiven unmöglich machen, sich damit durchzusetzen. Nach Lage der Dinge können dies nur radikal demokratische und gewaltfreie Strukturen sein, die nicht darauf ausgerichtet sind, Macht über andere Menschen zu erlangen und behaupten. Interessanterweise stellt der Nachgeborene Hinck (Jahrgang 1973) vor dem Hintergrund der aktuellen Entdemokratisierungswelle und des tatsächlichen Würgegriffes des ideologisch abgehalfterten Neoliberalismus Fragen, die den freiheitlichen Teil der Linken schon immer interessiert haben: "Wie kann die Idee der Selbstorganisation entwickelt werden? Und schließlich: Wie kann man Freiheit und Gleichheit und Solidarität unter heutigen Bedingungen zusammen denken" (S. 427) Weil das Buch zu dieser Erkenntnis beitragen kann, empfiehlt sich seine Lektüre allemal.
[1] Der KFML(R) war eine Gründung des schwedischen Geheimdienstes, um den recht starken und mit dem KBW verbandelten KFML zu schwächen)
https://sopos.org/aufsaetze/506ea4e5d62ed/1.phtml
sopos 10/2012