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Keine Sterne in Athen

Die Wahlen in Griechenland sind ein Seismograph für die Krisendynamik innerhalb der EU

von Gregor Kritidis (sopos)

"Bist Du schon genug verarmt oder möchtest Du Antonis Samaras?"
(Graffito in Athen - Samaras ist der Vorsitzende der konservativen ND)


Die Bindung an Europa – das war lange Jahre ein weitgehend positiv besetztes Ziel sowohl der politischen Klasse, der ökonomischen Eliten als auch der Bevölkerung in Griechenland. Der deutsche Sozialstaat galt als positives Vorbild, die EU eines Jacques Delors als ein Muster an sozialer Integration und wirtschaftlicher Entwicklung. Mit der stetigen Verschärfung der Brüsseler Krisenpolitik sowie einer Enteignung und Verarmung der Mittel- und Unterschichten ist das Ansehen des europäischen Sternenbanners jedoch vollkommen ramponiert worden. In den letzten zwei Jahren hat in Griechenland eine breite Massenbewegung die von der EU und dem IWF verordnete Austerity-Politik erbittert bekämpft. Mehrfach stürzte die Regierung, und nur durch massiven Druck und Interventionen von außen konnte die Hegemonie des herrschenden Blocks stabilisiert werden. Mit jeder weiteren Prostestwelle ist jedoch die soziale und politische Basis der bisher regierenden Parteien stärker erodiert. Mit zunehmender sozialer Polarisierung hat sich das politische Spektrum in die Parteien des Memorandums – damit werden vereinfacht die Kreditverträge vom Mai 2010 zwischen Griechenland und den Staaten der Eurozone sowie dem IWF bezeichnet – und die Anti-Memorandum-Parteien aufgeteilt.

Das Zweiparteien-System ("Dikommatismos") aus PASOK und Nea Dimokratia wird begraben

Proteste in Griechenland 2010 und 2011

Protest in Griechenland 2010 und 2011. (Foto von Philly boy92, veröffentlicht auf commons.wikimedia.org

Seit dem Sturz der Diktatur 1974 hatten sich die konservative Nea Dimokratia (ND) und die ehemals sozialistische PASOK an der Regierung abgewechselt. Dieses in Griechenland "Dikommatismos" genannte Zweiparteien-System basierte auf einer wenn auch begrenzten sozialen Integration der Unterschichten und dem Ausschluß der politischen Linken von der Macht. Mit den Wahlen vom 6. Mai 2012 ist nun der Vorherrschaft der beiden großen Parteien ein Begräbnis erster Klasse bereitet worden.

Beobachter waren zuvor noch davon ausgegangen, dass ND und PASOK zusammen zumindest die absolute Mehrheit der Stimmen auf sich vereinigen und mithilfe des Wahlgesetzes, das traditionell die stärkste Partei mit zusätzlichen Mandaten begünstigt, ihren Austerity-Kurs würden fortsetzen können. Aber nicht einmal eine rechnerische Mehrheit von 151 Mandaten konnte erreicht werden, auch wenn alle Mittel der Manipulation aufgeboten worden waren. Insbesondere die PASOK hatte versucht, sich im Wahlkampf als Law-and-Order-Partei zu profilieren. Migranten ohne Papiere, die bei polizeistaatsähnlichen Razzien aufgegriffen wurden, verfrachtete man in das erste der kurzfristig – gegen den Widerstand der Linken – eingerichteten Sammellager. Selbst aus Kreisen der orthodoxen Kirche wurden diese als "Konzentrationslager" kritisiert. Hinzu kam eine vom Innen- und Gesundheitsministerium koordinierte Kampagne gegen den Straßenstrich. Die bei Razzien aufgegriffenen Frauen wurden auf HIV untersucht, Fotos der positiv getesteten Frauen wurden umgehend im Internet veröffentlicht. Die PASOK war sich aber auch nicht zu schade, pakistanische Migranten als Jubelperser für ihre an Kläglichkeit kaum zu überbietende zentrale Wahlkampfkundgebung anzuheuern. Wer die Wahlkämpfe der 1980er Jahre noch in Erinnerung hat, konnte sich über den politisch-moralischen Zustand und die Attraktivität der Partei kaum in Illusionen flüchten.

Ihre Kampagnen und Winkelzüge retteten der PASOK nicht die Sitze im Parlament, sondern leiteten Wasser auf die Mühlen der offen faschistischen Chrisi Avghi ("Goldenen Morgendämmerung"), die mit rund 7% erstmals in die Athener Vouli einzog und die ebenfalls faschistische Konkurrenz LAOS weit hinter sich ließ. Offenbar hat das rechtsradikale Wählerpotential dem LAOS dessen zeitweilige Beteiligung an der Regierung Papadimou übel genommen. Damit hat sich erstmals eine faschistische Partei mit Massenanhang etabliert, die - auch wenn es traditionell Verbindungen zu staatlichen Apparaten gibt - einen eigenständigen politischen Faktor darstellt. Allerdings dürfte die Chrisi Avghi auf Dauer Probleme haben, das gesamte rechte Wählerspektrum für sich zu gewinnen. Ihr positiver Bezug auf die Diktatur Metaxas der 1930er Jahre, das Kollaborationsregime während der deutschen Besatzung sowie die Obristendiktatur sind innerhalb der breiteren politischen Rechten kaum mehrheitsfähig. Neben den städtischen Ballungszentren hat die Chrisi Avghi vor allem in den Gegenden der Peloponnes, die bereits während des Bürgerkrieges Hochburgen der faschistischen Sicherheitsbatallione waren, Wähler für sich gewinnen können.

Viele von der ND enttäuschte Wähler zogen den Faschisten die im Februar 2012 gegründeten Anexartiti Ellines ("Unabhängige Griechen", AnEl) des ehemaligen ND-Abgeordneten und Staatssekretärs Panos Kammenos vor. Dieser war aus der Fraktion der ND ausgeschlossen worden, nachdem er in der Vertrauensabstimmung gegen die von der ND mitgetragene Regierung Papadimou gestimmt hatte. Kammenos trat vor allem mit Korruptionsvorwürfen gegen Politiker der ND und PASOK hervor und stellte sich in einer Rede in Distomo – dort hatte eine SS-Einheit 1944 ein Massaker an der Zivilbevölkerung verübt – in die Tradition des nationalen respektive nationalistischen Widerstands. Neben der Agitation gegen das Memorandum – Kammenos unterstützt die Forderung nach einem Schulden-Audit – hoben sich die AnEl von anderen Parteien unter anderem dadurch ab, dass sie die Frage der deutschen Reparationen zum Thema machten.

Die neue Parteienlandschaft im "unregierbaren Griechenland"

Deutlich gestärkt ging mit 17% die Koalition der Radikalen Linken (SYRIZA) aus den Wahlen hervor. SYRIZA ist ein Zusammenschluss mehrerer kleiner marxistischer Organisationen mit der Linkskoalition (SYNASPISMOS), die aus der eurokommunistischen Strömung hervorgegangen ist. Die Partei hat sich vor 12 Jahren der Antiglobalisierungsbewegung geöffnet und seitdem alle zentralen außerparlamentarischen Mobilisierungen gestützt, sich dabei aber – anders als in deutschen Medien kolportiert – stets von gewaltsamen Aktionsformen distanziert. SYRIZA repräsentiert mit ihrem Vorsitzenden Alexis Tsipras eine neue Generation der politischen Linken, die sich basisdemokratischen und ökologischen Ansätzen geöffnet hat, und bezieht sich gleichzeitig positiv auf das historische Erbe der sozialen Bewegungen in Griechenland. Mit Manolis Glezos ist auf der Liste der SYRIZA eine historische Persönlichkeit der Linken ins Parlament eingezogen – Glezos, der mehrfach zum Tode verurteilt wurde, war einer der beiden Studenten, die während der deutschen Besatzung die Hakenkreuzfahne von der Akropolis einholten. SYRIZA hat mit dem klaren Bekenntnis, eine linke Regierung bilden zu wollen, um die Austerity-Politik zu beenden, erstmals die politisch wenig bewegliche KKE überflügelt. Es ist aber fraglich, inwieweit das innerhalb der Eurozone und der EU möglich ist, wie von der SYRIZA propagiert wird. Es dürfte aber kein Zweifel daran bestehen, dass SYRIZA auf Reformen innerhalb der EU orientiert ist. Die Reise nach Deutschland und Frankreich hat Alexis Tsipras geschickt genutzt, um die Möglichkeit von Bündnissen auszuloten und die europäische Öffentlichkeit für sich zu gewinnen. Der Umstand, dass die Positionen der SYRIZA – u.a. Beendigung der Maßnahmen der Memroranden, Wiederherstellung der Arbeitsrechte, Einführung des Verhältniswahlrechts, öffentliche Kontrolle des Bankensystems, eine öffentliche Überprüfung der Staatsschulden und ein Schuldenmoratorium – in den Medien in Deutschland allenfalls am Rande Erwähnung fanden, zeigt die Sprengkraft, die auch in Deutschland eine rationalere Diskussion der Ursachen der europäischen Bankenkrise beinhaltet. Die Ereignisse rund um die Proteste in Frankfurt, die nicht zuletzt von den dramatischen Entwicklungen in Südeuropa inspiriert sind, belegen die Nervosität innerhalb des politischen und ökonomischen Establishments, die Kontrolle über die Deutungshoheit von Krisenursachen und -lösungen zu verlieren.[1]

In Bezug auf die Möglichkeit, die seit Mai 2010 geschlossenen Kreditverträge zu revidieren und gleichzeitig Mitglied der Eurozone zu bleiben, wird SYRIZA nicht nur von der KKE, sondern auch von der ANTARSIA, einem Zusammenschluß der außerparlamentarischen marxistischen Linken, kritisiert. Dieses Bündnis hat zwar nur 1,6% der Stimmen auf sich vereinigen können, jedoch bei allen politischen Moblisierungen eine wichtige Rolle gespielt. ANTARSIA favorisiert einen strikten Konfrontationskurs gegen die Direktiven aus Brüssel und hat bei der Kordination der Basisgewerkschaften starken Rückhalt. Da die zukünftigen Mehrheitsverhältnisse keine Frage der Arithmetik, sondern realer Kräfteverhältnisse innerhalb der sozialen Bewegungen und der Gesellschaft sind, könnte die ANTARSIA an Bedeutung gewinnen, da sie in ihrer Programmatik konsequenter und geschlossener als die SYRIZA, ideologisch aber wesentlich flexibler als die KKE auftritt, der es zunehmend schwer fällt, ihre politischen Aussagen mit ihrer praktischen Politik des abwartenden Taktierens in Übereinstimmung zu bringen. Der Einflußverlust der KKE in der städtischen Zentren und insbesondere in den Arbeiterbezirken zeigen, wie wenig Vertrauen in die Parteiführung selbst ihr traditioneller Anhang hat. Besonders stark war die KKE im Wahlbezirk Samos, also nicht gerade dem Epizentrum des Klassenkampfes.

Ebenfalls im Parlament ist die Demokratische Linke (DIMAR) des ehemaligen SYNASPISMOS-Funktionärs Fotis Kouvelis vertreten. Die DIMAR wendet sich zwar mit Nachdruck gegen die Austerity-Maßnahmen der EU, ist ansonsten aber den traditionellen Programmatiken und Organisationsformen der griechischen Linken sowie einer institutionellen Logik verhaftet.

PASOK und ND haben versucht, die DIMAR für ein Regierungsbündnis zu gewinnen. Diese machte jedoch eine Beteiligung der SYRIZA zur Bedingung einer Kooperation. Da die SYRIZA zu einer Zusammenarbeit jedoch nur unter der Voraussetzung bereit war, dass PASOK und ND ihre Zustimmung zu den Kreditverträgen und den Austerity-Maßnahmen wiederrufen, war dieser Versuch zum Scheitern verurteilt.

Der Umstand, dass sich die DIMAR nicht an einer Koalition beteiligen will, die gegen die Absichten der SYRIZA, d.h. gegen die sozialen Bewegungen, zustande kommt, bedeutet nichts anderes, als dass eine aus Brüssel vorgegebene Politik bis auf weiteres nicht mehr durchsetzbar ist. Die Bestürzung, mit der in Europas Hauptstädten auf den griechischen Wahlausgang reagiert wurde, und die scharfen Attacken auf die SYRIZA bringen das klar zum Ausdruck. Die bisherigen Stützen der EU-Krisenpolitik in Athen sind zusammengebrochen; mit den Worten der bürgerlichen Kommentatoren: Griechenland ist "unregierbar" geworden.

Revision der Kreditverträge, Ausstieg aus der Eurozone, oder was?

Bereitschaftspolizei vor dem Parlament in Athen

Die griechische Bereitschaftspolizei bewacht das Parlament in Athen während der "Indignados"-Demonstration am 29.06.2010. (Foto von Ggia, veröffentlicht auf commons.wikimedia.org

Noch sind aber die letzten Trümpfe nicht gespielt; zwar war der Versuch des Präsidenten Papoulias erfolglos, eine Regierungsbildung mit der Erpressung zu erzwingen, im Falle eines Scheiterns drohe eine gigantische Kapitalflucht – letztlich sah sich die EU ohnehin gezwungen, das griechische Bankensystem mit einer Kapitalspritze in Höhe von 25 Mrd. € aus dem Kreditpaket liquide zu halten. Und auch der Vorschlag Angela Merkels, ein Referendum über den Verbleib in der Eurozone abzuhalten, fiel angesichts der mehr als problematischen verfassungsrechtlichen Lage nicht auf fruchtbaren Boden. Eine Regierung, die nach den Wahlen am 17. Juni eine Revision der Kreditverträge vom Mai 2010 und Februar 2012 in Angriff nimmt, hat dennoch nur äußerst geringen Spielraum. Denn nur eine Regierung, die auch tatsächlich über das gesamte Instrumentarium der Geld- und Währungspolitik verfügt, wäre in der Lage, die Krise effektiv zu bekämpfen.

Für einen Ausstieg Griechenlands aus der Eurozone gibt es angesicht der Interessen der Gläubiger und der geopolitischen Interessen der EU-Staten einerseits, der wirtschaftlichen und politischen Möglichkeiten Griechenlands andererseits gegenwärtig jedoch keine Basis. Die Gläubiger – und dazu gehört neben Banken und anderen institutionellen Anlegern die EZB – und die ihre Interessen wahrnehmenden Regierungen haben seit 2010 alles unternommen, damit Griechenland die Schulden bedient. Eine Ausscheiden Griechenland aus der Eurozone würde nur in Zusammenhang mit der Erklärung des Staatsbankrotts oder einem Schuldenaudit, also einer Überprüfung und teilweisen Einstellung des Schuldendienstes Sinn machen. Hinzu kommen Unternehmensbesitz und -beteiligungen ausländischer Konzerne, die mit der Abwertung einer wiedereingeführten Drachme ebenfalls abgewertet würde. Die EU dürfte auch kein Interesse daran haben, dass andere Länder – etwa Rußland oder China – ihren Einfluss an der Südostflanke Europas ausbauen.

Eine griechische Linksregierung, wollte sie den Ausstieg aus der Eurozone wagen, müßte erhebliche politischen Risiken eingehen: Noch gibt es in Griechenland bei weitem keine Mehrheit für ein Verlassen der Eurozone; die einzige Kraft, die ernsthaft dafür eintritt, ist neben der KKE die ANTARSIA. Selbst wenn die SYRIZA ihren Euro-freundlichen Kurs aufgeben und die Linke insgesamt weiter Zulauf bekommen würde, hätten sie den überwiegenden Teil des politischen und wirtschaftlichen Establishment und - das ist fast noch entscheidender - alle Massenmedien gegen sich. Zudem verfügt die Linke über keinerlei Erfahrungen darüber, wie der Apparat eines bürgerlichen Staates geleitet werden kann. Zwar dürfte ein Teil der Beamten Sympathien mit einer Linksregierung haben, es steht aber zu vermuten, dass große Teile der bürgerlichen Fachleute in den Ministerien und staatlichen Institutionen die neue Regierung sabotieren würden. Man braucht nicht viel Phantasie, um sich vorzustellen, wie Massenmedien eine Regierung vor sich hertreiben, die teils aus Unerfahrenheit, teils aus Sabotage bei einer ohnehin der Sache nach riskante Operation zahlreiche Fehler begeht. Die nationalen und internationalen Reaktionen auf die Vorstellung des überarbeiteten Programms der SYRIZA, die sich mittlerweile zu einer regelrechten Angstkampagne "Euro oder Tod" ausgewachsen haben, geben darauf einen Vorgeschmack. Die Position der SYRIZA, die im Zuge der Memorandumspolitik verabschiedeten Gesetze und Maßnahmen aufzuheben und gleichzeitig innerhalb der Eurozone zu verbleiben, mag widersprüchlich sein, ist jedoch Ausdruck dieser objektiv widersprüchlichen Situation.

Ohne Zweifel dürfte sich die soziale und politische Situation weiter zuspitzen, und viel wird davon abhängen, wie sich die Dinge in den anderen Ländern der Eurozone und vor allem in Spanien entwickeln. Die griechischen Wahlen sind der Ausdruck sozialökonomischer, äußerst dynamischer Widersprüche, die anderswo nicht minder scharf ausgeprägt sind. In weiter Ferne könnte eine Spaltung der Eurozone eine Option werden, wenn es nicht gelingt, die deutschen Eliten zu zwingen, von ihrer kurzsichtigen und zerstörerischen Austerity-Politik abstand zu nehmen. Man kann die Kuh schlachten oder melken – beides gleichzeitig ist ein Ding der Unmöglichkeit.

Anmerkungen

[1] vgl. Ralf Hofrogge, Friede, Freude, Pflastersteine. über das Versagen der bürgerlichen Medien nach den Blockupy-Protesten. In: http://www.dasdossier.de/magazin/gesellschaft/soziale-bewegungen/friede-freude-pflastersteine

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https://sopos.org/aufsaetze/4fd8b257622bc/1.phtml

sopos 6/2012