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Wandel in der SPD?

Rezension

Max Reinhardt, Aufstieg und Krise der SPD – Flügel und Repräsentation einer pluralistischen Volkspartei; Nomos-Verlag Baden-Baden 2011; 628 Seiten, 99 €

Wilfried Gaum

Die zentrale These der 2009 auch als Dissertation an der Leibniz Universität Hannover vorgelegten Arbeit wird bereits im Vorwort von Michael Vester beschrieben: "Die Krise der Volksparteien kann ... als Krise der politischen Repräsentation erklärt werden. Daher kann sie auch nur durch die Wiederherstellung eines gewissen inneren Pluralismus bewältigt werden." (S. 8). Damit sind Leistung und Grenzen dieses voluminösen Buches über die Entwicklung und den aktuellen Zustand dieser, die republikanische Geschichte Deutschlands prägenden Partei gut beschrieben.

Zurückhaltend formuliert der Autor die zentrale Fragestellung seiner Arbeit, "ob sich die parteiflügel- und milieuübergreifende Repräsentationsfähigkeit der SPD und ihrer Spitzenpolitikerinnen und Spitzenpolitiker gewandelt habe." (S. 33). Die seit 1998 eskalierenden Wähler- und Mitgliederverluste könnten als das Ergebnis eines Wandels der Partei in Folge von innerparteilichen Machtkämpfen und autoritär geführten Ausgrenzungshandlungen sein. Die SPD könnte ihren Charakter als Volkspartei verloren haben, der in ihrer vielfältigen Bündnisfähigkeit und "damit ihrer milieuübergreifenden Integrations- und Repräsentationsfähigkeit bestanden hatte."

Neben einem darstellenden historischen Teil zur Entwicklung der Sozialdemokratie von 1945 bis heute vertieft Reinhardt seine Hypothese, in dem er die Führungszirkel der 60er Jahre und in der Jetztzeit entlang der ursprünglich von Bourdieu entwickelten und dann später für Deutschland durch Vester und von Oertzen aktualisierten Milieu- und Habitustheorie untersucht. Die Biographien von Führungskräften der SPD nehmen breiten Raum ein und bilden mit über 300 Seiten einen eigenen, zentralen Abschnitt der Studie. Sie geben Auskunft geben über Herkunft, Entwicklung und Selbstbild einer bestimmten Schicht von Politikern aus der SPD-Führungsriege. Reinhardt sieht am Ende seine These von der Verengung des durch das Führungspersonal geprägten SPD-Profils bestätigt. Die Partei basiere nur noch auf zwei Typen: dem "kleinbürgerlichen, leistungsorientiert-ständisch denkenden Neuen Managertypus" und – als kleine Minderheit – dem "modernisierten gewerkschaftsnahen Arbeitnehmertypus" (S. 559). Der Niedergang der SPD, so Reinhardt, gehe also einher mit der Ausgrenzung von Repräsentanten anderer sozialer Milieus, die mit ihren Interessen keine zureichende Berücksichtigung mehr fänden und folglich der Partei den Rücken zukehrten.

Die SPD müsse jedoch "ihrer Funktion als Partei des Sozialstaats, der Emanzipation und Partizipation wieder gerecht" werden (S. 563). Dafür müsse sie sich der Mehrheit ihrer Wähler wieder öffnen, um Glaubwürdigkeit zu gewinnen. So klar, so einfach – jedenfalls Reinhardt zu Folge. Im Großen und Ganzen ist das Buch von der Sorge geprägt, mit dem weiteren Niedergang der SPD könne die im Zuge der Finanz- und Wirtschaftskrise erfolgte autoritären Entleerung des erreichten Standes von Demokratie zu einer Postdemokratie weitergehen. Diese Sorge scheint mir berechtigt zu sein. Aber:
Woher die Partei, die maßgeblich an eben diesem bedenklichen Zustand der politischen Demokratie in Deutschland mitgewirkt hat, die Kraft dazu nehmen soll und woher die Persönlichkeiten kommen sollen, die einen solche Kurswechsel glaubwürdig repräsentieren könnten, bleibt das Geheimnis von Reinhardt. Es zeigt sich, das seine Fragestellungen zu eng gefasst und der Dimension des Problems nicht gerecht werden. Dieser Mangel beginnt bereits damit, dass Reinhardt sich an keiner Stelle des Buches fragt, ob die Form der Volkspartei als politischer Organisation überhaupt noch in der Lage ist, emanzipatorische Anliegen zu bündeln und zu artikulieren. Reinhardt behandelt zwar einen wesentlichen Aspekt der Krise der Repräsentation, aber er blendet die Frage, ob die SPD nicht zu allererst einen Teil des Problems darstellen und damit das Ende dieser Organisationsform angebrochen sein könnte, konsequent aus. Diese Frage steht in aller Radikalität allerspätestens seit Colin Crouchs Thesen über die Degeneration der wohlfahrtsstaatlichen Demokratien auf der Tagesordnung.

Dies umso mehr, als es angesichts der allgemeinen Entmachtung der politischen Sphäre durch die Diktatur der Finanzmärkte und Banken sowie der anhaltenden Erosion parlamentarischer Demokratie nahe gelegen hätte, sich grundsätzlich mit der Rolle und Funktion der Volksparteien auseinander zusetzen. Wir haben nicht vergessen, dass es ein Bundesfinanzminister Steinbrück war, der die als Bankenrettung apostrophierte Eroberung der Staatshaushalte durch die Banken in einer knappen Woche durchs Parlament trieb. Kritik aus der SPD – Fehlanzeige! Die sozialdemokratischen Massen- und Volksparteien sind wegen auch solcher funktionalen Ausfallserscheinungen nicht als überhistorische oder globale Erscheinungen zu betrachten, zumal sie im wesentlichen auf die Nordhälfte Europas beschränkt geblieben sind. Schon deshalb wäre als diagnostische Vorfrage für die Medizin, die Reinhardt schließlich empfiehlt, zu klären gewesen, ob die Verfasstheit und der Aggregatzustand der SPD eine solche Wende noch zulässt. Warum dies nicht geschieht, ist für mich nicht ersichtlich.

Auch methodisch hätte diese Frage auf der Grundlage der Arbeiten Bourdieus gestellt werden können. Reinhardt nutzt zwar den kritischen Ansatz Bourdieus zur Analyse der sozialdemokratischen Milieuentwicklung und bestimmt den Habitus der interviewten Politiker. Aber dessen kritische Arbeit zum politischen Feld nimmt er nicht zur Kenntnis.[1] Hier hätte er viel grundsätzlicher die Aktionsfelder und Funktionsmechanismus der SPD als Partei unter anderen in einer parlamentarischen, repräsentativen Demokratie untersuchen können. Er hätte daraus die Mechanismen ableiten können, die den notorischen Konformismus der Sozialdemokratie hervorbringen und der sich natürlich auch in den Biographien ihrer Führung niederschlägt. Die Rekrutierungsmechanismen, die soziale Lebenswelt, die politischen Handlungsmechanismen gleichen sich im Laufe der Zeit immer weiter aneinander an, so dass die Parteien sich auch von ihren Repräsentanten her immer mehr ähneln und programmatische Unterschiede deshalb von ihnen nicht mehr lebensweltlich erfahren und gelebt werden. Diesen Prozess einer rapiden Angleichung haben wir in den letzten 30 Jahren an der einstmaligen "Anti-Parteien-Partei" der Grünen nachvollziehen können, von deren Grundsätzen "basisdemokratisch, ökologisch, sozial und gewaltfrei" lediglich in gewissem Umfang der ökologische übergeblieben ist. Und wir können sicher sein, dass wir dasselbe auf Bundesebene auch bei der PDL erleben werden.

Einen Einwand gegen Reinhardts Darstellung habe ich auch in Bezug auf seine Darstellung des Demokratischen Sozialismus der SPD. Er verankert ihn lediglich im Zusammenhang mit der bewussten und gewollten Herausbildung eines "universalistischen" und soziale Rechte verbürgenden Wohlfahrtsstaates. Das greift meines Erachtens zu kurz, denn dabei geht unter, dass das programmatischen Selbstbild der schuhmacherschen SPD bis weit nach 1945 von der Trias Antikapitalismus, Antikommunismus und Antiklerikalismus geprägt war und erst die großen Niederlagen der gewerkschaftlichen Bewegung für umfassende Mitbestimmung sowie der Bewegung gegen die Remilitarisierung Westdeutschlands den Pfad nach Godesberg programmatisch ebneten. Erst dort wurde der Demokratische Sozialismus auf den Ausbau des bürokratischen Sozialstaates und eine gewisse politische Demokratisierung der Gesellschaft reduziert. Am Ende blieb somit als letztes Element sozialdemokratischer Kernüberzeugungen der unmittelbaren Nachkriegszeit der Antikommunismus über.

Aber auch nach diesem Abschliff systemtranszendierender Programmideen blieb für den durchschnittlichen Sozialdemokraten als Leitmotiv politischen Handelns der Grundsatz, Demokratie als Lebens- und Wirtschaftsprinzip anzustreben. Warum dieses Paradigma besonders von der Kaste der "Neuen Managertypen" als politisches Prinzip aufgegeben und von diesen als biographisches Movens zum Teil sogar aktiv verleugnet wird, bleibt bei Reinhardt weitgehend unhinterfragt. An dieser Stelle muss die Frage erlaubt sein, nach welchen Kriterien die Interviewpartner ausgewählt wurden? Warum fehlen so wesentliche Gestalten wie Steinbrück, Schmidt, Schröder? Worauf beruht seine Annahme, dass die Adaption neoliberaler Phrasen durch das aktuelle Führungspersonal ungebrochen auch für lokale und regionale SPD-Aktivisten gilt? Gab es zwischen der Führung in Berlin und der hessischen oder nordrhein-westfälischen SPD denn nur Gleichklang?

Der wohl bewusst erzeugte Konformismus, den die Selbstdarstellungen gerade der jüngeren SPD-Führungspersönlichkeiten auszeichnet, ihr gleichförmiges Herunterbeten kleinbürgerlichen und neoliberalen "Neusprechs", die durchgängige Leugnung oder der Widerruf jeder systemkritischen Lebensphase, sollen wir das alles glauben? Wenn ca. ein Drittel der jüngeren Befragten zum Stamokap-Flügel gehörte, der seine Sympathie für die staatskapitalistischen Diktaturen im Osten nie verhehlte? Ist das wirklich alles für bare Münze zu nehmen? Hat Reinhardt nicht gestutzt, von diesen Personen immer die gleichen Schlagwörter von "Aufstieg, Leistungswillen und Chancengleichheit" zu hören? Und dies soll alles darauf zurückzuführen sein, dass der im Elternmilieu erfahrene kleinbürgerliche Habitus wieder durchgeschlagen ist? Andererseits wird aber auch die Strukturähnlichkeit von kleinbürgerlichem Autoritarismus heute und der einstigen Sympathie für staatskapitalisische, bürokratische Verhaltens- und Handlungsformen nicht gesehen. Wie ist der biographische Bruch zum Beispiel eines Oppermann zu verstehen, der sich in den USA in einer basisdemokratischen und freiheitlichen Gewerkschaftsarbeit engagiert hat und in Deutschland dann maßgeblich für eine neoliberale, autoritäre Wende in der sozialdemokratischen Hochschulpolitik – und nicht nur da – gearbeitet hat? Der Leser bleibt fragend zurück. Hier reicht der Reinhardtsche Ansatz meines Erachtens nicht aus, weil er solche Schwenke, Brüche, Kapitulationen, vielleicht auch Verrat, nicht hinreichend ausleuchten kann – die politischen und sozialen Bedingungen, unter denen solche biographischen Richtungsentscheidungen in diesem Milieu getroffen werden, bleiben unaufgeklärt.

Zu den Stärken des Buches gehört, gleichsam im Kontrast zu diesem sozialdemokratischen Teilmilieu, dass Reinhardt interessante Aufschlüsse über die Biographien von – allerdings durchweg der älteren Generation angehörenden – Sozialdemokraten gelingen: hier lesen sich die Texte über Hans-Jochen Vogel, Peter von Oertzen, Hans Koschnick und Inge Wettig-Danielmeyer mit gutem Gewinn. Dies besonders deshalb, weil die Genese ihrer bewussten politischen Entscheidung für die Mitarbeit in der Sozialdemokratie eindrucksvoll biographisch belegt wird, weil sie bewusst mit katholischen, kommunistischen oder gar nazistischen Milieus und Überzeugungen der Jugend brachen oder z.B. eine dissidente calvinistische Glaubenshaltung auch als Haltung in der politischen Arbeit durchhielten. Dieser nicht geringe Teil des Buches vermag den Gesamteindruck leider nicht mehr durchgreifend zu verbessern.

Reinhardt richtet am Ende an nicht näher gekennzeichnete Adressaten den Appell, die SPD zu pluralisieren und so als Volkspartei wiederzuerobern. Ein solche subjektlose Flaschenpost, welche Chance soll sie haben, wenn weder die Angriffskriege wie gegen Serbien 1999 und Afghanistan 2001 noch der sozialpolitische Skandal der Hartz-Reformen 2004 innerhalb der Partei wirkungsvoll bekämpft werden konnten. Nicht einmal eine Selbstkritik ist bis heute zu erkennen. Die sozialdemokratische Idee muss sich wohl andere Träger suchen.

Angesichts der ungeklärten Verhältnisse in der Linkspartei zwischen kryptoleninistischen Nostalgikern und reformistischen Apparatschiks und der Schwäche grüner Bürgerrechtsarbeit wird der Kampf um reale Demokratie nur dann eine Chance haben, wenn die Erfahrungen aus Stuttgart 21 und den südeuropäischen und arabischen Demokratiebewegungen verallgemeinert und quer zu allen politischen Formationen vergemeinschaftet werden.

Fazit: Insgesamt leider nur ein Buch für den noch hoffenden, noch organisierten Sozialdemokraten. Das Buch dürfte über die kleinen Kreise der "inneren Emigration" in der SPD hinaus lediglich für Politikwissenschaftler von so großem Interesse sein, dass sie seine Anschaffung zu einem recht hohen Preises ins Auge fassen.

Anmerkungen

[1] Pierre Bourdieu, Das politische Feld – Zur Kritik der politischen Vernunft, Konstanz 2001.

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sopos 9/2011