Wilfried Gaum
In der gewerkschaftlichen und linken Debatte ist wieder gelegentlich die Rede vom "politischen Streik", vom "Massenstreik" und auch der "Generalstreik". Mein Ansatz ist hier ein historischer, ich werde auf den historischen und parteilichen Kontext eingehen, in dem Rosa Luxemburg eines ihrer Hauptwerke geschrieben hat, die Kernthesen der Broschüre darstellen und mit einem kritischen Kommentar schließen.
Um ein Ergebnis der Re-Lektüre nach bald 35 Jahren vorwegzunehmen: Ob Rosa Luxemburgs Dialektik zwischen streikenden Massen von Lohnabhängigen, sozialistischer Partei und Gewerkschaften für die deutschen Gegebenheiten einen Gegenwartsbezug hat, halte ich für wenig wahrscheinlich. Für das durch deutsche Austeritätspolitik und deutsche gewerkschaftliche Lohnzurückhaltung gebeutelte Westeuropa sind dagegen Massenstreiks nichts Ungewöhnliches mehr, aber ich fürchte, Rosa Luxemburg spielt als Theoretikerin dort keine sehr gewichtige Rolle.
Luxemburg hielt sich strikt an die insbesondere von Friedrich Engels ausgesprochenen Verwerfungen der libertären Positionen in der I. Internationale. So versucht sie, den (marxistisch zulässigen) "Massenstreik" strikt vom (libertären, unzulässigen) "Generalstreik" abzugrenzen. Dabei greift sie auf die verfälschende Darstellung Engels vom "bakunistischen Generalstreik" zurück: "Eines schönen Morgens legen alle Arbeiter aller Gewerke eines Landes oder gar der ganzen Welt die Arbeit nieder und zwingen dadurch in längstens vier Wochen die besitzenden Klassen, entweder zu Kreuze zu kriechen oder auf die Arbeiter loszuschlagen, so dass diese dann das Recht haben, sich zu verteidigen und bei dieser Gelegenheit die ganze alte Gesellschaft über den Haufen zu werfen."[3]
Hören wir dagegen, was der libertär-pazifistische Aktivist Pierre Ramus zum Generalstreik damals zu sagen hat. Er versteht darunter "die gemeinschaftliche, zusammenhängend vorgehende Streikaktion sämtlicher organisierter Arbeiter eines oder mehrerer Industriezweige, die notwendig sind, um eine vollständige Brachlegung einzelner Industriezweige oder der ganzen Industrie herbeizuführen, gegen deren Unternehmertum sich der Kampf richtet; eine vollständige Brachlegung des- oder derjenigen Industriezweige, die dazu geeignet sind, den bekämpften Kapitalisten materielle oder solidarische Beihilfe, Streikbrucharbeit u.s.w.., zu leisten."[4] Hinzuzufügen ist, dass die Libertären die Mitarbeit am und im Parlamentarismus für schädlich und zur Erreichung des sozialistischen Endziels verfehlt hielten.
Für sie war der Generalstreik nicht nur Mittel zur Erreichung ökonomischer und rechtlicher Zugeständnisse, sondern auch Einübung in die praktische Übernahme der Produktion, Güterverteilung und sozialen Erneuerung, wie dies die französischen syndikalistischen Gewerkschaften 1906 in der "Charte von Amiens" formulierten.[5]
Dagegen stand die Auffassung der marxistischen und staatssozialistischen, auf die Bildung von Parteien und die politische Machtübernahme orientierten Strömungen. Für sie war die libertäre Position illusionär: Wenn das Proletariat so mächtig sei, dass es einen Generalstreik führen könne, brauche es diesen zur politischen Machtübernahme nicht, sei es zu schwach, könne es eben keinen Generalstreik führen. Luxemburg grenzt deshalb den Massenstreik als Mittel ein, mit dem "erst die Bedingungen des täglichen politischen Kampfes und insbesondere des Parlamentarismus für das Proletariat zu schaffen" seien (S. 92).
In der Praxis werden aber auch von Gewerkschaften und Parteien der II. Internationale Generalstreiks geführt. So in Belgien (1893), Schweden (1902) und Holland (1903), hier aber mit dem Ziel, das allgemeine, gleiche und freie Wahlrecht durchzusetzen. Diese scheitern, weil die sozialistischen Parteien den Boden der Legalität verlassen müssten, um sich durchzusetzen. Davor schrecken sie in aller Regel zurück. Das hat mit Verrat nichts zu tun.
Die Parteien haben nämlich mittlerweile bedeutsame Ressourcen zu verlieren: eine wachsende Anzahl von Parlamentsmandaten in Reichstagen, Landtagen, Kommunalräten, Zeitungs- und Buchverlage, wohlgeordnete, wachsende und finanziell gut ausgestattete Gewerkschafts- und Genossenschaftsorganisationen, Bildungs- und Freizeiteinrichtungen. Eine Gefährdung der Organisation zu vermeiden, ist das legitime Ziel jeder Bürokratie. Diesen Flügel erfasst Unbehagen beim Beschluss der II. Internationale im August 1904, den Massenstreik als Mittel zur Erringung von Reformen und als "letztes Kampfmittel in der Verteidigung der Rechte der Arbeiterklasse" anzusehen.
Heute wird man die historische Abgrenzung von Massenstreik und Generalstreik nicht mehr aufrechterhalten können. Im Grunde ist die Abgrenzung vor dem Hintergrund der sozialdemokratischen bzw. gewerkschaftlichen Probleme mit eigenständigen Massenaktionen zu sehen. In der deutschen Sozialdemokratie wird angesichts des preußischen Dreiklassenwahlrechts auf den Parteitagen von 1905 bis 1913 lebhaft über diese Frage diskutiert. Ich finde es bemerkenswert, dass sich bei der Befürwortung des Massenstreiks als taktisches Mittel ein Gleichklang zwischen radikalen Reformisten wie Eisner und Bernstein einerseits und linken Sozialisten wie Luxemburg andererseits ergibt. Beide Richtungen plädieren für den Massenstreik. Beide kämpfen dabei gegen die Generalkommission der Gewerkschaften und finden nur laue Unterstützung durch das Parteizentrum um Kautsky und Bebel. Die Ursache dafür dürfte darin liegen, dass sowohl Reformisten als auch Parteilinke sich nicht mehr mit dem historischen Selbstlauf zum Sozialismus abspeisen lassen wollen.[6] Für beide Strömungen ist eine aktionsorientierte Politik daher ein verbindendes Element. Im Unterschied zur Parteilinken allerdings zentrieren die Reformisten seine Anwendung auf die Frage der Erringung des allgemeinen Wahlrechts in Preußen bzw. seine Verteidigung für Reichstagswahlen in ganz Deutschland. Nach dem Jenaer Parteitag 1905, auf dem der Massenstreik als taktisches Mittel befürwortet wird, und dem Kölner Gewerkschaftskongress, auf dem vor einer solchen Festlegung gewarnt wird, geht es nun beim Mannheimer Parteitag 1906 in eine neue Runde. In diese Zeit fällt die Veröffentlichung Luxemburgs Broschüre.
Rosa Luxemburg schreibt im Kontext der russischen Revolution von 1903 bis 1906. Sie selbst hat sich illegal von Dezember 1905 bis März 1906 an den Kämpfen beteiligt und wurde in Warschau verhaftet, konnte aber im Juli über Finnland nach Deutschland flüchten. Sogleich nach ihrer Rückkehr begann sie mit der Niederschrift der Broschüre. Warum sie allerdings das reichhaltige Anschauungsmaterial, das Massen- und/oder Generalstreiks in West- und Südeuropa boten, nicht zur weiteren Begründung ihrer Position nutzte, überrascht. Ich komme darauf zurück. Nun zu Russland:
Diese Russische Revolution erschüttert die mächtigste und reaktionärste europäische Despotie. Sie findet statt in einer Situation der rapiden kapitalistischen Modernisierung Russlands. Das Land ist beides: im Aufbruch zu einer kapitalistischen Moderne und zugleich gefangen in einer autokratisch regierten Adelsherrschaft über ein Millionenheer von Bauern. Das zaristische System hat nach der Niederlage im Krimkrieg ein hohes Interesse an einer technischen Modernisierung und Industrialisierung. Sie will aber ihre Vorherrschaft auf dem Land und über den Staat nicht aufgeben. Der russische Adel thront also weiter über einer wenig entfalteten bürgerlichen Gesellschaft, die sich zaghaft in den städtischen Selbstverwaltungen, den "semstvos", zu organisieren beginnt. In den Städten herrscht eine erdrückende Bürokratie über sie. Auf dem Land regiert der Adel ausgestattet mit einer immer brüchiger werdenden Legitimation. Die orthodoxe Kirche, Unwissenheit und Aberglauben reichen nicht mehr als Herrschaftsmittel. Nackte Gewalt, Pogromhetze gegen religiöse und ethnische Minderheiten, Antisemitismus werden als Waffen eingesetzt.
Die städtische Arbeiterklasse selbst ist noch organisch mit ihren bäuerlichen Herkunftsgemeinden verbunden. Auch deshalb wohl wollte Marx noch 1881 nicht ausschließen, dass im Unterschied zu Westeuropa diese dörfliche Gemeinschaft, der "mir", zur Grundlage eines eigenen, russischen Weges zum Sozialismus werden könnte. Andererseits aber ist die Arbeiterschaft mit ca. 3 Millionen hochaggregiert, weil es modernste Technologie und Industrie ist, die von ausländischen Investoren eingeführt wird. Mit dem westlichen Kapitalismus wandert aber auch dessen Kritik mit ein. Alexander Herzen, Michail Bakunin, Wera Sassulitsch, Georgi Plechanow sind die Protagonisten eines intellektuellen Aufbruchs, der nicht mehr aufgehalten werden kann. 1899 bildet sich die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands, 1901 die Partei der Sozialrevolutionäre, beides Parteien der II. Internationale.
Die zaristische Bürokratie versucht, den proletarischen Protest zu kanalisieren, indem sie die Arbeiter unter dem Kommando der Geheimpolizei gegen die Fabrikherren organisiert. Als eine friedliche Massendemonstration unter Führung des Polizeiinformanten und orthodoxen Priesters Gapon am 9. Januar 1905 von zaristischem Militär zusammengeschossen wird, ist es damit vorbei. Dieses Massaker geht als Petersburger Blutsonntag in die Geschichte ein und leitet die völlige Delegitimierung des Zarentums ein. Dieser Blutsonntag ist ein schauriger Höhepunkt der ersten Russischen Revolution, die das Land zwischen 1903 und 1906 erschüttert. Noch einmal siegen die Mächte des alten Russland.
Die soziale, ökonomische und politische Lage war im Verhältnis zu Deutschland so verschieden, dass man ernsthaft die Frage stellen muss, weshalb Luxemburg sich auf das wenn auch aktuelle Geschehen im Russischen Reich als geeignetes Anschauungsmaterial für die deutsche Parteidiskussion konzentrierte.
Das ist der Hintergrund, auf dem wir Rosa Luxemburgs Broschüre zum Verhältnis von Massenstreik, sozialdemokratischer Partei und Gewerkschaftsbewegung besser verstehen können.
Im ersten Abschnitt grenzt sie den Massenstreik vom Generalstreik ab, wie er insbesondere in den anarchistischen, syndikalistischen und romantischen Teilen der Arbeiterbewegung diskutiert wurde (siehe oben).
Ihre zweite These ist, dass Massenstreiks nicht gemacht, auf Befehl eines Komitees oder Parteivorstandes durchgeführt werden. Dagegen hält sie, "dass … er eine historische Erscheinung ist, die sich in gewissen Moment aus den sozialen Verhältnissen mit geschichtlicher Notwendigkeit ergibt."(S. 95)
Drittens gewinnt sie aus der Analyse der russischen Streikbewegung ab März 1903 bis 1906 die Erkenntnis: "Aus vielen kleinen Kanälen partieller ökonomischer Kämpfe und kleiner zufälliger Vorgänge floss der Generalstreik [sic!!] Südrussland 1903 rasch zu einem gewaltigen Meer zusammen und verwandelte den ganzen Süden des Zarenreichs für einige Wochen in eine bizarre, revolutionäre Arbeiterrepublik."(S.103) Mit ihren ökonomischen Forderungen nach dem 8-Stunden-Tag, Arbeitssicherheit, Sozialversicherung etc. stießen diese Streikbewegungen unweigerlich auf ein autokratisches Zarentum. Die Arbeiterschaft konnte ihre ökonomischen Forderungen also nicht ohne verbriefte politische Rechte wie Demonstrations-, Presse-, Meinungs-, Versammlungs- und Organisationsfreiheit zum Erfolg führen. Aber auch umgekehrt werden diese Kämpfe für politische Rechte Ausgangspunkt für "eine allgemeine Hebung des Lebensniveaus des Proletariats, des wirtschaftlichen, sozialen und intellektuellen."(S.108) In der Tat: Die Frühlingsstreiks 1905 setzen für wesentliche Teile der russischen Arbeiterschaft den 8-Stundentag durch, 13 Jahre, bevor dies als Ergebnis der Novemberrevolution 1918 in Deutschland Realität wird (S.110)!
Und aus eben diesen Kämpfen wächst und erstarkt viertens die gewerkschaftliche Organisation. Luxemburg beschreibt, wie selbst eher ängstliche und konservative Berufsgruppen wie Kontoristen, Buchhalter, ja Polizisten sich gewerkschaftlich organisieren. Es ist also der Kampf, der die gewerkschaftliche Organisation stärkt und nicht das Taktieren also genau umgekehrt zu den Vorstellungen der deutschen Gewerkschaftsführer. "Der ökonomische Kampf ist das Fortleitende von einem politischen Knotenpunkt zum andern, der politische Kampf ist die periodische Befruchtung des Bodens für den ökonomischen Kampf."(S. 121)
Fünftens knüpft Luxemburg hier ihre Auffassung von Revolution an: "Im Unterschied von der polizeilichen Auffassung, die die Revolution ausschließlich vom Standpunkte der Straßenunruhen und Krawalle, d.h. vom Standpunkte der Unordnung ins Auge fasst, erblickt die Auffassung des wissenschaftlichen Sozialismus in der Revolution vor allem eine tiefgreifende innere Umwälzung in den sozialen Klassenverhältnissen."(S.121)
Hieraus ergibt sich die Rolle der sozialdemokratischen Organisation. Sie könne unmöglich Initiative und technische Leitung für eine solche Bewegung ausüben. Das Kommando über ihre Entstehung und im Sinne der Berechnung und Deckung ihrer Kosten sei "Sache der revolutionären Periode" selbst. Der Sozialdemokratie komme es aber zu, ihre politische Leitung zu übernehmen (S.125).
Im nächsten Kapitel arbeitet Luxemburg heraus, dass das ruhige, kontinuierliche Wachstum der Gewerkschaften nicht ausreicht, um die Voraussetzungen für eine Massenaktion zu schaffen. Sie weist auf das Beispiel der englischen Trade Unions hin, die in den damals 100 Jahren ihrer Organisationsarbeit "es nicht weiter gebracht haben als dahin, eine Minderheit der bessersituierten Schichten des Proletariats zu organisieren." (S. 133) Demgegenüber schuf sich das russische Proletariat in 1 ½ Jahren ein umfassendes Netz von Organisationen. Die spezifische Methode des Wachstums der Klassenorganisationen sei es, sich im Kampfe zu erproben und aus dem Kampfe wieder reproduziert hervorzugehen (S.134). Die politische Führungsrolle der Sozialdemokratie, bestehe in erster Linie darin, die breitesten Massen aufzuklären über "den unvermeidlichen Eintritt dieser revolutionären Periode, die dazu führenden inneren sozialen Momente und die politischen Konsequenzen" (S. 137).
Im Kapitel VII ist ihre Aussage bedeutsam, der Massenstreik erscheine "als das natürliche Mittel, die breitesten proletarischen Schichten in der Aktion selbst zu rekrutieren, zu revolutionieren und zu organisieren, ebenso wie es gleichzeitig ein Mittel ist, die alte Staatsgewalt zu unterminieren und zu stürzen und die kapitalistische Ausbeutung einzudämmen."(S. 139) Der Massenstreik wird für sie so zu einem politischen Mittel der Schulung, Organisation und Bewusstwerdung des Proletariats.
In den Schlussausführungen skizziert Rosa Luxemburg ihre Linie für den anstehenden Mannheimer Parteitag der SPD 1906: Einheit des politischen und ökonomischen Kampfes im Massenstreik, wechselseitige Beförderung beider durch Massenaktionen, wachsende Organisation gerade durch den Massenstreik, Aufklärung im Kampf, Einheit des gewerkschaftlichen und parlamentarischen Kampfes sowie die wechselseitige Beförderung beider durch Massenaktionen. Für sie war ganz klar, dass die Arbeit der Zuspitzung, die Arbeit der Aufklärung der Massen und ihre politische Führung der Sozialdemokratie zukam. Eine Gleichberechtigung zwischen Gewerkschaften und Sozialdemokratischer Partei war auf diesem Hintergrund für sie undenkbar.
Genau das aber war 1905 auf dem Kongress der freien Gewerkschaften in Köln im faktischen Widerspruch zu einem Beschluss der SPD auf ihrem Jenaer Parteitag 1905 geschehen. Die Gewerkschaften beschlossen, alle Versuche zu verwerfen, "durch die Propagierung des politischen Massenstreiks eine bestimmte Taktik festlegen zu wollen."[8] 1906 wurde die SPD von den Gewerkschaften auf eine Konsultationspflicht des SPD-Parteivorstandes bei der Generalkommission vor jeder wichtigen politischen Entscheidungen verpflichtet. Das bedeutete praktisch, dass die SPD die Oberhoheit über die sozialdemokratische Bewegung abgegeben hatte. Die Diskussion flammte zwar noch einmal 1910 bei einer Kampagne der SPD gegen das preußische Dreiklassenwahlrecht auf, diese Kampagne wurde aber vom SPD-Parteivorstand abgebrochen. Luxemburgs Niederlage war damit vollkommen.
Meine Kritik bezieht sich auf drei Punkte.
Erstens bewegt sich Luxemburg eng im Rahmen der deutschen Parteidiskussion von 1905. Ihr Beitrag verbleibt in einem damals aktuellen Richtungskampf innerhalb der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung Deutschlands. Dabei ist ihre Trennung von "anarchistischem General-" und "sozialdemokratischem Massenstreik" künstlich; er ist theoretisch wie praktisch nicht haltbar.
Zweitens bleibt ihre Kritik am Zustand der deutschen Gewerkschaften und Sozialdemokratie inkonsequent, sie reicht nicht zu einem nüchternen Blick auf das Terrain, auf dem sie ihren letzten Endes erfolglosen Kampf führt.
Drittens verengt sie die Diskussion der Ergebnisse der Massen- und Generalstreiks seit dem letzten Quartal des 19. Jahrhunderts und der russischen Revolution von 1903 bis 1906. Die neue Qualität von Selbstorganisation und Selbstregierung, die die russischen Arbeiter in den Räten erreichen, bleibt ihr verborgen.
Luxemburg bleibt in ihrer Kritik an den "gewerkschaftlichen Pragmatikern" auf dem Boden der deutschen Organisationskultur. Diese war schon damals heftiger Kritik ausgesetzt. Jean Jaurès rief 1904 auf dem Amsterdamer Kongress der Internationale aus: "Hinter der Starrheit eurer theoretischen Formulierungen, die euch Genosse Kautsky bis ans Ende seiner Tage liefern wird, verbergt ihr vor eurem und dem internationalen Proletariat, dass ihr unfähig seid zu handeln." Und der französische Sozialist Gustave Hervé äußerte 3 Jahre später auf dem Stuttgarter Kongress, dass die deutschen Sozialdemokraten "nur noch Wahl- und Zahlenmaschinen einer Partei mit Mandaten und Kassen" seien: "Mit Stimmzetteln wollt ihr die Welt erobern."[9] Vergessen wir nicht: auch Bebel und Kautsky sind damit gemeint.
Luxemburg berücksichtigt nicht, dass die Gewerkschaften in Anerkennungskämpfen gegen Obrigkeit und Kapital erhebliche Geländegewinne verzeichneten. Es waren gerade diese Erfolge, die ihre Kritik so erfolglos werden ließen. Denn nach dem Scheitern der Sozialistengesetze 1890 waren alle Reichskanzler davon überzeugt, dass die sozialdemokratische Bewegung nicht mehr zu zerschlagen sei. Um 1905/06 entscheidet sich die deutsche Reichsleitung, von weiteren rechtlichen Illegalisierungs- und Repressionsgesetzen abzusehen.[10] Ab da liegen die Gewerkschaften nicht nur im Deutschen Reich im Stellungskampf mit den herrschenden Gewalten. Der Kampf gegen sie wird nun nicht mehr überwiegend administrativ, sondern auch politisch durch nationalistische und rassistische Massenorganisationen geführt.
Luxemburgs Kritik am "Opportunismus" und "Bürokratismus" der Gewerkschaften hängt in der Luft. Sie kann keine organisatorische Alternative anbieten, ohne in den Geruch des Anarchismus zu geraten. Sie kann letztlich nur auf Einsicht und Umkehr der Partei- und Gewerkschaftsmehrheiten hoffen. Sie muss Appelle an eben die Partei und Gewerkschaft richten, die selbst den Massenstreik offensichtlich nicht wollen. Die Tragweite des Kölner Gewerkschaftskongresses 1905 wird deutlich, wenn man den ebenfalls 1905 geführten Kampf der 200.000 Bergleute im Ruhrgebiet in die Betrachtung mit einbezieht. Die Bergleute kämpfen für den Achtstundentag, höhere Löhne, besseren Arbeitsschutz und Anerkennung der Arbeiterorganisationen. Er wird von den Gewerkschaften abgebrochen, weil man (Zitat): "das Wirtschaftsleben nicht zum Erliegen bringen wollte".[11]
Diese Haltung bereitet der Burgfriedenpolitik der deutschen Sozialdemokratie und dem Bündnis von Gewerkschaftsmehrheit und preußischer Militärbürokratie 19141918 den politischen Boden. Gegen diese Tendenzen und Tatsachen ist Luxemburg sicher nicht blind, aber sie macht sich Illusionen über den Grad der Integration der Organisationen, der von der kleinen libertären Bewegung und den Reformisten klarer gesehen wird als von ihr. Die deutsche Sozialdemokratie war zu diesem Zeitpunkt bereits ein tönerner Koloss, soweit es um eine emanzipative Bewegung ging. Das war aber nicht dem Verrat einer rechten Führung an einer linken Basis geschuldet. Die deutsche Arbeiterschaft bot in ihrer überwiegenden Mehrheit und Grundstimmung keinen Resonanzboden für Endziele, wie sich spätestens 1918 erweisen sollte: die frei gewählten Arbeiter- und Soldatenräte gaben ihre Macht freiwillig auf und ließen den reaktionären wilhelminischen Staatsapparat fast völlig ungeschoren. Ihre sozialdemokratischen Endziele waren und blieben verschwommen. Die Einübung der deutschen Lohnabhängigen in Selbstorganisation und Selbsttätigkeit war und blieb völlig unterentwickelt. Sie verharrten im Zustand der negativen Integration der organisierten Arbeiterbewegung" in den wilhelminischen Obrigkeitsstaat[12].
Rosa Luxemburg wählt eine deutsche Bühne, nicht einmal eine europäische, geschweige denn die Internationale. Luxemburg verengte die Diskussion damit ohne Not. Selbst die auf die Erringung parlamentarischer Rechte orientierten Bewegungen ergeben eine recht eindrucksvolle Bilanz.[13] In Belgien fanden 1886, 1887, 1891 und 1893 politische Massenstreiks statt, in denen die Arbeiter das wirtschaftliche Leben zum Stillstand brachten und für sich das Wahlrecht erkämpften. Im September 1904 streikten die norditalienischen Arbeiter in Massen, um erfolgreich eine Zusicherung der liberalen Regierung zu erreichen, bei Klassenkämpfen auf die Entsendung von Truppen zu verzichten. Ende Oktober/Anfang November 1905 streikte die finnische Arbeiterschaft zur Erlangung des allgemeinen Wahlrechts und Aufhebung der Pressezensur, was durch kaiserliches Manifest zugesagt wurde. In all diesen Kämpfen trat die Arbeiterschaft den Beweis an, dass ein Massen- oder Generalstreik nicht nur zu organisieren, sondern auch mit guten Ergebnissen geführt werden konnte. Es erstaunt, dass sich von all dem in Luxemburgs Broschüre kein Wort findet. Meine These ist, dass Luxemburg die deutsche Arbeiterbewegung, deren Organisation ja quantitativ und von ihrer Breite her beeindruckend war, als zentrales Kettenglied für eine sozialistische Entwicklung in Europa überschätzte und sich daher ihr Blick auf die Auseinandersetzungen ihrer vorrangigen Wirkungsstätte konzentrierte.
Die Zurichtung des geschichtlich außerordentlich bedeutsamen Stoffes der Russischen Revolution auf eine letztlich parteitaktische Auseinandersetzung wird an einer Stelle besonders deutlich. Bemerkenswerter Weise behandelt Luxemburg an keiner Stelle die Rolle der russischen Arbeiterräte, die als faktische Gegenmacht in der Revolution das soziale Leben über weite Strecken organisierten.[14] Dies zu einem Zeitpunkt, als alle sozialistischen Fraktionen Russlands, die Räte als eine Form der direkten, echten Demokratie, als Organe ansehen, die "auf der Grundlage demokratischer Selbstverwaltung geeignet waren, die revolutionären Ansprüche der unterdrückten Schicht zu vertreten."[15] Die Erfahrung von Kraft und Stärke, von der Fähigkeit zur Selbstorganisation und Übernahme demokratischer Selbstregierung auf neuer Stufenleiter, alles dies wandert durch die Seiten ihrer Broschüre, aber ohne in dem Erscheinen der Räte eine neue Qualität des sozialen Kampfes der Arbeiterschaft aufzudecken. Letztlich bleibt so Luxemburgs Fokus auf parlamentarische Vertretungen beschränkt, ihre Weiterentwicklung oder Radikalisierung wird nicht einmal in Ansätzen diskutiert.
Welchen Nutzen können wir heute aus einer Auseinandersetzung mit "Massenstreik, Partei und Gewerkschaften" ziehen? Ich möchte dazu keine abstrakte Diskussion führen, sondern einfach die derzeitige Realität abtasten:
Ich sehe erstens nicht, dass die heutige real existierenden Arbeiterschaft sich als Subjekt von Massenstreiks profiliert hätte. Dies hat nicht nur mit der verständlichen Angst vor Arbeitsplatzverlust und sozialem Abstieg zu tun. Eine Alltagskultur, auf der solche Vorstellungen wachsen könnten, ist höchstens noch in Spuren vorhanden. Selbstorganisation und spontanes Handeln gehören nicht zu den Stärken der deutschen Arbeiterschaft. Die Affäre Sarrazin zeigt, dass auch die "arbeitnehmerischen Milieus" gespalten sind zwischen demokratischer Empörung und wohlstandschauvinistischem Ressentiment "gegen Unten". Die Arbeiterklasse als eine Klasse mit einheitlicher Lage, einheitlicher Orientierung und als DAS Subjekt der Veränderung ist heute nicht ansatzweise Realität, wahrscheinlich schon immer ein Mythos gewesen.[16]
Zweitens: eine Arbeiterpartei, wie sie Rosa Luxemburg noch als Appellationsinstanz gesehen hat, existiert schon lange nicht mehr. Die politische Repräsentanz der Lohnabhängigen findet sich heute in drei Parteien!
Drittens: Bislang handlungsleitend in der Gewerkschaftsbewegung sind noch immer Vorstellungen von Sozialpartnerschaft und Co-Management. Immer noch ist ein Bündnis zwischen "Big Labour" und "Big Capital" aktiv. Es ist diese Kontinuität, die seit dem Burgfrieden 1914 letztlich ungebrochen ist. Ich erinnere an die Mobilisierungen 1976 und 1999 zur Unterstützung der Ziele der Atomindustrie, die Demobilisierung der breiten Empörung über die Hartz-Gesetze Sommer 2004. Zuletzt 2008 zeigt die Aushandelung der Abwrackprämie zur Rettung der Automobilindustrie anstelle einer Konversion zu ökologisch sinnvollen Produktionslinien die Realität gewerkschaftlichen Handelns. Dazu gehört auch die hingenommene Entlassung der Hunderttausende Leiharbeiter in den Kernbereichen der deutschen Industrie.
Was bleibt also? Eine mit Herzblut geschriebene Analyse wichtiger Aspekte der Russischen Revolution 1905? Eine empörte Auseinandersetzung mit engstirniger selbstgefälliger Bürokratie 1906? Insgesamt: Eine historische Reminiszenz? Es wäre schön, etwas anderes sagen zu können. Theorie soll der Orientierung dienen und Stellung beziehen in der politischen Auseinandersetzung aber auch für beides taugen. Innerorganisatorische Polemiken bleiben in ihrem Wahrheitsgehalt begrenzt, auch wenn die Autorin Rosa Luxemburg heißt.
[1] Der Artikel stellt die überarbeitete Version eines Referates dar, das ich im Rosa-Luxemburg-Club Hannover Anfang Mai 2011 gehalten habe.
[2] Darstellung stützt sich auf Julius Braunthal, Geschichte der Internationale, Band I; 3.Auflage Berlin-Bonn 1978; S. 291-309
[3] Friedrich Engels, Die Bakunisten an der Arbeit; MEW Bd. 18; Berlin 1976, S. 479
[4] Pierre Ramus, Generalstreik und direkte Aktion, Berlin 1910 (Nachdruck 1981); S. 30
[5] vgl. Erich Gerlach, Selbstbestimmte Belegschaftskooperation gegen kapitalistische Hierarchie und B?rokratie, in: Heidelberger Bl?tter. Zeitschrift f?r Probleme der Arbeit und der Gesellschaft . Mitbestimmung und Selbstbestimmung II. 14./16. November 1969 ?April 1970. Hrsg. von der Druck- und Verlagskooperative Heidelberg/Frankfurt/Berlin, o. J. [1970], S. 308?319.
[6] Mit den "Hottentottenwahlen" 1907, bei denen die Sozialdemokratie nach einer nationalistischen und rassistischen Kampagne erstmals nach 1871 bei den Reichstagswahlen Sitzverluste erlitt, war es mit dem "Selbstlauf" sowieso vorbei.
[7] Zitiert nach Rosa Luxemburg, Schriften zur Theorie der Spontaneität; 3. Aufl. Reinbek b. Hmbg. 1970; S. 89-161
[8] Dieter Schuster, Die deutsche Gewerkschaftsbewegung, 5. Auflage Düsseldorf 1976; S. 32
[9] Annette Jost, Gewerkschaften und Massenaktion; in: Hrsg. Pozzoli, Jahrbuch Arbeiterbewegung, Bd. 3 Die Linke in der Sozialdemokratie, Ffm. Dezember 1975; S. 74-100; hier: S. 84
[10] Groh, S. 81
[11] Verein für Geschichte und Zeitgeschichte der Arbeiterbewegung, "Brüder, zur Sonne, zur Freiheit", Ffm. O.J; S. 36
[12] Vgl. Dieter Groh, Negative Integration und revolutionärer Attentismus; Ffm-Bln-Wien 1974
[13] vgl. Braunthal, aaO.
[14] Vgl. Oskar Anweiler, Die Rätebewegung in Russland 1905-1921; (Nachdruck) Leiden 1958; S. 63ff
[15] Anweiler, a.a.O.; S. 79
[16] Im Unterschied zu den Annahmen im "Kommunistischen Manifest", dass sich die Arbeiterklasse quantitativ und qualitativ vereinheitliche und ihre Entfremdungs- oder Verelendungserfahrung sie als revolutionäres Subjekt prädestiniere, war spätestens Ende des 19. Jahrhunderts nicht mehr haltbar. Im Gegenteil differenzierte sie sich bei quantitativem Wachstum immer weiter aus, bis heute. Das gesehen und theoretisch aufgearbeitet zu haben ist das Verdienst Bernsteins, auch wenn sich seine politischen Schlussfolgerungen daraus als ebenso haltlos erwiesen wie die der orthodoxen Marxisten.
https://sopos.org/aufsaetze/4de3732a760d2/1.phtml
sopos 5/2011