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"Ungesühnte Nazijustiz" – Zur Geschichte der Aufarbeitung nationalsozialistischer Justizverbrechen

Rezension

von Utz Anhalt (sopos)

Stephan Alexander Glienke, Die Ausstellung 'Ungesühnte Nazijustiz' (1959-1962). Zur Geschichte der Aufarbeitung nationalsozialistischer Justizverbrechen. Baden-Baden 2008.

Die 68er Studierendenbewegung in Deutschland war auch ein Generationenkonflikt zwischen den Kindern der NS-Täter und ihren Eltern. Nur wenigen ist jedoch bekannt, dass bereits Jahre zuvor Studierende eine kritische Aufarbeitung der NS-Geschichte eingefordert hatten und eine Ausstellung zu den Verbrechen deutscher Juristen unterm Hakenkreuz gestalteten. Der Druck des Obrigkeitsstaats, die Verfolgung der kritischen Studierenden und die Diffamierung der Ausstellung übertrafen die Reaktionen der politischen Rechten bei der Wehrmachtsausstellung damals bei weitem. Glienke stellt die Frage, welchen Einfluss die ideologischen Vorgaben des Kalten Krieges auf die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit hatten. Insbesondere zeigt er, wie antidemokratische Denkstrukturen in den 1950er und frühen 1960er Jahren erneut hegemonial werden konnten. Die "ungesühnte Nazijustiz" ist für ihn ein Beispiel, um die gesellschaftlichen Leitlinien und Tabus der Adenauer-Zeit unter die Lupe zu nehmen. Er demonstriert an diesem Fallbeispiel, wie wenig die postulierte demokratisch-freiheitliche Grundordnung mit der Realität autoritärer Mentalitäten gemeinsam zu tun hatte. Die Studierenden, die eine kritische Ausstellung zu unfassbaren Verbrechen von Juristen gestalteten, Juristen, die nach 1945 in hohen Ämtern saßen, galten als "Nestbeschmutzer" und wurden massiv in ihrer Arbeit behindert. Dennoch schafften sie es, eine öffentliche Diskussion in Gang zu setzen, die die NS-Zeit unter neuen Fragestellungen betrachtete. Sie brachen das Tabu, vergangene Verbrechen von Juristen zu thematisieren, die von sich behaupteten, "ja nur Recht gesprochen" zu haben. Die Aufarbeitung der Verbrechen der Nazi-Juristen gelangte zwar nicht zur gesellschaftlichen Hegemonie, wurde aber ein Meilenstein in der Faschismusdiskussion der 1968er Bewegung. Die Studierenden schafften es vor allem, überhaupt eine kontroverse Auseinandersetzung über den deutschen Faschismus in die Öffentlichkeit zu bringen.

Glienke hebt die Bedeutung der damaligen Diskussion für das heutige Deutschland nach dem Zusammenbruch der DDR hervor. Zwar werde die Geschichte der Bundesrepublik im publizistischen Mainstream des vereinten Landes als Erfolgsgeschichte des bürgerlich-demokratischen Rechtsstaats betrachtet, die Ausstellung "Ungesühnte Nazijustiz" zeige jedoch die ideologische Verzerrtheit dieser Darstellung. "Wiederaufbau" und "Wirtschaftswunder" verdeckten als Kern einer unkritischen Geschichtsschreibung, dass dieser wirtschaftliche Neuanfang mit einer Integration der NS-Eliten in den Rechtsstaat verbunden war. Schwer Belastete Juristen in der westdeutschen Justiz machten bereits kurz nach 1945 erneut oder kontinuierlich Karriere. Sie galten als unverzichtbare Funktionsträger. Die zweite deutsche Demokratie entwickelte sich demnach erst in der Konfrontation mit den weiter schwärenden autoritären Mentalitäten, so in der Spiegel-Affäre 1962 und 1968 in der Studierendenrevolte.

Unter anderen ideologischen Vorzeichen wurden NS-Verbrecher des Justizapparats in der DDR sehr wohl verfolgt. Und die dortige "Blutrichter"-Kampagne blieb im Westen nicht unbekannt. Berliner Studierende durchforschten daraufhin Akten ehemaliger NS-Juristen und fragten bei tschechoslowakischen und ostdeutschen Institutionen nach Quellenmaterial. Diese Recherche in den Archiven des Ostens lag daran, dass sie in westlichen Archiven keine Einsicht erhielten und brachte ihnen stante pede den Vorwurf der ideologischen Nähe zur DDR oder gar der "kommunistischen Wühlarbeit" ein.. Die DDR hatte das Thema "Nazirichter" im Propagandakampf gegen die BRD genutzt, und die kritischen Studierenden sahen sich jetzt als Agenten des Ostens dargestellt. Kultus- und Justizministerien, aber auch Universitätsleitungen liefen Sturm gegen die Ausstellung. Der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS), damals noch eine Studierendenorganisation der SPD, gestaltete die Ausstellung mit. Es kam zum Krach mit der Mutterpartei, der 1961 zum Ausschluß des SDS aus der SPD führte. Interessant daran ist, dass die Ausstellung zwar historisch ausgerichtet war, jedoch damalige politische Konfliktlinien verstärkte. Die SPD grenzte sich von ihrer Studierendenorganisation ab, die Münchner FDP von der Liberalen Hochschulgruppe - die liberalen Studierenden unterstützen die Ausstellung nämlich ebenfalls.

Glienke betont, dass der Blick auf das Jahr 1968 und die damalige Auseinandersetzung der Studierenden mit der NS-Zeit verdeckt, dass bereits Ende der 1950er Jahre Gruppen und Einzelpersonen kritische Arbeit leisteten. Diese Minderheit lieferte einen Nährboden, auf dem die spätere Massenbewegung der 1968er fußen konnte. Der Autor ermöglicht hier am Beispiel der Ausstellung "Ungesühnte Nazijustiz" einen erfrischend differenzierten Blick auf die 1950er Jahre. Bereits Jutta Ditfurth erörterte in ihrer Biografie über Ulrike Meinhof, dass die Sicht auf die 1950er Jahre als ein "Spießerparadies" zumindest verkürzt ist, bezieht dabei allerdings eindeutig Partei für die 1950er Linke. Gemeinhin gelten die 1950er Jahre als eine Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs, in denen die Westdeutschen sich unpolitisch gerierten und die NS-Vergangenheit durch Steigerung des Bruttosozialprodukts, Eigenheim und Italienurlaub kompensierten. Die Frankfurter Ökosozialistin zeigt jedoch, dass diese 1950er hochpolitisch waren , mit einer Linken, die die Schrecken des Faschismus noch selbst erlebt hatte und gegen die Nazis anging, die laut Brecht "als Filzlaus in den Ritzen aller hohen Ämter" saßen.

Glienkes Verdienst ist, dass er diesen etwas anderen Blick auf die späten 1950er und frühen 1960er Jahre in einer akribisch und minutiös ausgearbeiteten Geschichtsarbeit darstellt und am Beispiel belegt. Zum einen wird deutlich, dass es sich um eine aufbegehrende junge Generation handelte, um Studierende, die kritische Fragen stellten. Zum anderen beteiligten sich an der Ausstellung aber auch alte Antifaschisten wie Martin Niemöller, solidarisierten sich Professoren wie Ernst Wolf und Gerhard Gollwitzer. Hinter der Kontroverse um die Ausstellung scheint der viel größere Kampf um die Richtung der bundesdeutschen Demokratie durch, insbesondere in der SPD. Es ging damals nicht nur um einen Konflikt zwischen Mutterpartei und "aufsässigen" Söhnen und Töchtern. In die Zeit fällt zum Beispiel auch das Parteiausschlussverfahren gegen den SPD-Linken Viktor Agartz. Der musste 1958 die SPD verlassen, wegen "fortgesetztem parteischädigendem Verhalten". Agartz hatte im DGB und in der SPD sozialistische Inhalte vertreten und den Kurs zur "Volkspartei" scharf kritisiert.

Glienkes Buch ist auch deshalb spannend, weil es die Literatur über den SDS sowie die von Gregor Kritiditis 2008 veröffentlichte Studie über die freiheitliche linke Strömung jenseits von Stalinismus und SPD-Revisionismus in der Adenauer-Ära[1] an einem zentralen Punkt vertieft: Glienke zeigt die Vorzeichen der kritischen Studierendenbewegung am Schnittpunkt von NS-Erbschaft und Demokratisierung. Zusammen eröffnen beide Arbeiten ein Fenster in eine kaum aufgearbeitete Epoche der Nachkriegsgeschichte: 1968 fiel keinesfalls vom Himmel, nachdem ein Polizist Benno Ohnesorg erschoss. Wie beide Studien nachweisen, forderten jüngere und ältere Linke, die die NS-Zeit überlebt hatten, "mehr Demokratie", als Willy Brandt jemals zugelassen hätte und einen freiheitlichen Sozialismus, der sie sowohl bei den Stalinisten im Osten wie auch bei der SPD im Westen ganz oben auf die Liste der Outlaws setzte.

Glienke zeichnet akribisch die Widerstände nach, mit der die demokratisch-sozialistische Opposition zu kämpfen hatte: Konservative wie die Journalisten der FAZ warfen den Studierenden vor, mit der Ausstellung ein "politisches Süppchen" kochen zu wollen, während es darum ginge, "die Rechtsverhältnisse wieder in Ordnung zu bringen". Dabei unterstellten sie den Ausstellungsgestaltern, möglicherweise ebenso übel zu sein wie die NS-Richter. Solche Stellungnahmen in der Zeit der Ausstellung sind wichtig, um ideologische Muster der BRD-Geschichte zu erkennen. Glienke hat hier wahre Juwelen ausgegraben. Denn es handelt sich nicht nur um das altbekannte Muster "rot gleich braun". Der Apparat brachte schwerste NS-Verbrecher in hohe Positionen und bezeichnete dies als "Rechtsverhältnisse in Ordnung bringen", zugleich wurden die Aufklärer mit den Verbrechern verglichen. Ein argumentatives Muster, in dem die BILD-Zeitung wenige Jahre später demonstrierende Studenten mit der SA verglich, scheint bereits durch. Die gängige Diffamierung der an der Ausstellung Beteiligten stellte sie als Agenten oder zumindest nützliche Idioten der DDR dar. Ob dahinter immer eine böse Absicht stand, lässt Glienke offen. Es könnte sich auch um eine ehrliche Hysterie und Paranoia gehandelt haben.

Der SDS klärte vehement darüber auf, dass die Ausstellung keine DDR-freundlichen Tendenzen habe, sondern einzig dazu diene, deutlich zu machen, dass Juristen, die in der NS-Zeit Recht gebeugt hätten, in einer Demokratie nichts in der Justiz zu suchen hätten. Lediglich das Material sei aus dem Ostblock. Mit einer ideologischen Nähe habe dies nichts zu tun. Offensichtlich waren die Aufklärer mit bestem Gewissen zwischen die Frontlinien des Kalten Krieges geraten. Die Trennung zwischen SPD und SDS war allerdings nicht mehr aufzuhalten. Deutlich erkennt Glienke die Widersprüchlichkeit einer SPD, die den Antifaschismus und die Reinigung der Justiz von NS-Verbrechern immer zu ihren Kernanliegen erklärt hatte. Immerhin hatten die Sozialdemokraten im Gegensatz zu den bürgerlichen Parteien eine lupenreine Tradition als Gegner und Opfer des Faschismus. Während sich der SPD-Vorstand dem rechten Geist anbiederte und die Aufklärung behinderte, forderten SPD-Abgeordnete und SPD-Publizisten eine radikale Entnazifizierung.

Der SDS beließ es aber nicht bei der Mitwirkung an der Ausstellung, sondern stellte gegen mutmaßliche NS-Verbrecher unter den deutschen Juristen Strafanzeige. Diese Strafanzeigen führten in den seltensten Fällen zu Verurteilungen, und die Strafen waren zumeist äußerst gering. Oft saßen den Angeklagten ähnlich vorbelastete Richter gegenüber.

Die Ausstellung "Ungesühnte Nazijustiz" fand ein reges Echo in den Medien. In den Konflikten um die Ausstellung "Ungesühnte Nazijustiz" zeigten sich die Propagandafronten des Kalten Kriegs. Die Studierenden forderten, die NS-Verbrecher aus ihren bundesdeutschen Ämtern zu entlassen. Dies aber war auch eine Forderung der DDR-Machthaber. Das sprichwörtliche "Geh doch nach drüben" kennzeichnete hier einen Verdacht schon bei einer in einem Rechtsstaat nur allzu richtigen Position. In der DDR bot die ganz reale Kontinuität der NS-Juristen allerdings einen ideologischen Hebel, um den Westen als Sammelplatz der Faschisten zu präsentieren. In der Recherche zur Ausstellung kam auch im Westen Unappetitliches ans Licht. So hatten sich die amerikanischen Besatzer nach einer kurzen Entnazifizierung entschlossen, auch schwere Verbrecher in den neuen BRD-Institutionen ihre Arbeit tun zu lassen: Denn man brauchte sie gegen die Sowjetunion.

Glienkes Arbeit gibt einen Einblick in das Panoptikum einer bisher kaum kritisch untersuchten Phase der deutschen Nachkriegsgeschichte. Seine Arbeit zeigt, dass es nicht "der Staat", "die Alliierten" und auch nicht die Vorstände der großen Parteien waren, die die Nachkriegsdemokratie mit Inhalt füllten. Kritische Minderheiten nahmen den Rechtsstaat ernst, füllten ihn mit Leben und nahmen dafür Verleumdung und Verfolgung in Kauf. Stephan Glienkes Studie ist ein wichtiger Baustein für eine differenzierte Sicht auf den bürgerlich-demokratischen Rechtsstaat der 1950er und 1960er Jahre und Rüstzeug, wenn im "neuen Deutschland" seit 1990 wieder versucht wird, die BRD als Musterländle der Freiheitsrechte zu polieren. Das Buch gehört als Lektüre in Seminare zu den 1950er und 1960er Jahren. Wie wäre es mit einer Ausstellung über "Die Ausstellung 'Ungesühnte Nazijustiz'"?

Anmerkungen

[1] Gregor Kritidis, Linkssozialistische Opposition in der Ära Adenauer. Ein Beitrag zur Frühgeschichte der Bundesrepublik. Hannover 2008.

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sopos 5/2011