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Was ist "Linkssozialismus" und zu welchem Zweck befassen wir uns damit?

Rezension

von Stefan Janson

Christoph Jünke (Hrsg.); Linkssozialismus in Deutschland, Jenseits von Sozialdemokratie und Kommunismus; VSA-Verlag Hamburg 2010; 261 Seiten (Abk.: LS)

Klaus Kinner (Hrsg.); DIE LINKE – Erbe und Tradition, Teil 2: Wurzeln des Linkssozialimus; in der Reihe "Geschichte des Kommunismus und Linkssozialismus" Band XII; Karl Dietz Verlag Berlin 2010; 320 Seiten (Abk.: EuT)

"Wirklich fassen lässt sich der Linkssozialismus weder formal-begrifflich noch politisch-programmatisch. Konzeptionell fassen lässt er sich meines Erachtens nur historisch, nur im historisierenden Zugriff auf das Schicksal der sozialistischen Emanzipationsbewegungen des 20. Jahrhunderts, und nur, wenn man ihn weniger als ein analytisches Konzept denn als eine historische Problemkonstellation versteht." Christoph Jünke, Einleitung LS, S. 9

In der Tat ist es nach Durchsicht der beiden Bände schwer, eine systematische Analyse und strukturell hinreichende Definition der Strömungen, Gruppen, Parteien und Individuen, die sich "am Rande, zwischen und jenseits der beiden Hauptströmungen" (Jünke LS, S. 11) der historischen Arbeiterbewegung bewegten zu leisten. Jünke bezeichnet als ihre Gemeinsamkeiten das Festhalten am Programm der Befreiung der Menschen von Ausbeutung, Entfremdung und Unterdrückung, die Verweigerung der Integration in kapitalistische wie auch einer Unterordnung unter eine sozialistische Erziehungsdiktatur sowie ihren Einsatz für die umfassende Selbsttätigkeit der zu emanzipierenden Subjekte. Hier trifft er sich mit dem Ansatz von Gregor Kritidis, der in seinem Systematisierungsversuch in EuT die Stichworte "Eigenständiges Handeln", "Selbstorganisation", "Außerparlamentarische politische Organisierung", "Kritische Abgrenzung gegen den Parteikommunismus und Sozialdemokratie" nennt. Er ergänzt diese Merkmale um die Orientierung auf praktische Kooperation, die Notwendigkeit einer Aktualisierung sozialistischer Theorie und einen großen Stellenwert für eine internationalistische Ausrichtung.[1] Insoweit sind aus der Gesamtschau beider Bücher schon Elemente für eine Definition des Linkssozialismus zu gewinnen, was für die historische Einordnung von Organisationen und Personen interessant und hilfreich sein dürfte.

Beide Bände zusammen bieten eine Fülle von biographischem und historischem Material über die Erscheinungen des Linkssozialismus vom Austromarxismus. Erfasst wird auch das etwas vergessene Sozialistische Büro. Personell reicht die Bandbreite von Rosa Luxemburg bis Peter von Oertzen. Besonders die Miniaturen über Paul Levi, Arkadij Gurland und Kofler in EuT bieten viel Unbekanntes über zu Unrecht in den Schatten geratene Persönlichkeiten der historischen Arbeiterbewegung. Die Beiträge von Tostorff über Linkssozialisten in der Spanischen Revolution und von Klein über linkssozialistische Strömungen in der SED in LS beleuchten Seiten der praktischen Arbeit von Linkssozialisten am Ziel der Emanzipation, die bislang weitestgehend unbelichtet geblieben sind. Auch diese Beiträge sind wertvolle Hinweise auf das, was definitorisch in das Spektrum linkssozialistischer Theorie und Praxis einzuordnen sein dürfte. Ein Manko liegt allerdings darin, dass sich die Beiträge sehr auf den deutschsprachigen Raum konzentrieren und damit linkssozialistische Ansätzen wie der POUM, der französischen PSU oder später der Sozialistischen Volkspartei in Dänemark etc. zu wenig bis kein Raum gegeben wird. Andrea Gablers Beitrag über die für die Weiterentwicklung emanzipatorischer Theorie gar nicht zu überschätzende französische Gruppe "Socialisme ou Barbarisme" ist für beide Bände eine Ausnahme.[2]

Das wachsende Interesse an dieser Strömung in der sozialistischen Bewegung leitet sich nicht nur aus dem Versuch der Partei Die Linke her, eine erweiterte historische Grundlegung für ihre programmatische Diskussion herbeizuführen, wie Lothar Bisky ausführt.[3] Jünke erweitert diese Fragestellung, indem er das Interesse am Linkssozialismus vor dem Hintergrund "neuer Diskussionen über die Krise des Kapitalismus und die Möglichkeiten eines Sozialismus des 21. Jahrhunderts"[4] diskutiert.

Soweit sich darin ein aktuell begründetes legitimatorisches Interesse am Linkssozialismus ausdrückt, dürfte dies nicht sehr weit reichen und auch wenige Früchte einbringen. Der so sehr weit gefasste Linkssozialismus führt in seinen theoretischen Erträgen dort nicht weiter, wo er sich darin erschöpft, als "bloßer und vorübergehender Ersatz für diese Bewegung (zur Umwandlung der Gesellschaft – d.Verf.) in den Zwischenzeiten ihrer Erstarrung," zu wirken, als "unentbehrlicher Gärstoff…, der die Gesellschaft vor der Todesstarre bewahrt.".[5] Diese Phase war spätestens mit den Kampfzyklen der sich neu bildenden und soziologisch anders zusammengesetzten sozialen Bewegungen um und nach 1968 abgeschlossen. Die Arbeiterorganisationen haben sich spätestens seit dem in ihrer übergroßen Majorität als Verteidiger des Status Quo (KPF, KPI,) erwiesen, bestenfalls als vorsichtig reformerische Modernisierungsagenturen bzw. später sogar als Agenturen neoliberaler Konterrevolution verhalten (SPD, SPÖ, Labour). Viele Frontstellungen und Abgrenzungen des Linkssozialismus in dem eingangs dargestellten Sinne sind durch die Auflösung der alten sozialdemokratischen und parteikommunistischen Milieus und Organisationen obsolet: der Wohlfahrtsstaat der fordistischen Periode befindet sich in Auflösung, der Staatskapitalismus hat sich zum Realkapitalismus gewandelt. Seine Agenturen außerhalb sind im Großen und Ganzen nicht mehr von Belang. Und es ist wohl auch nicht zu viel gefragt, ob die nach wie vor wichtigen Fragestellungen des Linkssozialismus z.B. in der WASG/DIE LINKE eine wirkliche Heimat gefunden haben. Diese Formationen sind viel zu sehr an der Retrospektive einer fehlgeschlagenen Emanzipationsbewegung orientiert, als dass sie wirklich einen Boden für linkssozialistische Fragestellungen abgeben könnten.

Als spezifisch linksozialistische Bestandteile eines sich neu orientierenden Feldes emanzipatorischer Theoriebildung mit aktuellem Gehalt zu bezeichnen sind aber meines Erachtens:

Als Passepartout zu den aktuellen Problemen und Desiderata emanzipatorischer Theorie taugt der Linkssozialismus damit also nicht. Mit dem Ende der Arbeiterbewegung im fordistischen Wohlfahrtsstaat sind zugleich eine Reihe von Anfragen und Problemstellungen entstanden, die mit diesem Instrumentarium nicht hinreichend erfasst werden können. Darunter fasse ich Fragen nach dem Erhalt der natürlichen Umwelt, nach der Emanzipation der Frauen, den neuen Formen des Wissens und der Wissensvermittlung, der Globalisierung des Elends, einer adäquaten Analyse der sozialen Kämpfe außerhalb der Metropolen. Dabei ist zuzugestehen, dass der Linkssozialismus das Verdienst hat, sich bei der Unterstützung der antikolonialen Bewegungen (beispielsweise Algerien) vom Eurozentrismus oder der dreist machtzentrierten Diffamierung des Kampfes in Vietnam und Algerien durch die KPF bzw. auch SPD abgegrenzt zu haben.

Und zu guter letzt: Die "neuartigen Integrationsprozesse spätbürgerlicher (?? – d.Verf.) Klassengesellschaft", die zu nichts weniger als "einem seit den fünfziger Jahren veränderten Verhältnis von Konsens und Zwang in der spätbürgerlichen Gesellschaftsform"[9] geführt haben und führen, dürften mit dem Instrumentarium von Bourdieu, Castoriadis, Foucault und Debord besser, weil adäquater zu analysieren sein als mit den in den beiden Bänden enthaltenen linkssozialistischen Ansätzen der 50er und 60er Jahre. An die zentrale Frage, welche Selbstblockierungen die beherrschten Klassen zu überwinden haben, um zu einer fundamental demokratischen, selbstregierten Gesellschaft durchstoßen zu können, müssen wir heute wohl anders herangehen.

Anmerkungen

[1] Gregor Kritidis, Zu den Charakteristika des "Linkssozialismus" in der Ära Adenauer, EuT, S. 97-112

[2] Andrea Gabler, Arbeitserfahrung und revolutionäre Politik, LS, S. 139ff.

[3] Lothar Bisky, Vorwort zu EuT, S. 15

[4] Christoph Jünke, Begriffliches, Historisches und Aktuelles zur Einleitung ,LS S. 7

[5] Christoph Jünke, Theorie in praktischer Absicht: Leo Koflers Linkssozialismus, EuT, S. 223, 236

[6] Richard Heigl, Das Unbehagen am Staat: Staatskritik bei Abendroth und Agnoli; LS, S. 171, 174

[7] Michael Buckmiller; Peter von Oertzen – Marxist und demokratischer Rätesozialist; EuT, S. 241, 252f.

[8] aaO.; S. 269

[9] Christoph Jünke; aaO.; S. 232f

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sopos 11/2010