von Marcus Hawel (sopos)
»Ermattungstaktik war’s, was dir behagte
Am Schachtisch sitzend in des Birnbaums Schatten
Der Feind, der dich von deinen Büchern jagte
Lässt sich von unser einem nicht ermatten.
(Bertolt Brecht: An Walter Benjamin, der
sich auf der Flucht vor Hitler entleibte)
Der am 15. Juli 1892 in Berlin geborene und aufgewachsene deutsch-jüdische Philosoph und Schriftsteller Walter Benjamin, Sohn eines Antiquitäten- und Kunsthändlers, studierte Philosophie, Germanistik und Kunstgeschichte. Ihn verbunden Freundschaften u.a. mit Ernst Bloch, Gershom Scholem, Theodor W. Adorno, Bertolt Brecht, Kurt Weill, Hannah Arendt und Hermann Hesse. Die zentralen Werke, die Benjamin verfasste, zählen heute zur Weltliteratur. Dazu gehört neben seiner abgelehnten Habilitationsschrift über das deutsche Barock- Trauerspiel, das er 1928 unter dem Titel Ursprung des deutschen Trauerspiels veröffentlichte, auch sein Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit aus dem Jahr 1936. Weniger bekannt sind seine autobiographisch verfassten und erst posthum veröffentlichten Schriften Berliner Kindheit um neunzehnhundert. Sein großes Hauptwerk, das unter dem Titel Paris, die Hauptstadt des 19. Jahrhunderts erscheinen sollte, konnte er nicht mehr fertig stellen. Es wurde ebenfalls posthum als Passagen-Werk veröffentlicht. Vor genau 70 Jahren, am 26. September 1940, nahm sich Benjamin auf der Flucht vor der Gestapo das Leben.
Die Vertreibung aus seiner Heimat; das Verlassenmüssen der Stadt, in der er geboren wurde und wo er seine Kindheit verbrachte; das Leben im Pariser Exil und schließlich die Flucht vor den Nationalsozialisten, die aus Verzweiflung in den – so besehen – unfreiwilligen Freitod führte, sind den Benjaminschen Begriffen der Erinnerung, des Eingedenkens, der Zeit und der Geschichte tief eingeschrieben. In ihnen verdichten sich subjektive und objektive Fluchtspuren zu dialektischen Konstellationen.
In der aphoristischen Textsammlung Berliner Kindheit um neunzehnhundert schreibt Benjamin gleich zu Anfang von einer Ahnung, die ihn beschlich, als er 1932 im Ausland war. Ihm begann klar zu werden, dass er »in Bälde einen längeren, vielleicht einen dauernden Abschied von der Stadt (...) würde nehmen müssen«[1], in der er als Kind aufgewachsen ist. Die Machtübertragung an die Nationalsozialisten kündigte sich an, das endgültige Scheitern der Weimarer Republik, einer Demokratie ohne Demokraten, war abzusehen – und damit stand die systematische Entrechtung, Vertreibung und Vernichtung der Juden unmittelbar bevor. Auch wenn man 1932 noch allgemein kaum für möglich gehalten hätte, was aus der Retrospektive im systematischen Verwaltungsmassenmord in Auschwitz kulminierte, so gab es doch viele beunruhigende Anzeichen, aus denen man als Jude, Intellektueller, als Kommunist oder Sozialdemokrat den Entschluss fassen konnte, möglichst schnell das Land zu verlassen und den katastrophischen Verlauf aus sicherer Distanz zu beobachten.
Großmannssucht, Revanchismus und antisemitischer Germanozentrismus vertrieben den Geist aus Deutschland. Das Geistesleben fiel auf ein Niedrigstniveau. Dies vor allem deshalb, weil die Nationalsozialisten explizit die jüdische Tradition in der deutschen Kultur als »undeutsch« geißelten und liquidierten. Die Tradition, wo sie nicht zu Brandstaub zerfiel, überlebte auf der Flucht, im erzwungenen, zumeist amerikanischen Exil.
Benjamin emigrierte 1933 nach Paris und lebte in Armut. Mehr schlecht als recht hielten ihn Auftragsarbeiten für das Frankfurter Institut für Sozialforschung finanziell über Wasser. Als 1940 Frankreich von den Nationalsozialisten besetzt wird, fasst Benjamin den Entschluss, in die USA zu emigrieren. Mit Unterstützung katalonischer Freunde floh er über die Pyrenäen aus dem besetzen Frankreich. Er besaß ein Einreisevisum für die USA und auch ein Ausreisevisum des spanischen Konsulats. Zum Verhängnis sollte ihm werden, dass er an keinen französischen Ausreisestempel im Reisepass gelangt war. In der Nacht zum 27. September 1940 schlossen Francos Wächter überraschend die Grenze zu Spanien. Benjamin wurde am Grenzort Portbou zurückgewiesen. Der Fluchtweg war verstellt und die Gestapo auf seinen Fersen. Er nahm sich noch in der Nacht ein Zimmer in dem heute nicht mehr existierenden Hotel »Fouda Francia« und anschließend aus Verzweiflung mit einer Überdosis Morphium das Leben.
Im Nischengrab Nr. 563 auf dem Friedhof Santa Maria soll Benjamins Leichnam bestattet worden sein. Hannah Arendt suchte einige Monate nach seinem Tod aber vergeblich das Grab. Sie fand es nicht. 1993 errichtete man auf dem Friedhof eine Gedenkstätte. Für den Wissenschaftspublizisten Gerhard Wagner, der über die Gedenkstätte zum 60. Todestag am 27. September 2000 in der jungen Welt schrieb, kommt das »Gedenken« einer »denkmalgestützten Erstarrung« gleich.[2] Es zitiere zwar die Eisen- und Glasarchitektur des 19. Jahrhunderts und damit ein in das Passagenwerk eingegangene Thema Benjamins: Eine Aussichtsplattform trägt den Namen »Belvedere«, und ein Gang aus rostfarbenen Stahlplatten ist mit »Passage« benannt. Aber die Benjaminsche Begrifflichkeit des Eingedenkens geht weit darüber hinaus, ist mit solchen kontextlosen und verdinglichten Gedenkritualen unvereinbar. »Das ›Memorial‹ abstrahiert von faschistischem Weltherrschaftsplan und Weltkrieg, der politischen Funktion von Gewalt und Verfolgung, reduziert stählern-steinern und sakralisierend die Zeit auf ein ›Emigrantenschicksal‹«, schreibt Wagner. Solche Monumente eines »Geschichtsbewusstseins« halten die Geschichte nicht lebendig, noch lassen sie die Geschichte wieder lebendig werden. Was dem Monument eigentümlich ist: aus Stein oder Eisen zu sein, überträgt sich auf die Erinnerung: sie wird innerlich zum petrifizierten Fossil. Diese Versteinerungen tragen nicht die wahre Geschichte in sich und dringen nicht bis in das Bewusstsein vor, sondern tragen zum Vergessen, zum Vorbeisehen bei.
Post mortem wirkten Benjamins philosophische Gedanken maßgeblich auf die Kritische Theorie. Adorno, der sich so gut wie in sämtlichen seiner theoretischen Begriffe von Benjamins Gedankenwelt inspirieren ließ, schreibt in der zusammen mit Max Horkheimer im amerikanischen Exil verfassten Dialektik der Aufklärung, dass alle Verdinglichung ein Vergessen sei.[3] So ähnlich hatte Adorno es bereits in einem Brief an Benjamin kurz vor dessen Tod formuliert. Über diesen einzigen aphoristisch verdichteten Satz könnte man eine ganze Theorie ausbreiten und viele dicke Bücher schreiben. Das Paradoxon, dass Erinnern gerade dem Vergessen entgegenwirken soll, aber in verdinglichter Form das Vergessen befördert, berührt jedenfalls zentrale Aspekte zugleich der Philosophie von Benjamin wie von Adorno.
Mit Benjamin könnte man sagen, dass ein glückliches Leben im Besonderen und Geschichte im Allgemeinen konzentrisch verlaufen. Entwurzelungen, Brüche und Eruptionen schlagen Wunden, die verarbeitet und geschlossen werden müssen. Flucht, Exil und Neubeginn stören jedenfalls diese Kreise. Im Zentrum steht für Benjamin Zeit und Ort der Kindheit. Sie sind dem Leben eingeschrieben. Der Ort ruft die Erinnerung hervor und hält also die verlorene Zeit lebendig. Das mag melancholisch anmuten. Nicht von ungefähr ist Marcel Proust für Benjamin ein sehr wichtiger Schriftsteller gewesen. Benjamin zehrte von der Erinnerung an die Kindheit, wie seinem Büchlein Berliner Kindheit um neunzehnhundert eindrucksvoll zu entnehmen ist. Er entwickelte für sich ein »Verfahren der Impfung« gegen Heimweh und praktizierte es vor Reisen, die ihn für längere Zeit aus seiner Heimatstadt entfernten. »Ich (...) rief die Bilder, die im Exil das Heimweh am stärksten zu wecken pflegen – die der Kindheit – mit Absicht in mir hervor. Das Gefühl der Sehnsucht durfte dabei über den Geist ebenso wenig Herr werden wie der Impfstoff über meinen gesunden Körper. Ich suchte es durch die Einsicht, nicht in die zufällige biographische sondern in die notwendige gesellschaftliche Unwiederbringlichkeit des Vergangenen in Schranken zu halten.«[4]
Mit diesem »Verfahren der Impfung« ist sogleich dem Benjaminschen Begriff der Erinnerung eine signifikante intentionale Stoßrichtung gegeben. Er ist vom Mythos unterschieden, dem die unablässige, allerdings bewusstlose Erinnerung als Wesensmoment eingeschrieben ist. Benjamin nutzt dagegen die Erinnerung, um zurechtzukommen, und reflektiert auf die Unwiederbringlichkeit des Erinnerten, um fortzukommen. Die mythische Erinnerung versteht unter Fortkommen oder Fortschritt keine Unwiederbringlichkeit, sondern einen ewigen Kreislauf, in dem sich alles immer wiederholt (Wiederkehr). Die Zeit ist im Mythos kein Lineal, sondern ein Rad, das sich dreht. Benjamins Melancholie sympathisiert zwar mit dem Mythos, jedenfalls sofern ihm das Bedürfnis nach Festhalten des Unwiederbringlichen der verlorenen Zeit nicht fremd ist, aber sein aufklärerischer Impetus verbietet ihm, sich der Melancholie vollständig hinzugeben. Er arbeitet stattdessen an der Möglichkeit, die linear verlaufende Zeit erinnernd anzuhalten und Vergangenes, sofern etwas Unabgegoltenes darin steckt, aufzuheben, gleichsam in die Gegenwart zurückzuholen. Fortkommen heißt ihm mithin erinnernde Aufklärung, die das Verhängnisvolle des Mythos und die Schicksalsergebenheit gegenüber diesem überwindet.
Damit ist Benjamins Erinnerungsbegriff auch gegen ein bestimmtes, eindimensionales, gleichsam aggressives, jedenfalls apathisches und undialektisches Verständnis der Moderne gerichtet: gegen die technisierte Rationalität, die sich feindlich vom Mythos um den Preis des Vergessens der (Vor-)Geschichte absetzt und ins Neue flüchtet, dem, nur weil es neu ist, schon gehuldigt wird. Alle Verdinglichung ist eben ein Vergessen.Horkheimer und Adorno werden in der Dialektik der Aufklärung schreiben, dass die Zweckrationalität unter den Kategorien kapitalistischer Ausbeutung entfesselt, verselbständigt und radikal geworden ist. Die verabsolutierte instrumentelle Vernunft bedroht das Antlitz der Welt und offenbart ihre unermesslichen Destruktionspotentiale. In der Negativen Dialektik beschreibt deshalb Adorno in Anlehnung an Benjamin den Verlauf der Geschichte als ein Verhängnis, dessen Ausmaß von der Steinschleuder bis zur Megabombe reicht.[5]
Benjamins Begriffe des Fortschritts und der Geschichte haben sich verdüstert und ins Negative gewendet als Eingedenken der Signatur der (Un-)Zeit, die objektiv an der Gesellschaft und subjektiv an ihm in dialektischer Verschränkung Spuren hinterlässt: Fluchtspuren prägen sich in die Begriffe ein. Für diesen negativen Begriff der Geschichte hat Benjamin zuletzt in seinen Thesen Über den Begriff der Geschichte, die aus seinem Todesjahr stammen und deshalb wie ein Vermächtnis erscheinen, die Allegorie des »angelus novus« herangezogen. So heißt das Bild von Paul Klee, das für Benjamin Inspirationsquelle gewesen ist.[6]
Einem Diktum Benjamins zufolge habe man sich Kunstwerken interpretativ auf zwei Ebenen anzunähern: zunächst über den Begriff des Werkes und der Autorenschaft; schließlich aber solle man von diesen abstrahieren und das Kunstwerk als geschichtsphilosophische Chiffre betrachten. So könne man sich dem Zeitalter – als Text verstanden – vermöge der Deutung der Chiffren nähern, wobei die Autorenschaft und das Biographische so belanglos werden wie der Urheber eines pragmatisch-historischen Zeugnisses, etwa einer Inschrift.[7]
Benjamin erkennt auf dem Bild von Klee einen melancholischen Engel, der mit aufgerissenen Augen, offen stehendem Mund und ausgespannten Flügeln auf das paradiesische »Antlitz der Vergangenheit« starrt, von dem er sich wegbewegt. Ein Sturm wehe vom Paradiese her, der Wind verfange sich in den Flügeln des Engels, der so stark sei, dass der Engel es nicht vermag, seine Flügel zu schließen. »Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert.«[8] Der Sturm treibt den Engel der Geschichte unentwegt voran in die Zukunft, der er verhängnisvoll den Rücken zugewandt hat. »Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.«
Bei allem Eingedenken ins Verhängnis hat allerdings Benjamin zumindest in seinen Texten niemals die Hoffnung auf und den Glauben an Erlösung verloren; das ist die Möglichkeit der Wendung zum Besseren, die religiöse Spuren trägt. Der Messias, an den Benjamin hier denkt, ist allerdings ein weltlicher: das revolutionäre Proletariat.
In der französischen Julirevolution von 1830, so schreibt Benjamin, habe sich in Paris gleich zu Anfang ein Zwischenfall ereignet. »Als der Abend des ersten Kampftages gekommen war, ergab es sich, dass an mehreren Stellen von Paris unabhängig von einander und gleichzeitig nach den Turmuhren geschossen wurde.«[9] Turmuhren waren ab dem 16. Jahrhundert in Europa weit verbreitet; sie waren die ersten mechanischen Uhren. Menschen, die sich eine eigene Uhr nicht leisten konnten, waren imstande, die Zeit von den Turmuhren abzulesen. Mit Einzug des Kapitalismus fungierte die Uhr als Unterdrückungssystem. Dass man in Paris 1830 auf die Uhren schoss, ist ein Zeugnis dafür, dass man wie die Maschinenstürmer zumindest ahnte, was einen kaputt machte. Die Rebellion gegen Uhren und Maschinen ist freilich unreflektiert und fand noch nur auf der Ebene sinnlicher Gewissheit statt, erschien antimodern.
In derselben Geschichtsthese schreibt Benjamin: »Das Bewusstsein, das Kontinuum der Geschichte aufzusprengen, ist den revolutionären Klassen im Augenblick ihrer Aktion eigentümlich. Die Große Revolution führte einen Kalender ein. Der Tag, mit dem ein Kalender einsetzt, fungiert als ein historischer Zeitraffer. Und es ist im Grunde genommen derselbe Tag, der in Gestalt der Feiertage, die Tage des Eingedenkens sind, immer wiederkehrt. Die Kalender zählen die Zeit also nicht wie Uhren. Sie sind Monumente eines Geschichtsbewusstseins, von dem es in Europa seit hundert Jahren nicht mehr die leisesten Spuren zu geben scheint.«[10]
Für Benjamin ist Revolution nicht wie bei Marx eine »Lokomotive der Geschichte«, sondern das »Aufsprengen des geschichtlichen Kontinuums«, gleichsam das Anhalten der Zeit. Die Revolution zieht die Notbremse des in einem Zug dahinrasenden kopflosen Menschengeschlechts. Der Zug kommt durch Revolution zum Stehen, so dass sich die Menschen auf ihre Gegenwart besinnen können; auf das Liegengebliebene und Uneingelöste; auf den Weg, den sie einschlagen, und die Geschwindigkeit, mit der sie fortfahren wollen, statt von einem Sachzwang in die nächste Zwangslage zu geraten. Darum haben Zukunftsvisionen auch etwas mit Erinnerung zu tun: dem Aufsammeln von Liegengebliebenem, dem Zusammenfügen von Trümmerteilen – und auch mit der Erinnerung der Erinnerung gleichsam als eine Wiederherstellung des Erinnerungsvermögens sowie der wunschprojizierten Erinnerung, in der sich Gegenwärtiges mit Vergangenem zu einem utopischen Bild der Zukunft mischen und die Geschichte zu einer Konstruktion wird, der ein emanzipativer Sinn beigefügt ist.
Benjamin schreibt: »Auf den Begriff einer Gegenwart, die nicht Übergang ist, sondern in der Zeit einsteht und zum Stillstand gekommen ist, kann der historische Materialist nicht verzichten. Denn dieser Begriff definiert eben die Gegenwart, in der er für seine Person Geschichte schreibt.«[11]
Für Benjamin ist die kämpfende unterdrückte Klasse das »Subjekt historischer Erkenntnis«[12]. Von diesem erwartet er sich das »Aufsprengen des geschichtlichen Kontinuums«. Die Unterdrückten müssen sich der »Erinnerung bemächtigen, wie sie im Augenblick einer Gefahr aufblitzt«[13] und »Geschichte gegen den Strich bürsten«, gleichsam sich des Geschichtsbildes bemächtigen, die Interpretations- und Deutungsmacht über die Geschichte den Herrschenden abringen, damit diese die Geschichte nicht mehr für ihre Herrschaftszwecke instrumentalisieren und emanzipatorische Impulse mit Gewalt abwürgen können. »Dem historischen Materialismus geht es darum, ein Bild der Vergangenheit festzuhalten, wie es sich im Augenblick der Gefahr dem historischen Subjekt unversehens einstellt. Die Gefahr droht sowohl dem Bestand der Tradition wie ihren Empfängern. Für beide ist sie ein und dieselbe: sich zum Werkzeug der herrschenden Klasse herzugeben. In jeder Epoche muss versucht werden, die Überlieferung von neuem dem Konformismus abzugewinnen, der im Begriff steht sie zu überwältigen. (...) Nur dem Geschichtsschreiber wohnt die Gabe bei, im Vergangenen den Funken der Hoffnung anzufachen, der davon durchdrungen ist: auch die Toten werden vor dem Feind, wenn er siegt, nicht sicher sein. Und dieser Feind hat zu siegen nicht aufgehört.«[14]
Die Toten sind genauso wenig wie die Tradition der Überlieferung vor dem siegenden (Klassen-)Feind sicher, weil dieser – vermöge seines Sieges – die Hoheit über die Geschichtsdeutung bekommt und Siegergeschichte schreibt (Historismus). Auch in diesem Punkt gibt es die Tradition der Überlieferung: »Die jeweils Herrschenden sind (.) die Erben aller, die je gesiegt haben. Die Einfühlung in den Sieger kommt demnach den jeweils Herrschenden zugut.«[15]
Es geht mithin um einen Kampf ums Geschichtsbild, bei dem es darauf ankommt, Geschichte komplett gegen den Strich zu bürsten. Benjamin spricht von einem »Tigersprung« ins Vergangene, der in einer Arena stattfinde, »in der die herrschende Klasse kommandiert«[16]. Hic Rhodos hic salta! »Derselbe Sprung unter dem freien Himmel der Geschichte ist der dialektische als den Marx die Revolution begriffen hat.«[17]
Aus diesen Ausführungen wird bereits mehr als deutlich, dass es Benjamin auf ein nicht-instrumentelles Verhältnis zur Geschichte gar nicht ankommt. Niemand ist frei davon, Vergangenes für gegenwärtige und zukünftige Zwecke zu instrumentalisieren. Problematisiert werden muss, von wem und für welche Zwecke Vergangenes instrumentalisiert wird. Das ist die ideologiekritische Frage nach dem cui bono.
Benjamin hat einen besonderen Begriff von historischer Wahrheit, der sich gar nicht anschickt, objektiv zu sein. Er schreibt: »Das wahre Bild der Vergangenheit huscht vorbei. Nur als Bild, das auf Nimmerwiedersehen im Augenblick seiner Erkennbarkeit eben aufblitzt, ist die Vergangenheit festzuhalten.«[18] Hier taucht der Gedanke des Unwiederbringlichen wieder auf. Unwiederbringlich – ungeachtet der technischen Möglichkeiten, Ereignisse photographisch, filmisch, auditiv usw. »festzuhalten« – ist ein Bild der Vergangenheit aber nur, insofern es nicht für die Gegenwart interpretiert wird. Gegen den Historismus eines Leopold Ranke[19] wendet Benjamin darum ein: »Vergangenes historisch artikulieren heißt nicht, es erkennen ›wie es denn eigentlich gewesen ist‹. Es heißt, sich einer Erinnerung bemächtigen, wie sie im Augenblick einer Gefahr aufblitzt.«[20]
Das objektive Wahrheitspostulat des Historismus weist Benjamin als ideologisch zurück, entlarvt es als getarnte Herrschaftsgeschichtsschreibung. Gegen diese bringt Benjamin den historischen Materialismus in Anschlag: »Der Historismus« gipfelt von Rechtswegen in der Universalgeschichte. Von ihr hebt die materialistische Geschichtsschreibung sich methodisch vielleicht deutlicher als von jeder andern ab. Die erste hat keine theoretische Armatur. Ihr Verfahren ist additiv: sie bietet die Masse der Fakten auf, um die homogene und leere Zeit auszufüllen. Der materialistischen Geschichtsschreibung ihrerseits liegt ein konstruktives Prinzip zugrunde. Zum Denken gehört nicht nur die Bewegung der Gedanken sondern ebenso ihre Stillstellung.«[21]
Das »konstruktive Prinzip«, das der materialistischen Geschichtsschreibung zugrunde liegt, wird von Benjamin noch deutlicher in der Wendung der »Geschichte als Konstruktion« pointiert.
Der Historismus begnüge sich damit, »einen Kausalnexus von verschiedenen Momenten der Geschichte zu etablieren«, in dem ein »Tatbestand« bereits als »historisch« gilt, wenn er als ursächlich ausgemacht werden konnte.[22] Historistische Geschichtsschreibung produziere eine Art Rosenkranz auf dem die Begebenheiten wie die Perlen der Gebetskette aneinandergereiht sind. Die Abfolge der Begebenheiten laufen durch die Finger des Historikers wie die Perlen des Betenden.[23]
Benjamin entwickelt eine kritische Geschichtswissenschaft – in Abgrenzung zum Historismus –, die Geschichte bewusst und offen als Konstruktion begreift, mit unmittelbarem Gegenwartsbezug, gleichsam mit dem Politischen verbunden. Diese kritische Geschichtswissenschaft operiert mit einem besonderen Begriff der Geschichte, der die Opfer statt die Sieger der Geschichte im Blick hat. Als Entgegnung zu Carl Schmitt, dem Theoretiker der konservativen Revolution und geistigen Wegbereiter des Nationalsozialismus, heißt es bei Benjamin: »Die Tradition der Unterdrückten belehrt uns darüber, dass der ›Ausnahmezustand‹, in dem wir leben, die Regel ist. Wir müssen zu einem Begriff der Geschichte kommen, der dem entspricht. Dann wird uns als unsere Aufgabe die Herbeiführung des wirklichen Ausnahmezustands vor Augen stehen; und dadurch wird unsere Position im Kampf gegen den Faschismus sich verbessern. Dessen Chance besteht nicht zuletzt darin, dass die Gegner ihm im Namen des Fortschritts als einer historischen Norm begegnen. – Das Staunen darüber, dass die Dinge, die wir erleben, im zwanzigsten Jahrhundert ›noch‹ möglich sind, ist kein philosophisches. Es steht nicht am Anfang einer Erkenntnis, es sei denn der, dass die Vorstellung von Geschichte, aus der es stammt, nicht zu halten ist.«[24]
Max Horkheimer hat diesen Begriff der Geschichte programmatisch in seinem Aufsatz Geschichte und Psychologie für die kritische Theorie fruchtbar gemacht.[25] In der gemeinsam mit Adorno verfassten Dialektik der Aufklärung wird noch einmal die Opferperspektive in den Vordergrund gestellt: »Unter der bekannten Geschichte Europas läuft eine unterirdische. Sie besteht im Schicksal der durch Zivilisation verdrängten und entstellten menschlichen Instinkte und Leidenschaften.«[26]
Es wäre nachzuweisen, dass die Konzeption einer kritischen Geschichtswissenschaft, die sich der Geschichtskonstruktion als ein Mittel bedient, sich nur insofern von anderen Selbstverständnissen der Historiographie unterscheidet, als sie ihre Vorgehensweise selbstreflexiv offen legt, statt zu verschleiern. Auch die traditionelle Geschichtswissenschaft konstruiert Geschichte. Geschichtswissenschaft ist immer eine auf Gegenwart bezogene Konstruktion des Vergangenen, schon deshalb, weil der Rezipient von Jetztzeit erfüllt ist, wenn er auf die Vergangenheit schaut. Das Vergangene erhält somit einen »Zeitkern der Wahrheit« aus gegenwärtigen und vergangenen gesellschaftlichen Konstellationen, woraus sich etwa wandelnde Interpretationsmoden und Paradigmen in der Historiographie ergeben. Der Unterschied zum Beispiel des Blickes auf 1968 vor und nach 1989/90 wird auf diese Weise unmittelbar einsichtig. Die traditionelle, positivistische Geschichtswissenschaft reiht jedoch bloß Fakten zu einem linearen Verlauf aneinander.[27] Die Summe einzelner historischer Fakten, die aufgezählt werden, macht allerdings noch keine Geschichte. Solche »Struktur unterscheidet sich damit kaum vom dramaturgischen Aufbau des Bewegungs-Bildes einer durchschnittlichen Hollywood-Produktion«[28], schreibt Olaf Berg in der Zeitschrift für kritische Theorie.
Kritische Geschichtswissenschaft, wie sie von Benjamin maßgeblich angedacht wurde und deren zentrale Theoreme im wesentlichen auf Karl Marx zurückgehen, versteht sich als verändernde Praxis in Einheit mit Theorie gemäß der elften Feuerbachthese: »Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt darauf an, sie zu verändern.«[29] Mit Benjamin erhält der Geschichtsbegriff mehrdimensionale Zeitebenen, d.h. bezieht sich nicht bloß auf Vergangenheit, sondern noch viel mehr auf die Jetztzeit. Auch diesem Verständnis geht ein älteres Theorem voraus: Hegel verstand unter Geschichte das Fortschreiten im Bewusstsein der Freiheit. Marx hatte diesen idealistischen Geschichtsbegriff kritisch übernommen, d.h. vom Kopf auf die Füße gestellt. Seither gilt: Geschichte wird in der Gegenwart von Menschen gemacht, noch bevor ihnen bewusst ist, dass sie im Augenblick ihrer Handlungen Geschichte machen. »Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen.«[30]
Die Praxis ist doppelt an die gesellschaftlichen Verhältnisse gebunden: einmal weil diese die Praxis konstituieren, und einmal, weil Verhältnisse Objekt der Veränderung sind. Die gesellschaftlichen Verhältnisse sind mithin jeweils in der letzten Instanz Subjekt und Objekt der Veränderung. Für Benjamin gibt es gleichsam eine »in doppelten Sinne geschichtliche ›Wahrheit‹ (...), indem die Praxis sowohl von den gesellschaftlichen Verhältnissen bedingt ist als auch auf sie angewandt wird«[31]. Die Überlieferung der Geschichte ist mithin abhängig von der Praxis wie auch umgekehrt. Daraus folgt die Notwendigkeit, die Überlieferung praxisgemäß zu gestalten: Wir interpretieren die Welt so, wie wir sie verändern wollen. Das ist Geschichte als Konstruktion.
Die kritische Geschichtswissenschaft trägt die »Eule der Minerva« (Hegel), die bekanntlich ihren Flug der Erkenntnis erst nach Einbruch der Dämmerung beginnt, zum Jagen und ermutigt sie zu frühzeitigerem, gleichsam rechtzeitigem Abhub.
Die Marxsche Philosophie, die überholt schien, sich aber am Leben erhält, weil der Zeitpunkt der Verwirklichung versäumt wurde, wie Adorno in der Negativen Dialektik schreibt, betrachtet also mit Benjamin das Vergangene nicht als vergangen, insofern etwas in es ist, das, weil unabgegolten, unentwegt bohrt. Die Vergangenheit ist ein unabgeschlossener Raum, in dem das Vergangene als Unabgegoltenes nicht loslässt und Geschichte in einen Kreislauf zwingt. Oder besser: Dasjenige, was nicht Geschichte wurde, wiederholt sich.
Kritische Geschichtswissenschaft leistet also einen Hebammendienst am Unabgegoltenen und zugleich eine Sterbehilfe am Vergangenen, das in seiner Verschränkung mit dem Unabgegoltenen spukt wie ein Untoter. Darin ist die Vorgehensweise nicht unähnlich zu der Weise, wie die Psychoanalyse mit dem Verdrängten und Unbewussten umgeht. Sigmund Freud hatte erkannt, dass Verdrängtes aufgearbeitet und durchgearbeitet werden muss, um die Symptomverschiebungen des an der Oberfläche drängenden Verdrängten, das das Leben in Unordnung bringt, zu beenden. Kritische Geschichtswissenschaft ist gleichsam angewandte Sozialpsychoanalyse auf den Bereich der in der Geschichte »durch Zivilisation verdrängten und entstellten menschlichen Instinkte und Leidenschaften« (Horkheimer/Adorno).
Für Benjamin ist diese Geburtshilfe von dringender Notwendigkeit angesichts und eingedenk des Katastrophischen und Verhängnisvollen im Geschichtsverlauf, von dem er sich für die Menschheit erhofft, erlöst zu werden. Benjamin integriert hier ein Denken aus dem jüdisch-religiösen Messianismus. Bei ihm ist das Messianische – anders als in der klassisch-jüdischen Mystik – allerdings sehr weltlich verortet, insofern als nicht irgendein Messias unvermittelt in die Welt kommt, um die Menschen vom Katastrophischen zu erlösen. In der Welt ist vielmehr eine überlieferte Fluch(t)spur, die auf Erlösung ausgerichtet ist, sofern sich die Menschen dieser Spur bewusst werden, gleichsam Subjekt und Objekt der Erlösung, die dann eine (Selbst-)Befreiung ist, zusammenfallen. Das ist nicht ganz so einfach, wie es sich aufschreiben lässt, da diese Fluchtspur sich wie ein Wald vor lauter Bäumen versteckt. Benjamin hatte die Neigung, das Messianische mit der Revolution sowie den Messias mit dem Proletariat zu identifizieren.
Geschichtswissenschaft hat sich also gerade mit der Gegenwart auseinanderzusetzen, d.h. mit dem »vordersten Abschnitt der Zeit«[32], den Ernst Bloch mit dem Begriff der »Front« als Kategorie des »dialektischen Prozesses« bestimmt hat. An der Front manifestiert sich die Tendenz des Neuen. Um einen Blick auf die Front zu bekommen, bedarf es konstitutiv nicht eines historisierenden, sondern eines geschichtsphilosophischen Ansatzes, der die Kontinuitätslinien von der Vergangenheit bis in die Gegenwart konkret und stimmig (re-)konstruieren kann. Aus der Retrospektive erscheinen die »Fluchtpunkte« dieses Telos a posteriori wie die Signallampen einer Fluglandebahn bei Nacht.
Für ein Verständnis von kritischer Geschichtswissenschaft, die daran erinnert, dass die Geschichte noch unersättlich mit Utopischem aufgeladen ist, hat Walter Benjamins philosophische Gedankenwelt, in die das Katastrophische eingeschrieben ist, maßgeblich beigetragen.
[1] Walter Benjamin: Berliner Kindheit um neunzehnhundert, Frankfurt am Main 2006, S. 9.
[2] Vgl. Gerhard Wagner: »Denkmalgestützte Erstarrung«, in: junge Welt vom 27.9.2000.
[3] Vgl. Max Horkheimer / Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt a.M. 1969, S. 244.
[4] Benjamin: Berliner Kindheit, a.a.O., S. 9.
[5] Vgl. Theodor W. Adorno: Negative Dialektik, Frankfurt am Main 1966, S. 314.
[6] Zur Interpretation des Bildes im Sinne Benjamins geschichtsphilosophischer Ästhetik siehe Tatjana Freytag: »Hoffnung im Erinnern – Die gebrochene Utopie des ›Angelus Novus‹«, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte, Bd. XXXIV (2006): Geschichte und bildende Kunst, hrsg. v. Moshe Zuckermann, Göttingen 2006, S. 70-74.
[7] Vgl. Walter Benjamin: Briefe, Frankfurt a.M. 1966, S. 220.
[8] Walter Benjamin: »Über den Begriff der Geschichte«, Schriften, Bd. 1, Frankfurt am Main 1955, These IX.
[9] Ebd., These XV.
[10] Ebd.
[11] Ebd., These XVI.
[12] Ebd., These XII.
[13] Ebd., These VI.
[14] Ebd.
[15] Ebd., These VII.
[16] Ebd., These XIV.
[17] Ebd.
[18] Ebd., These V.
[19] Vgl. Leopold Ranke: »Vorrede zu den ›Geschichten der romanischen und germanischen Völker von 1494 bis 1535‹« (1824), in: Über das Studium der Geschichte, hrsg. v. Wolfgang Hardtwig, München 1990, S. 42ff.
[20] Benjamin: »Über den Begriff der Geschichte«, a.a.O., These VI.
[21] Ebd., These XVII.
[22] Vgl. ebd., These A, Anhang.
[23] Vgl. ebd.
[24] Ebd., These VIII.
[25] Vgl. Max Horkheimer: Geschichte und Psychologie (1932), in: GS, Bd. 3, Frankfurt a.M. 1988.
[26] Horkheimer/Adorno: Interesse am Körper, in: Dialektik der Aufklärung, a.a.O., S. 246.
[27] Vgl. Die Nonlineraren sind längst Eiswürfel holen. Ein Streitgespräch über Linearität und Nonlinearität in Geschichtsschreibung, Narration und Gesellschaft, hrsg. v. Enzio Wetzel, Bereich Wissenschaft und Zeitgeschehen, Goethe Institut (München), München 2008.
[28] Olaf Berg: »Benjamin und Deleuze: Ansätze für eine kritische Geschichtswissenschaft in Filmbildern«, in: ZfkT, 12. Jg., Nr. 22/23, 2006, S. 68-98, S. 69.
[29] Karl Marx: »Thesen über Feuerbach« (1845), in: MEW, Bd. 3, S. 535.
[30] Karl Marx: »Der Achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte« (1852), in: MEW, Bd. 8, S. 111-207; S. 115.
[31] Olaf Berg, a.a.O., S. 73.
[32] Vgl. Ernst Bloch: Über Karl Marx, Frankfurt am Main 1968, S. 38.
Dr. Marcus Hawel ist Mitherausgeber der sopos und Referent im Studienwerk der Rosa Luxemburg Stiftung.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der Zeitschrift kuckuck. notizen zur alltagskultur, 2/2008, Jg. 23, S. 10-15.
https://sopos.org/aufsaetze/4cce2ff24c770/1.phtml
sopos 11/2010