Zur normalen Fassung

Hegemonialismus

Zur Aktualität des Imperialismus

von Marcus Hawel (sopos)

Da die neue Phase des Imperialismus nicht mehr damit zu tun hat, fremde Gebiete durch Landnahme unter direkte Kontrolle zu bringen, dafür aber andere Regierungen in ihrer Souveränität einzuschränken, um Gestaltungsmacht auf die ausländischen Märkte zu erhalten, könnte man diese Phase des Imperialismus als Hegemonialismus begreifen.

Zwischen einzelnen Strömungen der Linken in Deutschland herrscht seit Mitte der 1990er Jahre ein fundamentaler Dissens in der Frage der Aktualität und Erklärungsfähigkeit der Imperialismustheorie. Der Streit wird mal mehr und mal weniger heftig offen ausgetragen zwischen traditionellen Antiimperialisten und sogenannten Antideutschen. Dieser ungeklärte Dissens wirkt sich in der Folge auf jede politische oder wissenschaftliche Betrachtung internationaler Beziehungen aus. Insbesondere am Nahostkonflikt scheiden sich schließlich die Gemüter auf extreme Weise. Daher erscheint es dringend erforderlich zu sein, der Frage der Virulenz des Imperialismus nachzugehen. Dies wird im Folgenden unter dem besonderen Aspekt der Notwendigkeit außenpolitischer Souveränität von Nationalstaaten sowie der damit verbundenen Frage nach den Mechanismen von Krieg und Frieden versucht.[1]

Imperiales Deutungsmuster versus Kulturalisierung des Politischen

Um zu verstehen, wie es zu jenem Dissens zwischen Antiimperialisten und Antideutschen gekommen ist, müssen die katalytischen Ereignisse seit 1989/90, die bei den Antideutschen einen Prozess des Umdenkens ausgelöst haben, kurz rekonstruiert werden.

Zur Deutschen Einheit 1990 sind Antideutsche noch gegen eine befürchtete Erstarkung des Nationalismus und imperialistischer Großmannssucht auf die Straße gegangen und haben »Deutschland halt´s Maul« skandiert. Schon ein Jahr später, als der Golfkrieg begann und die Friedensbewegung in Deutschland diesen Krieg gemäß eines antiimperialistischen Deutungsmusters interpretierte und entsprechend »Kein Blut für Öl« skandierte, sorgte der Schriftsteller Hans-Magnus Enzensberger für Aufsehen, weil er Saddam Hussein als »Widergänger Hitlers« titulierte und die Friedensbewegung scharf für ihren Pazifismus kritisierte. Enzensberger argumentierte vermeintlich antifaschistisch und rechtfertigte den Krieg. Auch Wolf Biermann wandelte sich zu einem Bellizisten, der den Krieg zum Schutze Israels legitimierte und Deutschland in besonderer Verantwortung sah, zumal deutsche Firmen Giftgas an den Irak geliefert hatten, dessen Skud-Raketen Israelis in Angst versetzten. Zu diesem Zeitpunkt war der Bellizismus der beiden Intellektuellen noch eine Ausnahmeerscheinung, wenngleich sie erfolgreich eine bellizistisch-antifaschistische Legitimationsrhetorik eingeleitet haben, auf die sich in den Folgejahren neben Personen wie Joschka Fischer auch die Antideutschen bezogen. Jedoch in diesen Jahren haben die Antideutschen noch Flugblätter verteilt, auf denen zu lesen war: »Bomber Harries, do it again!«, und Fischer wetterte, dass der deutsche Staat im Verbund der NATO mit humanitären Scheinargumenten in einen imperialistischen Krieg geführt werde.

Die Einstellung zum Krieg wandelte sich bei Fischer und bei den Antideutschen im Zuge der Eskalation im auseinanderbrechenden Jugoslawien. Nunmehr galt es, ein zweites Auschwitz zu verhindern, das sich Mitte der 1990er Jahre mit dem Massaker von Srebrenica ereignete. Fischer distanzierte sich und die GRÜNEN von Pazifismus und Antiimperialismus, forderte nunmehr eine militärische Interventionspflicht bei Völkermord.[2] Die eingeleitete Abkehr dauerte freilich bis 1998, bis sie wirksam wurde und die GRÜNEN in die Regierungsverantwortung führte. Fischer benutzte die von Enzensberger erprobte antifaschistische Legitimationsrhetorik, die in der Folge auch zum vorherrschenden Deutungsmuster der Antideutschen wurde.

Spätestens in dieser Phase blamierten sich die Visionen einer One World, wie die neue Weltordnung nach der Auflösung der Bipolarität zunächst genannt wurde, und das Gerede vom Ende der Geschichte, welches mit Francis Fukuyamas »The End of History and the Last Man« 1992 für Furore gesorgt hatte,[3] an der Realität. Das neue Paradigma, das sich etablierte, wurde von Samuel P. Huntington 1994 bereitgestellt und hieß »Clash of Civilization«. Dieses Paradigma beförderte die Kulturalisierung des Politischen[4]. Es war dem traditionellen imperialistischen Deutungsmuster diametral entgegengesetzt. Das antideutsche Milieu saß dem ideologisch auf.[5] Als sich endlich am 11. September 2001 die terroristischen Großanschläge in den USA ereigneten, deutete es diese Anschläge als kulturelle Differenz, d.h. gemäß der offiziellen Rhetorik als »Kriegserklärung gegen die westliche Zivilisation« und als Angriff eines »Islamfaschismus«.[6] Antideutsche übernahmen mithin die bedingungslose Solidarität mit den USA und setzten Antiamerikanismus mit Antisemitismus gleich.

Der Nahe Osten, d.h. Israel erhielt innerhalb dieses antideutschen Deutungsmusters eine besondere Brisanz: Die ganze Welt, insbesondere die arabische Welt erweise sich als antisemitisch. Einzig die USA seien für Israel eine verlässliche Schutzmacht. Daher ist die bedingungslose Solidarität Antideutscher mit den USA und Israel eine Unabdingbarkeit, unabhängig davon, was für Entscheidungen die beiden Staaten zu verantworten haben. Heftige Konfrontation zwischen Antideutschen und Antiimperialisten um die Deutungshoheit des Nahostkonflikts und internationaler Beziehungen erfolgten seitdem, bei denen es im Kern immer wieder um die Virulenz der traditionellen Imperialismustheorie ging.

In den traditionellen bürgerlichen und sozialistischen Imperialismustheorien[7] ging man davon aus, dass die Außenpolitik eines souveränen Nationalstaates notwendig auf den Erhalt, Ausbau und die Festigung von Machtpositionen zielt. Im internationalen Umfeld müsse der Staat seine ökonomischen und sicherheitsstrategischen Interessen wahrnehmen. Die Politik sei demgemäß ausgerichtet auf Nutzen- und Effizienzmaximierung der eigenen Nationalökonomie. Nachteile, die sich für andere Staaten dadurch ergeben, lägen nicht nur im Kalkül, sondern seien sogar intendiert. Internationale Solidarität zwischen den Nationalstaaten scheint im Kapitalismus mithin schwer realisierbar zu sein. Innerhalb des kapitalistischen Staatensystems treten die einzelnen Nationalstaaten nämlich notwendig zueinander in Konkurrenz und sind im internationalen Kräftespiel jeweils zur Selbstbehauptung gezwungen. Imperialismus erscheint daher als eine unabdingbare Konsequenz. Die in der Außenpolitik einsetzbaren imperialistischen Machtmittel resultieren besonders aus der wirtschaftlichen und militärischen Potenz des Staates sowie aus seinen finanziellen und kulturellen Ressourcen und seinem Ansehen im Ausland. Konflikte sind vorprogrammiert, die in der Regel mit den Mitteln der Diplomatie aber auch mit militärischen Mitteln gelöst werden. Der systemimmanente Konkurrenzmechanismus impliziert also die Notwendigkeit einer staatlichen oder auch suprastaatlichen Souveränität, die bereits die Existenz anderer Staaten oder Suprastaaten relativ eingeschränkt und damit immer wieder herausgefordert wird. Das staatliche Militär erfüllt deshalb den Zweck des Schutzes nicht nur der Grenzen und des Staatsvolkes, sondern vor allem der Umsätze und Profite nationaler wie transnationaler Konzerne. Der Status einer Nation drückt sich damit vor allem auch in der Schlagkraft ihres Militärs aus. Die Voraussetzung für die Souveränität eines kapitalistischen Staates besteht in der Abgestimmtheit und Funktionalität der Triade aus Wirtschaft, Politik und Militär nach innen und außen.

Die Bundesrepublik in der bipolaren Weltordnung

Als besonders evident mag dieser Umstand dann erscheinen, wenn, wie im Falle der Bundesrepublik in den Jahren nach 1945, die staatliche Souveränität aberkannt und nur langsam wieder zurückzugewinnen war. »Es wurde klar, dass in einer Zeit wie der unsrigen Politik so viel Kraft hat, wie die [militärische] Kraft bedeutet, die hinter ihr steht (…). Ohne Kraft wird unser Wort nicht beachtet.«[8]

Die Souveränität der Bundesrepublik Deutschland war bis 1989/90 eingeschränkt. Bis zur deutschen Einheit galt der westdeutsche Staat vielen Konservativen zugleich als ein »wirtschaftlicher Riese« und als ein »politischer Zwerg«, weil er seine Außenpolitik nicht unabhängig gestalten konnte und sich den Weltmächten innerhalb der Bündnissysteme unterordnen musste. »Die alte Bundesrepublik wies zwei wichtige Merkmale auf: Das erste bestand darin, dass sie ihre Außenpolitik nicht unabhängig gestalten konnte, das zweite in ihrer untergeordneten Rolle als Militärmacht. Beides war Ausdruck der unvollkommenen Souveränität der Bundesrepublik und ihrer damit einhergehenden Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten in der Weltpolitik und von Frankreich in Europa.«[9] Aus diesem Umstand ist ein kontinuierliches Bestreben des Staates nach außenpolitischer Normalisierung im Sinne der Erlangung eines Großmachtstatus’ und von politischer Gleichwertigkeit[10] mit anderen Weltmächten ableitbar. Man kann diesen Umstand auch als deutschen Normalisierungskomplex bezeichnen. »Weil die politische Gleichrangigkeit nur über den Weg der Wiedervereinigung, also nicht aus eigener Kraft erreichbar war, hat sich die deutsche Politik in besonders starkem Maße auf (…) das militärische Gebiet verlegt. Die starke Konzentration der deutschen Außenpolitik auf den Bereich der Sicherheits-, Verteidigungs- und Allianzpolitik erklärt sich mithin nicht nur aus der exponierten strategischen Lage an der Nahtstelle zwischen den beiden Blöcken des Kalten Krieges. Vielmehr ging es der Bundesrepublik von Anfang an auch darum, wenigstens auf diesem Gebiet den Anschein der Zweitklassigkeit zu vermeiden.«[11] Sicherheitspolitik von Adenauer bis Kohl konzentrierte sich auf die verdeckte Frage, inwiefern die Bundesrepublik Deutschland im Bereich der Sicherheitspolitik jener zweitrangigen Rolle, die ihr aufgrund der eingeschränkten Souveränität allgemein auferlegt wurde, umgehen könnte.

Auch aufgrund des Nicht-Besitzes von nuklearen Waffen musste der westdeutsche Staat zwangsläufig eine »mindere Rolle im Kreis der Verbündeten« spielen, was für Franz Josef Strauß mit der »nationalen Würde« nicht zu vereinbaren war. Während des Kalten Krieges galt die Verfügungsgewalt über Atombomben als das »entscheidende Merkmal der Souveränität«.[12] Strauß verfolgte darum als Verteidigungsminister das Ziel, nukleare Waffen unter die Verfügungsgewalt des westdeutschen Staates zu bringen; es ging hier nicht mehr bloß um Wiederbewaffnung, sondern um die Frage der Gleichberechtigung innerhalb der westlichen Mächte, vor allem mit Großbritannien und Frankreich.[13] Der sogenannte »deutsche Gaullismus«[14] markierte seit Mitte der 1960er Jahre den Anfang eines Ablösungsprozesses von den Siegermächten. Frankreich war unter der Politik von Charles de Gaulles Anfang der 1960er Jahre zu einer selbständigen Atommacht aufgestiegen und nahm einen Sonderstatus innerhalb der NATO und gegenüber den USA ein. Strauß und Adenauer hofften auf ein Bündnis mit Frankreich, um so zur eigenständigen Atommacht aufzusteigen, bzw. an der französischen Atommacht partizipieren zu können. Die französische Regierung zeigte sich zunächst sogar interessiert, dann aber folgte aufgrund internationalen Drucks, nicht zu letzt auch seitens der Anti-Atom-Bewegung[15] die Aufgabe der Pläne. Die französische Regierung machte einen Rückzieher in ihrer Annäherung an die deutschen Gaullisten.

Der »deutsche Gaullismus« war nur ein erster Versuch, ein Test, wie weit es möglich wäre, die Fesseln der Souveränität zu sprengen.[16] Die rot-gelbe Bundesregierung schlug eine andere Richtung ein. 1969 wurde ein Atomwaffensperrvertrag unterzeichnet. Heftiger Gegner der Vertragsunterzeichnung war der CSU-Vorsitzende Strauß, der den Vertrag als »Versailles kosmischen Ausmaßes« bezeichnete. Bundeskanzler Willy Brandt vertröstete die Gegner des Vertrages auf eine absehbare Zukunft: »Wenn es eines Tages die Vereinten Staaten von Europa geben wird, so sind sie nicht gebunden durch den Nichtverbreitungsvertrag, sondern können eine Atommacht werden.«[17]

Anzumerken ist, dass im Kontext des Kräftegleichgewichtes in vergleichbaren Waffengattungen, aber vor allem hinsichtlich des atomaren Zerstörungspotentials zwischen West und Ost die Atombombe mehr den Charakter einer politischen als einer militärischen Waffe besaß. Die Atombombe diente zur Abschreckung; ihre Existenz sollte garantieren, dass es zu einem militärischen Einsatz ihrer nicht kommt.[18] Die Abschreckungsdoktrin bedeutet gegenüber dem mehr oder weniger eingeschränkten ius ad bellum einen schmalen zivilisatorischen Fortschritt. Zwar schließe ihre paritätische Existenz nicht aus, so Gerhard Stuby, dass die Atommächte weiterhin nach militärischer Überlegenheit streben, dennoch gehöre ein solches Streben eben zur Glaubhaftigkeit und damit zur immanenten Logik der Abschreckung wie auch die tatsächliche mehr oder weniger glaubhaft vorgetragene kaltblütige Einsatzbereitschaft. »In dem Augenblick jedoch, in dem man das militärische Potential lediglich auf seinen Abschreckungseffekt reduzierte, akzeptierte man zumindest verbal das Gewaltverbotsprinzip und gestand grundsätzlich zu, dass militärisches Potential auf Verteidigung, d. h. hier auf Vergeltung eines vorausgegangenen Angriffs beschränkt bleiben müsse. Eine Militärstrategie des Blitzkrieges, d. h. also des überraschenden Erstschlages, konnte damit offen nicht propagiert werden.«[19] Gleichwohl bedeutete die Phase der atomaren Abschreckungspolitik keinen nachhaltigen zivilisatorischen Fortschritt, denn mit Auflösung der bipolaren Weltordnung und dem Wegfall der militärischen Parität, erhielt das ius ad bellum wieder Vorrang vor der Abschreckung, zumal mittlerweile der Einsatz von Atomwaffen in Form von mini-nukes nicht mehr bedeutet, gleich die ganze Welt atomar zu vergiften. Nach 1989/90 verlor denn auch mit dem Untergang der Sowjetunion die atomare Abschreckung an Einfluss, und die USA als einzig verbliebene Supermacht machten zunehmend ihr ius ad bellum gegenüber NATO und UN gleichsam als ein exklusives Recht geltend; sie müssen keine ernsthaften Gegenschläge befürchten, weil ihnen keine militärische Macht gewachsen ist. Für Staaten, die von der imperialen Strategie der USA und zunehmend auch der EU bedroht werden, gilt aber nach wie vor die Abschreckung als ein Verteidigungsszenario, insofern sie über Atombomben – wie etwa das kommunistische Nordkorea – verfügen und damit sich diplomatische Beziehungen zu den USA, EU etc. erkaufen, statt wie der Irak »einfach« angegriffen zu werden. Insofern ist es auch (zweck)rational, wenn der Iran nach der Atombombe strebt.

Deutsche Außenpolitik in der Zeit des Kalten Krieges bedeutete, »mit den verfügbaren Mitteln die bestehenden Rahmenbedingungen zu nutzen«[20] und eine Politik der kleinen Schritte zur Umgestaltung der Rahmenbedingungen zu betreiben. Für Gregor Schöllgen hat Deutschland diesbezüglich eine »beachtliche Bilanz« vorzuweisen. Ganz im Gegensatz zur Außenpolitik des Deutschen Reiches, dessen Prinzip es gewesen sei, die Rahmenbedingungen zu missachten und das »Unmögliche«[21] zu realisieren, habe die deutsche Außenpolitik nach 1945 einen gemäßigten Realitätssinn bewiesen und sei dem Prinzip »Ermöglichung des Erforderlichen« gefolgt.[22] Was aber ist für einen Nationalstaat im globalen Kapitalismus außenpolitisch erforderlich?

Staatenkonkurrenz nach der Auflösung der Bipolarität

Während des Kalten Krieges war die Konkurrenz der kapitalistischen Staaten untereinander von einer bipolaren Systemkonkurrenz überlagert. Wenn auch nach der Auflösung der bipolaren Weltordnung die kapitalistische Staatenkonkurrenz wieder ungezügelt zum Vorschein gekommen ist, sind die Staaten auch zunehmend gezwungen, aufgrund zunehmender Interdependenzen innerhalb der Weltpolitik und der globalen ökonomischen Verflechtung (»Globalisierung«), miteinander zu kooperieren, so dass der traditionelle Begriff nationalstaatlicher Souveränität immer weniger zeitgemäß ist und sich die Prinzipien der nationalen Außenpolitik verändert haben. Allerdings war Außenpolitik noch nie eine rein nationale Angelegenheit, weil sie auf Aktionen und Ambitionen anderer verbündeter oder konkurrierender Staaten in unmittelbarer Nähe und aus fernen Regionen reagieren muss. Die Frage aber, die seit 1990 nur unzureichend beantwortet worden ist, lautet: Wie virulent ist heute noch die traditionelle Imperialismustheorie?

Nach der Auflösung der bipolaren Weltordnung zu Beginn der 1990er Jahre kamen euphorische Visionen eines »global governance« in Mode. »Governance (…) [meint] die Gesamtheit der zahlreichen Wege, auf denen Individuen sowie öffentliche und private Institutionen ihre gemeinsamen Angelegenheiten regeln. Es handelt sich um einen kontinuierlichen Prozess, durch den kontroverse und unterschiedliche Interessen ausgeglichen werden und kooperatives Handeln initiiert werden kann. Der Begriff umfasst sowohl formelle Institutionen und mit Durchsetzungsmacht versehene Herrschaftssysteme als auch informelle Regelungen, die von Menschen und Institutionen vereinbart oder als im eigenen Interesse angesehen werden.«[23] »Governance« ist, so schreiben Ines Katenhusen und Wolfram Lamping, allmählich zu einer »sprachlich attraktiv klingenden Projektionsfläche für vage ›Soll-Zustände‹ neuer Staatlichkeit und kooperativ-partizipativer Aufgabenbewältigung geworden und definiert sich als Differenz zu etwas, das man mit ›altem‹, ›traditionellem‹ Regieren assoziiert.«[24]

Es werde nunmehr die Menschheit zu einer Weltgesellschaft zusammenwachsen, hieß es. Eine neue Ära des Friedens und der Entwicklung wurde verkündet. Die Rede war von der alternativlosen one world des Kapitalismus. Es ging um das viel diskutierte »Ende der Geschichte«, das im Kapitalismus als der besten aller möglichen Welten erreicht worden sei.

Alles dies erwies sich schnell als Illusion. Aber die alte Frage, inwieweit im Kapitalismus »Antriebe zu imperialistischer Politik innewohnen«[25], wurde außerhalb linker Diskurse nicht gestellt; Imperialismus wurde auch in Teilen der Linken zunehmend als ein überholtes Vergangenheitsphänomen ad acta gelegt. Der Imperialismus des 19. Jahrhunderts, wie er in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in die Katastrophe von zwei Weltkriegen geführt hat, gehört zwar der Vergangenheit an. Imperiales und hegemoniales Denken ist dennoch nicht aus der Welt. Heute konkurrieren allerdings immer weniger die europäischen Staaten untereinander, sondern die Europäische Union, die USA, China, Russland.

Der alte Imperialismus

Das Wort Imperialismus (lat. imperium = Herrschaft, Herrschaftsgebiet) kam Mitte des 19. Jahrhunderts auf und bezog sich auf das Regierungssystem Napoléons III. (1852–1870). Wenige Jahre später kam das Wort auch in Großbritannien auf. Britische Liberale verwendeten es als »Kampfparole« gegen den konservativen Premierminister Benjamin Disraeli. Dieser hatte Anfang der 1870er Jahre »die Erhaltung und den Ausbau des Empire durch Föderation und Expansion zu einem vordringlichen Ziel britischer Außenpolitik« erklärt.[26] Erst im ausgehenden 19. Jahrhundert erhielt der Begriff des Imperialismus jene Bedeutung, die auch heute noch ihm beigemessen wird. Dies steht im Zusammenhang mit der territorialen Ausdehnung der europäischen Nationalstaaten, die seit 1881 einen »Wettlauf« um die Aufteilung der »Kolonien«, das heißt der noch nicht beanspruchten Gebiete begannen.

Die Hochphase des Imperialismus lag zwischen 1881 und dem Ende des Ersten Weltkrieges. Die Phase davor, die mit dem Wiener Kongress begann, wird als Epoche des Frühimperialismus (1815–1880) bezeichnet. 1881 besetzte französisches Militär Tunesien und 1882 britisches Militär Ägypten. Damit wurde allgemein der Run auf die kolonialisierbare Welt ausgelöst. Nachdem nahezu die meisten überseeischen Gebiete restlos unter den europäischen Mächten aufgeteilt waren, gerieten diese miteinander in kriegerische Konflikte. Als besonders aggressiv trat dabei der deutsche Staat in Erscheinung, der in Bezug auf den Kolonialismus reichlich »zu spät« unterwegs gewesen war, aber nunmehr auch seinen »Platz an der Sonne« einforderte. Am Ende des Ersten Weltkrieges beabsichtigte Thomas Woodrow Wilson die imperialistischen Herrschaftsverhältnisse zu beseitigen und verlangte die Berücksichtigung der legitimen Interessen der kolonialisierten Länder bei der bevorstehenden Neuordnung der kolonialen Ansprüche. In denselben Kontext gehört auch Lenins »Dekret über den Frieden« vom 8. November 1917, in dem die Beseitigung der kolonialen Herrschaft und das Selbstbestimmungsrecht für die kolonialisierten Völker gefordert wurde. 1920 wurde der Völkerbund als internationale Institution des nationalen Interessenausgleichs gegründet. Der Entkolonialisierungsprozess begann, brach sich aber endgültig erst nach 1945 Bahn.

Die Bestrebungen, die imperialistische Ordnung zu überwinden, waren allerdings nicht tiefgreifend genug. Man wird den Imperialismus nicht durch eine politische Neuordnung und Entkolonialisierung überwinden können. Auch andere immanente Versuche – etwa staatliche Regulierungseingriffe in die Ökonomie, wie zum Beispiel der Keynesianismus sind untauglich. Gleichwohl verweist letzter darauf, dass wenn die Binnennachfrage (Konsum) in den Volkswirtschaften sinkt, der kapitalistische Zwang zum Absatz im Ausland (Waren- und Kapitalexport) steigt. Geht es allen Ländern so, entsteht ein verschärfter Konkurrenzdruck, der durch umfassende keynesianistische Politik in begrenztem Umfang abzufedern wäre, wenn man damit auch nicht imstande ist, Imperialismus zu verhindern.[27] Wer also den Kapitalismus nicht kritisieren will, sollte zum Imperialismus schweigen.

Imperialismus erscheint aber mittlerweile als ein schillernder Begriff, der im affektiven Gebrauch als Waffe im politisch wissenschaftlichen Handgemenge stumpf geworden sei, weil mit einer inhaltlichen Mannigfaltigkeit beladen, so dass die Trennschärfe des Begriff verloren ging. Zum Verlust der Trennschärfe soll auch die Unterscheidung zwischen »formellem« und »informellem« Imperialismus beigetragen haben. »Während der formelle Imperialismus auf die direkte politische und militärische Kontrolle eines Territoriums abzielte, beschränkte sich die informelle Variante auf die sogenannte ›Pénétration pacifique‹, also auf die friedliche Durchdringung eines Gebietes. Das Ziel lag auch hier in seiner Kontrolle, aber eben der indirekten, d. h. in der Regel wirtschaftlichen. Der informelle Imperialismus konnte verschiedene Formen annehmen. Dazu zählten der (…) Freihandelsvertrag ebenso wie der Freundschafts- oder Schutzvertrag. Die häufigste und zugleich effektivste Methode der indirekten Kontrolle bestand freilich darin, Länder der überseeischen Welt wirtschaftlich und finanziell in einem Maße von den europäischen Staaten abhängig zu machen, das sich gelegentlich nur noch graduell von einer direkten politischen Kontrolle unterschied.«[28] Der Begriff des »informellen Imperialismus« sollte dazu dienen, schreibt Peter Alter, »die zahlreichen Zwischenformen politischer, wirtschaftlicher oder auch kultureller Abhängigkeit unterentwickelter Regionen gegenüber den industriell fortgeschrittenen imperialistischen Mächten in dieser Zeit abzudecken«. Diese Begriffsdifferenzierung sei in Wahrheit eine Begriffsverallgemeinerung gewesen, die Konturen verschwimmen, so dass »alle Beziehungen zwischen unterschiedlich entwickelten Ländern imperialistisch genannt werden« können. »In letzter Konsequenz wäre dann beispielsweise jedes wirtschaftliche Austauschverhältnis zwischen Staaten unterschiedlichen wirtschaftlichen Potentials von imperialistischen Beziehungen kaum mehr zu trennen.«[29] Alter rät aus diesem Grund zu einem zurückhaltenden Gebrauch des Imperialismus-Begriffes. – Dagegen spricht allerdings die Aktualität des Imperialismus. Aber so ähnlich, wie »Kolonialismus« eine der ausgeprägenden Bezeichnungen für die Hochphase des Imperialismus (1881–1917) gewesen ist,[30] könnte man für die andauernde Phase nach 1990 eine präzisierende Bezeichnung finden.

Der neue Imperialismus: Hegemonialismus

Da die neue Phase des Imperialismus nicht mehr damit zu tun hat, fremde Gebiete durch Landnahme unter direkte Kontrolle zu bringen, dafür aber andere Regierungen massiv unter Druck zu setzen und in ihrer Souveränität einzuschränken, um vermittelten oder gar direkten Zugriff und Gestaltungsmacht auf die ausländischen Märkte zu erhalten, mithin es um die Frage der Hegemonie[31] geht, könnte man diese Phase des Imperialismus als Hegemonialismus begreifen.

Es ist jedenfalls eine weit verbreitete Illusion, davon auszugehen, dass der Imperialismus der Vergangenheit angehöre. Für gewöhnlich wird die Antiquiertheit des Imperialismus damit begründet, dass es den modernen Nationalstaaten im Zeitalter der sogenannten Globalisierung nicht mehr um die Erweiterung ihres territorialen Besitzes und schon gar nicht mit dem Mittel der feindlichen Landnahme: der Landnahme durch Krieg gehen könne. Die »Gier nach Land« entspricht denn auch – so die klassische Imperialismustheorie – dem Habitus der Feudalklassen, von denen heute in den modernen Gesellschaften keine Rede mehr sein kann. Aber auch, wenn die Feudalklassen in den fortgeschrittenen Industrienationen aufgelöst sind, bedeutet das nicht, dass moderne Kriege in der Gegenwart keinen imperialistischen Grund mehr haben.

Heute reicht schon die Kontrolle über die ausländischen Kapitale aus, ohne das Land feindlich nehmen zu müssen, um die nationalen Kapitalinteressen zu realisieren. Aber Krieg dient nach wie vor als letztes Mittel, um die nationalen Interessen gegenüber dem Ausland, die »Gier nach Märkten« oder mit Marx ausgedrückt: den »Heißhunger nach Mehrarbeit« durchzusetzen. Kriege sind in der Regel Ausdruck wirtschaftlicher Interessen. Und schon der Aufbau militärischer Überlegenheit gegenüber anderen Nationalstaaten dient der Durchsetzung wirtschaftlicher Interessen. Dies gilt nach wie vor, auch wenn die Interessen des Kapitals immer weniger national ausgerichtet sind. Die staatliche »Gier nach Märkten« im Ausland hat sich etwa seit Mitte der achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts quantitativ gesteigert und damit eine neue Qualität geschaffen, die man mit dem Wort »Globalisierung« zu begreifen versuchte. Dahinter steckte ein Trend, massiv Produktionsstätten im Ausland zu errichten, das heißt, das Kapital statt der Waren zu exportieren. Seit 1985 dominierte allmählich die Warenproduktion im Ausland gegenüber dem Warenexport. Der Absatz ausländischer Tochterkonzerne übertraf im Jahre 1992 mit 5,2 Billionen Dollar den des Welthandels mit 4,9 Billionen Dollar. Im Jahre 2000 ist der Umsatz der Tochterkonzerne im Ausland bereits doppelt so hoch wie das Weltexportvolumen. 2000 lag das Volumen der »Auslandsdirektinvestitionen« (Kapitalexport) bei 20 Prozent des Weltsozialprodukts; 1980 hatte es noch bei fünf Prozent gelegen.[32] Man sprach schließlich vom »Transnationalen Kapital«. Die Trendwende zum Kapitalexport macht den qualitativen Wandel: die »Globalisierung« aus. Das staatliche Interesse, die ausländischen Märkte zu gestalten nahm damit zu; denn der Kapitalexport muss wesentlich intensiver als der Warenexport durch eine demokratische und kapitalfreundliche Infrastruktur im Ausland abgesichert werden. Dies gilt weniger für die westlichen und transatlantischen Nachbarstaaten, in denen demokratische und kapitalistische Strukturen in den Gesellschaften fest verankert sind; es gilt vor allem für die weniger entwickelten, vor- oder halbmodernen Länder dieser Welt, die zunehmend durchkapitalisiert wurden und werden.

Der qualitative Wandel, der durch die Transformationsprozesse zu Beginn der 1990er Jahre ausgelöst wurde, ist mit dem Wort »Globalisierung« sehr unscharf bezeichnet worden. Denn die Globalisierung ist kein historisches Novum, das mit dem Zusammenbruch der bipolaren Weltordnung begann – wenn mit ihr die Tendenz des Kapitals gemeint ist, sich aufgrund des »Heißhungers nach Mehrwert« über den ganzen Erdball auszubreiten und alles Stehende zu verdampfen, das heißt, die jeweiligen rückständigen gesellschaftlichen Verhältnisse an die für das Kapital erforderlichen modernen Standards anzupassen. Bereits Marx und Engels brachten vor mehr als 150 Jahren dieses politisch-ökonomische Zwangsverhältnis des Kapitalismus auf den Punkt.[33] Verändert hat sich an dem Sachverhalt bis heute nichts Wesentliches. So täuscht der Begriff »Globalisierung« Gleichzeitigkeit der Verhältnisse vor, wo die Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigkeit der treibende Impuls der modernisierenden Dynamik in den weniger entwickelten Gesellschaften ist.[34]

Der qualitative Wandel der politischen Ökonomie besteht eher darin, dass die Universalgeschichte des Wertgesetzes seit Anfang der 1990er Jahre von etlichen Beißhemmungen befreit wurde. Erstmals in der Geschichte geriet die stets prekär gewesene Einheit aus Nationalökonomie und Nationalstaat in Erosion und hinterließ einen mehr und mehr depotenzierten Staat gegenüber einem transnationalen Kapital. Das Kapital kennt kein Vaterland mehr, aber es ist deshalb von diesem nicht völlig entbunden: Das Kapital kennt viele Vaterländer, und eines ist so gut wie das andere, solange in ihnen als »Standorte« die Bedingungen für eine optimale Kapitalakkumulation bereitgestellt werden. Dazu fühlen sich die kapitalistischen Staaten verpflichtet, und zugleich müssen sie dafür sorgen, dass die Bedingungen »ihrer« nationalen Kapitale im Ausland gute Geschäftsbedingungen vorfinden. Natürlich spielt das Kapital auch die verschiedenen »Vaterländer« gegeneinander aus, um den Modernisierungsprozess in den einzelnen Staaten zu beschleunigen.

Nach der klassischen Marxschen Analyse galt der Staat als das ausführende Organ, das die Interessen der Kapitalisten organisiert. Er organisiert nicht so sehr die Partikularinteressen der einzelnen Kapitalisten als viel mehr das Allgemeininteresse des Gesamtkapitals, so dass die Politik des Staates häufig im Konflikt mit einzelnen Kapitalisten stehen konnte. Die notwendige Konkurrenz unter den ihrer Natur gemäß kurzsichtigen Einzelnen gefährdete das Wohl des »ideellen Gesamtkapitalisten«, der deshalb eine Politik der Weitsicht verfolgen, das heißt zwischen den partikularen Interessen vermitteln und Entscheidungen treffen muss, die oftmals den Widerstand der Einzelnen erregen können. Obwohl insgesamt die allgemeinen Interessen des Kapitals durch die weitsichtige Politik des Staates gewahrt bleiben, werden die einzelnen Kapitalisten in der Regel die Macht des Staates bekämpfen, jedenfalls für mehr Bewegungsfreiheit kämpfen. Die Konzerne sind demnach für eine Expansion auf einen starken Nationalstaat angewiesen, dessen Diplomatie und militärische Kraft im Hintergrund steht.

Seit den 1970er Jahren hatte die Chicago School um Milton Friedman, die den Begriff des Neoliberalismus geprägt hat, die passende Ideologie des Freihandels bereitgestellt, nach deren Konzepten die sogenannte Globalisierung gestaltet wurde – zunächst modellhaft in Lateinamerika, dann auch in den USA und in Westeuropa und nach 1989 schließlich in den Ländern des ehemaligen real existierenden Sozialismus. Die Freihandelslehre war eine Kampfansage gegen den Marktprotektionismus, mit dem Staaten ihre Nationalökonomien vor dem Weltmarkt resistenter zu machen versucht haben. Diese Abschottungsmentalität gegenüber dem westlichen Kapital sollte beendet werden.

Nach dem Ende des Kalten Krieges begannen die USA im Rahmen ihrer Globalisierungsstrategie ihren Status als Supermacht auszubauen. Die Umfunktionalisierung der internationalen und supranationalen Institutionen des »global governance« zu Instanzen der unmittelbaren Einflussnahme zur Durchsetzung einer neoliberalen Weltwirtschaftsordnung stand in einem Wechselverhältnis mit der Beendigung der Systemkonfrontation. »Die Vereinigten Staaten sind dabei, die Architektur internationaler Politik so zu verändern, dass ihre ökonomische und militärische Hegemonie in der methodischen Umsetzung keiner Beschränkung, keiner korrigierenden Macht und keinem Veto mehr unterliegt. Dies schließt die Kompetenz ein, sich über die Souveränitätsrechte anderer Nationen hinwegzusetzen, auch die Definitionsherrschaft, Staaten oder Organisationen als terroristische Gefahrenherde zu etikettieren und kriegerisch ›stillzulegen‹, gegebenenfalls auch präventiv. Verändert wird damit auch die Funktion der Vereinten Nationen, ebenso die der NATO. Herkömmliche völkerrechtliche Anforderungen werden im Zuge der weltarchitektonischen Neuordnung obsolet.«[35]

Mit den supranationalen Institutionen IWF, Weltbank und WTO werden den neoliberalen Konzepten eine machtvolle Durchschlagskraft verliehen. Durch die Koppelung der Kreditvergabe und der Entschuldung der »Dritten Welt« gegenüber den reichen westlichen Industrienationen an die Einhaltung bestimmter Kriterien, die im wesentlichen die Aufgabe des Protektionismus bedeuten (Öffnung der nationalen Märkte für ausländisches Kapital, Aufgabe der Zollschranken, Koppelung der nationalen Währung an den Dollar und Euro, Reduzierung der Inflationsrate durch Einsparungen der Staatsausgaben vorrangig im sozialen Bereich, Abbau der Arbeitsrechte, Schwächung der Gewerkschaften, etc.), geraten die abhängigen Länder unter direkten Einfluss der »Ersten Welt«, das heißt, sie werden in ihrer innen- und außenpolitischen Souveränität beschränkt.

Über »Supervision« und »Konsultationen« kontrolliert der IWF die Währungs- und Finanzpolitik fast aller Länder der Welt und reguliert die Bereitstellung internationalen Geldes. Allein die G8-Staaten verfügen im Kontrollgremium des IWF annähernd über 50 Prozent der Stimmrechte, das ist eine Dominanz, gegen die die restlichen Staaten der Welt kaum ankommen können. Die Weltbank vergibt jährlich zirka 30 Milliarden US-Dollar für Kapitalhilfe an Entwicklungsländer in Form von Krediten.[36] IWF und Weltbank machen Währungs-, Finanz- und Strukturpolitik. Mit den neoliberalen Kriterien der Kreditmittelvergabe greifen sie aktiv in die Innen- und Außenpolitik anderer Länder ein. Die WTO ist seit 1994 die Nachfolgeorganisation von GATT (Allgemeines Zoll- und Handelsabkommen); ihre Aufgabe besteht in der Regulation des internationalen Handels mit dem Ziel der vollständigen Liberalisierung des Welthandels (Abbau von Zollschranken und anderer Handelshemmnisse); 142 Mitgliedstaaten gehören ihr an.

Internationale Regulation und »Interessenausgleich« funktionieren mittlerweile weitgehend ohne Ausübung direkter Gewalt; die Hegemonie des Rechts wird allgemein anerkannt. »Obwohl dazu kein offener Einsatz von Gewalt erforderlich ist, stellt die rücksichtslose Durchsetzung dieser Wirtschaftsreformen dennoch eine Form der Kriegsführung dar. In diesem allgemeineren Sinne sind Krieg und Globalisierung keine getrennten Probleme. (…) Zu Beginn des dritten Jahrtausend gehen Kriege und ›freie‹ Märkte Hand in Hand. Der Krieg ist gewissermaßen das multilaterale Investitionsabkommen der letzten Instanz. Er zerstört physisch, was durch Deregulierung, Privatisierung und die Erzwingung von ›Marktreformen‹ noch nicht vernichtet wurde. (…) Die ›Raketendiplomatie‹ von heute wiederholt die Kanonenbootdiplomatie, die im 19. Jahrhundert zur Durchsetzung des ›Freihandels‹ diente.«[37]

Solche Staaten, die sich der internationalen Regulation widersetzen und zum Beispiel wie der Iran die »westlichen Normen« nicht anerkennen, setzen sich dem Risiko aus, Zielscheibe für militärische Aggressionen zu werden. Die westlichen Werte Pluralismus, Individualismus und Privateigentum sollen universell anerkannt werden und als Normen des gesellschaftlichen Zusammenlebens weltweit Geltung besitzen. Insofern diese normative Grundlage in Frage gestellt wird oder noch nicht gewährleistet werden kann, werden gewaltmäßige Machtfaktoren in die Politik miteinbezogen oder sogar durch sie abgelöst, »die Macht der USA hat (…) gegenwärtig weltweit keine gleichgewichtigen Konkurrenten, aber es bestehen Staaten, die nicht die Absicht haben, die USA als imperiales Zentrum anzuerkennen, auch wenn sie deren ökonomischer und militärischer Vormacht zur Zeit nicht Paroli bieten können. (…) Aus alledem lässt sich schließen: Das Zeitalter des Imperialismus ist nicht vorbei.«[38] Es wäre allerdings fatal, nicht zu erkennen, dass die Virulenz des Imperialismus nicht einzig an den USA aufzuzeigen wäre. In nahezu jeder Region, sei es in Europa die EU und Russland, in Asien China oder Indien, im Nahen Osten der Iran oder Israel, streben Mächte um die regionale Hegemonie. Dies nicht zur Kenntnis zu nehmen, sondern einzig die Kritik am Imperialismus auf die USA zu beziehen, könnte sich zu Recht dem Verdacht eines ungebührlichen Antiamerikanismus aussetzen.

Seit 1945 hat es auf der Welt weit über 150 Kriege gegeben. An den meisten waren unmittelbar oder vermittelt entweder die USA, Großbritannien oder Frankreich mit eigenen Truppen oder Kriegsgerät beteiligt. Nur der Bundesrepublik blieb das militärische Mittel der Durchsetzung nationaler Interessen vergönnt; Deutschland hat zweimal in dem Versuch, nach der Weltmacht zu greifen, diese Welt mit fürchterlichen Kriegen überzogen und Auschwitz zu verantworten. In der Folge war Deutschland von den alliierten Sieger- und Befreiungsmächten die staatliche Souveränität aberkannt worden. Im internationalen Kräftespiel hatte der westdeutsche Staat aufgrund der über 50 Jahre währenden eingeschränkten Souveränität einen »Standortnachteil«. »Die Bundesrepublik musste sich mit der Rolle des Juniorpartners zufrieden geben. Von der DDR ganz zu schweigen, die sich der Sowjetunion unterzuordnen hatte.

Normalisierung Deutschlands

Lediglich tastende Schritte einer eigenen Außenpolitik in einem strengen Ordnungsrahmen waren der Bundesrepublik gestattet.«[39] Das ius ad bellum musste im Rahmen einer außenpolitischen Normalisierung zunächst erst wieder hergestellt werden,[40] da es als wichtigstes Kriterium der Staatssouveränität nach außen gilt – jedenfalls auf der Grundlage der imperialistischen Weltordnung von 1914 und aus kapitallogisch-systematischer Perspektive, die nach dem Zweiten Weltkrieg von den Konservativen am ehesten eingenommen wurde.

Die außenpolitische Normalisierung des vereinten deutschen Staates war in erster Linie auf das ius ad bellum gerichtet, dessen Wiederherstellung nicht nur ein Problem der Vergangenheitspolitik und der diplomatischen bilateralen Beziehungen, sondern auch ein strukturelles Problem der Bundeswehr gewesen ist. Die Bundeswehr war nach einhelliger Ansicht der deutschen Militärs und Außenpolitiker zwar verteidigungsfähig, aber nicht kriegsfähig und mithin nach 1989/90 nicht wirklich bündnisfähig, da die NATO sich von ihrem Verteidigungsauftrag »emanzipierte«. Normalisierung meint im außenpolitischen Bereich demzufolge die Herstellung von Einsatzfähigkeit der Bundeswehr in Kriegen (»Kriegsfähigkeit«) sowie ihre damit gleichbedeutende »Bündnisfähigkeit«.

Jedwede Einbindung in kollektive Sicherheits- oder Verteidigungssysteme (UNO, NATO etc.), in denen das freie Recht, Krieg zu führen, den Mitgliedstaaten eingeschränkt oder gar aberkannt wird, mussten jedoch die Konservativen als unbillige Einschränkung der staatlichen Souveränität auffassen. Für Deutschland gilt aber auch, dass über die Einbindung in kollektive Sicherheitssysteme und die daraus resultierenden Bündnisverpflichtungen die strikte Absage ans ius ad bellum teilweise umgangen werden konnte.[41] Nachdem die alliierten Siegermächte der BRD eine eingeschränkte Souveränität zubilligten, mussten die Konservativen diese als »gefesselte Souveränität« auffassen; zumal sie für sie auch unvollständig war, da sie sich nur auf das halbe Territorium des ehemaligen Deutschen Reiches bezog.[42] Die Herstellung des ius ad bellum für den gesamtdeutschen Staat war mithin zunächst eine wesentliche Angelegenheit der konservativen Eliten, musste sich aber stets mit der NATO und nach der deutschen Einheit zunehmend mit der Schaffung einer europäischen Verteidigungs- und Sicherheitspolitik im Rahmen der EU-Integration arrangieren. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte nicht nur Deutschland seine Souveränität, sondern das gesamte Europa: die alten Mächte hatten ihre Unabhängigkeit verloren. Die Einflusssphären verlagerten sich zugunsten der neuen Supermächte USA und UdSSR; das Britische Empire löste sich auf, es kam zur Blockbildung, Konfrontation, zum Kalten Krieg. Anfang der 1990er Jahre begannen sich die Einflusssphären neu zu sortieren. Die UdSSR verlor aufgrund ihrer Auflösung abrupt, die USA verloren im Zuge der EU-Integration sukzessive ihre Hegemonien über Ost- und Westeuropa.

Staatliche Souveränität

Staatliche Souveränität im traditionellen Sinne bestimmt sich nach der von Carl Schmitt vorgenommenen Definition, wonach Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand nach innen und außen verfügt.[43] Die beiden wesentlichen Potentiale des über den Ausnahmezustand verfügenden souveränen Staates sind die »Befehlsunabhängigkeit« sowie das »Befehlenkönnen«.[44] Dieser Souveränitätsaspekt fungiert als traditioneller Normalitätsstandard, der allerdings selbst einer Dynamik nach beiden Richtungen hin unterlegen ist, sich aufhebt: Nach innen ist die staatliche Souveränität dem »westlichen Standard« entsprechend unveräußerliches Eigentum des Volkes geworden (Volkssouveränität), auch wenn die Ausübung der Souveränität an staatliche Institutionen und der dort versammelten herrschenden Elite delegiert wird. Michael Jäger schreibt: »In diesen westlichen Gesellschaften ist der Staat zwar auch von der Gesellschaft abgehoben, aber die Staatsabstraktion hat einen angebbaren Inhalt. Es ist jedesmal der Inhalt, dass das Volk selber den Staat übernahm, um sich selber in Staat und Gesellschaft zu spalten, wovon der dazwischen vermittelnde Parlamentarismus nur zeugt; und dass diese Staatsübernahme in bestimmten Ereignissen, Kämpfen um bestimmte Ziele geschah. Die Bestimmtheit der Ereignisse und der Ziele ging in die jeweilige Staatsabstraktion ein, um sie wenigstens teilweise zu konkretisieren.«[45]

Nach außen ist die staatliche Souveränität weniger demokratisiert als nach innen. Immer dann, wenn von »Staatsräson« die Rede ist, ist der spezifische Inhalt der staatlichen Politik der demokratischen Kontrolle und Verfügung mehr oder weniger entzogen. Außenpolitik ist mehr als die Summe der einzelnen Entscheidungen und Handlungen, sondern hinter diesen steht ein Prinzip: eine Gesamtstrategie, die nicht immer – sogar in den seltensten Fällen – ganz offen liegt. Die Gesamtstrategie wird kaum demokratisch festgelegt; sie ist Angelegenheit der staatlichen Eliten. Das hat Tradition, die bis in die Monarchien zurückgeht und bis in die Gegenwart reicht. In der öffentlichen Meinung sehen die herrschenden Eliten eher ein Hindernis oder einen instrumentalisierbaren Faktor. Die herrschenden Eliten ziehen hin und wieder gerne die öffentliche Meinung zur Legitimation außenpolitischer Entscheidungen heran. Der Einfluss der öffentlichen Meinung auf die Außenpolitik ist allerdings sehr gering. Es wird lediglich die Möglichkeit eines demokratischen Entscheidungsprozesses suggeriert. – Existiert Übereinstimmung zwischen der öffentlichen Meinung und der Außenpolitik, wird sie zur Legitimation herangezogen; existiert Divergenz, wird die öffentliche Meinung zum Objekt propagandistischer Kampagnen, um Deckungsgleichheit einseitig herzustellen. Oder es wird die öffentliche Meinung aus anderen Staaten zur Legitimation instrumentalisiert, um auf die eigene Öffentlichkeit Druck auszuüben. Es wäre mithin eine vernünftige Forderung, außenpolitische Entscheidungen einer demokratischen Kontrolle und Einflussmöglichkeit zu unterziehen.

Eingeschränkte Souveränität

Außenpolitische Souveränität des Staates wird zunehmend durch interstaatliche Institutionen aufgehoben. Das moderne Völkerrecht tritt mit dem Anspruch auf, die außenpolitische Souveränität von Staaten einzuschränken, das heißt, bestimmten Regeln zu unterwerfen. Die Einhaltung der Regeln ist allerdings davon abhängig, dass Staaten den Regelkodex allgemein und freiwillig anerkennen, da es noch kein vollständig ausgebildetes überstaatliches Gewaltmonopol gibt, das die Nichteinhaltung effektiv genug sanktionieren könnte. Ansätze der Herausbildung eines überstaatlichen Gewaltmonopols gibt es dennoch, und sie stellen einen zivilisatorischen Fortschritt im Sinne der sukzessiven Abkehr vom Schmittschen Diktum dar.

Die Genfer Konventionen entsprangen der Idee, mittels internationalen Rechts Kriege zu domestizieren. Mit dem Völkerbund wurde nach dem Weltkrieg (1920) versucht, Mittel der Sanktion zu etablieren, wenn Kriege gegen den Gerechtigkeitskodex verstießen. Mit dem Briand-Kellog-Pakt (1928) wurde erstmals auch explizit der Angriffskrieg geächtet und eine Einschränkung des absoluten ius ad bellum für souveräne Staaten unternommen. Die UN-Charta erlaubt staatliche Gewalt gegen andere Staaten (Mitglieder der UN) nur, insofern es sich um eine Verteidigung gegen einen bewaffneten Angriff handelt.[46] In diesem relativen Sinne sind Staaten außenpolitisch nicht mehr absolut souverän. Die rechtliche Regelung zwischenstaatlicher Gewalt im modernen Völkerrecht ist dreigeteilt; man unterscheidet zwischen dem ius ad bellum (Recht zum Krieg), dem ius in bello (Recht im Krieg) und dem ius armorum (Recht der Rüstung).[47] Im »Recht zum Krieg« werden Gerechtigkeitsmaßstäbe angelegt. Nur »gerechte« Kriege sollen geführt werden dürfen. »Ungerechte« Kriege werden international zumindest geächtet.[48] Das »Recht im Krieg« soll die Verwendung von Waffen regeln, um »Gerechtigkeit« im Krieg zu schaffen, zum Beispiel durch die »menschliche« Behandlung von Opfern und Kriegsgefangenen. Im »Kriegsvölkerrecht« ist man zumindest zu einer fortschrittlichen Erkenntnis gelangt, dass alle vom Krieg Betroffenen Opfer sind.[49] Schwierig allerdings ist es, den Aggressor und Schuldigen ausfindig zu machen, weil die Aggressoren unter dem moralischen Primat des Gewaltverzichtes ihre Aggression als Verteidigung kaschieren und demzufolge nur noch beiderseitige »Verteidigungskriege« geführt werden (preemptive strike). Das »Recht der Rüstung« regelt den Besitz von Waffen (zum Beispiel Atomwaffensperrvertrag 1968, B-Waffen-Konvention 1972, C-Waffen-Konvention 1993). Durch das Einwirken auf staatliche Rüstungsprogramme können zum Teil die Mittel, die Voraussetzung für Kriege sind, eingeschränkt werden, wenn auch die strukturellen Gründe für die Entstehung von Kriegen damit nicht beseitigt werden. Immerhin können vertrauensbildende Maßnahmen, etwa Rüstungskontrolle, Sperrverträge, Transparenz der Industrien etc. dazu beitragen, dass ein gefährliches Wettrüsten verhindert oder es sogar zu einem gegenseitigen Abrüsten kommt.

Alle diese mehr oder weniger verbindlichen durch das Völkerrecht abgesicherten Einschränkungen zeigen trotz der zeitweiligen Tendenz, das Völkerrecht zu ignorieren, dass ein traditioneller Imperialismus gar nicht mehr wirkmächtig sein kann, weil sich das Interdependenzgeflecht des Weltordnungsgefüges deutlich verändert hat. Die imperialistischen Mechanismen werden durch die Standards des modernen Völkerrechts, die Normen des »global governance«, durch die Existenz supranationaler Institutionen (UNO, IWF, Weltbank, NATO etc.), nicht zuletzt aufgrund höherer Angewiesenheit der Staaten aufeinander nicht nur zu Krisenzeiten des globalen Kapitals, sowie der Transnationalisierung der ursprünglich nationalen Kapitale zur Transformation gezwungen. Transformation bedeutet aber nicht Verschwinden. Die Mechanismen bleiben wirkmächtig, gerade weil sie im Zuge der Transformation aufgehoben werden.

Dort, wo etwas dem dialektischen Wortsinn nach aufgehoben wird, muss sich auch ein neuer Begriff einfinden. Der Imperialismus hat sich nicht als das letzte Stadium des Kapitalismus erwiesen. Vielmehr durchläuft der Imperialismus (wie der Kapitalismus auch) verschiedene Phasen. Jede dieser Phasen hängt von dem dynamischen Gestaltwandel des Kapitalismus selbst ab. Wenn wir mithin den Begriff ad acta legen, verzichten wir auf ein adäquates Begreifen der Welt, in der wir leben. Es gilt demnach auch umgekehrt: Wer den Imperialismus nicht kritisieren möchte, sollte zum Kapitalismus schweigen.

Anmerkungen:

[1] Der Nahostkonflikt wird dabei allerdings allerhöchstens am Rande thematisiert. Inwieweit überhaupt der Nahostkonflikt heute noch mit einer wie auch immer aktualisierten Imperialismustheorie vorrangig gedeutet werden kann, stimmt den Verfasser skeptisch.

[2] Es sei angemerkt, dass Fischer auch auf einen blinden Fleck bei den antiimperialistischen Linken reagiert hat, deren oftmals unbekümmert kategorischer Pazifismus sich offenbar gleichgültig gegenüber Völkermord verhält und dabei allzu sehr darauf fixiert ist, militärische Interventionen auf imperialistische Motive nahezu vollständig zurückzuführen, mithin in der Kritik ebenso wie die Antideutschen, die imperialistische Motive ausblenden, recht einseitig verfährt. Auch spielt Auschwitz für den Pazifismus eine tragende Rolle für dessen kategorische Legitimation. Übersehen wird dabei oftmals, dass die Befreiung von Auschwitz nicht ohne militärische Intervention der Anti-Hitler-Koalition möglich gewesen war, auch wenn diese ebenfalls imperialistischer Motive nicht unverdächtig gewesen ist.

[3] Fukuyama hatte das Ende des Imperialismus damit zu begründen versucht, dass es empirisch nachweisbar sei, »dass liberale Demokratien untereinander keine imperialistische Politik betreiben, obwohl sie durchaus in der Lage sind, Staaten mit Krieg zu unterziehen, die keine Demokratien sind und ihre Grundwerte nicht teilen«. – Francis Fukuyama: Das Ende der Geschichte: Wo stehen wir?, München 1992, S. 23. – Fukuyama verkennt allerdings, dass nicht jede imperialistische Politik auf einen manifesten Krieg hinausläuft, dass der Krieg jedenfalls in der gegenwärtigen imperialistischen Politik die ultima ratio ist, weil kriegerische Mittel zur Erreichung imperialistischer Ziele immer weniger zielführend geworden sind. Darüber hinaus übersieht Fukuyama, dass die Welt nach der Auflösung der Bipolarität nach wie vor auch aus Staaten besteht, die nicht liberal-demokratisch verfasst sind.

[4] »Ökonomische und politische Verteilungskämpfe werden als kulturelle ausgegeben, und ihre Ursache wird in der prinzipiell angenommenen Unverträglichkeit der verschiedenen Kulturen gesehen. Statt auf Verhandlungen, Kooperationen und Verständigung setzt das Insistieren auf kulturellen Identitäten vorgebliche traditionalistische Leitdifferenzen, die nicht verhandelbar sind. Konflikte mit Berufung auf kulturelle Differenz haben ihre eigene Dynamik.« – Tatjana Freytag: Der unternommene Mensch. Eindimensionalisierungsprozesse in der gegenwärtigen Gesellschaft, Weilerswist 2008, S. 134.

[5] Diese auf dem Mitgliederworkshop der RLS »Die Linke und der Nahostkonflikt – Geschichte(n) und Befindlichkeiten« (10.7.2010) vorgetragene These stieß nicht nur auf Zustimmung. Zumindest die Frage, inwiefern die antideutschen Stichwortgeber demselben Verdikt unterliegen, wurde von Micha Brumlik in Zweifel gezogen. Der Verfasser räumt an dieser Stelle ein, dass sehr deutliche qualitative Unterschiede zwischen dem antideutschen Milieu, den Wortführern und deren spiritus rectoren zu erkennen sind.

[6] In der Signatur der terroristischen Anschläge vom 11. September 2001 hätte man aber auch ein antiimperiales Muster erkennen können. Das World Trade Center, in das zwei Flugzeuge gesteuert wurden, stand in der Kollektivsymbolik für die ökonomische Macht der USA. Das Pentagon, das ebenfalls Ziel eines Anschlages wurde, symbolisiert deren militärische Macht. Ein weiteres Flugzeug sollte das Weiße Haus treffen, Symbol der politischen Macht. Warum geriet die Freiheitsstatue als kulturelles Symbol der westlichen Freiheit nicht ins Fadenkreuz der Terroristen? Es wäre das Anschlagsziel für einen tatsächlichen Angriff auf die westliche Zivilisation gewesen.

[7] Bei der Vielzahl an unterschiedlichen Theorieansätzen zum Imperialismus ist eine allgemeine Begriffsdefinition vor Schwierigkeiten gestellt. Es sei dennoch mit Jürgen Osterhammel versucht: ›»Imperialismus‹ ist der Begriff, unter dem alle Kräfte und Aktivitäten zusammengefasst werden, die zum Aufbau und zur Erhaltung (…) transkolonialer Imperien beitrugen. Zum Imperialismus gehört auch der Wille und das Vermögen eines imperialen Zentrums, die eigenen nationalstaatlichen Interessen als imperiale zu definieren und in der Anarchie des internationalen Systems weltweit geltend zu machen. Imperialismus impliziert also nicht bloß Kolonialpolitik, sondern ›Weltpolitik‹, für welche Kolonien nicht alleine Zwecke in sich selbst, sondern auch Pfänder in globalen Machtspielen sind.« – Jürgen Osterhammel: Kolonialismus. Geschichten, Formen, Folgen, 2. Aufl., München 1997, S. 27f.

[8] Konrad Adenauer zit. n. David Meienreis und Frank Renken (Hrsg.): Krieg und Globalisierung. Der Imperialismus: Vom Kolonialismus zu den Kriegen des 21. Jahrhunderts, Frankfurt am Main 2002, S. 52.

[9] Andrei S. Markovits und Simon Reich: Das deutsche Dilemma. Die Berliner Republik zwischen Macht und Machtverzicht, mit einem Vorwort von Joschka Fischer, Berlin 1998, S. 51.

[10] Vgl. Gregor Schöllgen: Die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Bonn 1999, S. 227.

[11] Ebd., S. 226.

[12] Vgl. Franz Josef Strauß: Die Erinnerungen, Berlin 1989, S. 310.

[13] Vgl. Gerhard Stuby: Die »gefesselte« Souveränität der Bundesrepublik. Zur Entwicklung der BRD im Rahmen der US-Globalstrategie, Heilbronn 1987, S. 130.

[14] Charles de Gaulles strebte nach größtmöglicher Eigenständigkeit Frankreichs gegenüber den westlichen Verbündeten in der bipolaren Weltordnung. Daher legte er sehr großen Wert auf den nationalen Besitz von und die Verfügungsgewalt über Atombomben. Prominente Vertreter des »deutschen Gaullismus« waren u. a. Franz Josef Strauß (CSU), Konrad Adenauer (CDU) und auch der Verleger Axel Springer. – »Sie nahmen nur vorweg, was sich seitdem schrittweise vollzogen hat und noch immer vollzieht: die Wiederherstellung Deutschlands als eigenständige imperialistische Macht.« – Meienreis und Renken (Hrsg.): Krieg und Globalisierung, a. a. O., S. 56.

[15] Vgl. Hans-Karl Rupp: Außerparlamentarische Opposition in der Ära Adenauer. Der Kampf gegen die Atombewaffnung in den 50er Jahren, Köln 1980.

[16] Vgl. Stuby: Die »gefesselte« Souveränität der Bundesrepublik, a. a. O., S. 216.

[17] Franz Josef Strauß und Willy Brandt zit. n. Volkhard Mosler: An Krieg wieder gewöhnen? Niemals! Die Rückkehr des deutschen Militarismus, Frankfurt am Main 1999, S. 32.

[18] Vgl. J. Strelzow: »Warum das annähernde militärische Gleichgewicht gewahrt werden muss«, in: horizont, 27/1982, S. 10; zur militärischen Parität siehe auch Adelbert Weinstein: »Verwirrung in der Allianz. Die NATO und der Atom«, in: FAZ vom 20. April 1982, S. 12.

[19] Stuby: Die »gefesselte« Souveränität der Bundesrepublik, a. a. O., S. 124.

[20] Schöllgen: Die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland, a. a. O., S. 230.

[21] Vgl. Kurt Riezler: Die Erforderlichkeit des Unmöglichen. Prolegomena zu einer Theorie der Politik und zu anderen Theorien, München 1913.

[22] Vgl. Schöllgen: Die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland, a. a. O., S. 230.

[23] Commission on Global Governance: Nachbarn in einer Welt. Der Bericht der Kommission für Weltordnungspolitik, Stiftung Entwicklung und Frieden, Bonn 1995, S. 4. – »Insbesondere grenzt sich Governance gegen government ab. Während mit letzterem Begriff das institutionalisierte staatliche Steuerungssystem bezeichnet wird, meint Governance das Regulierungssystem, das kollektives Handeln steuert.« – Dietrich Fürst: »Regional Governance zwischen Wohlfahrtsstaat und neo-liberaler Marktwirtschaft«, in: Ines Katenhusen und Wolfram Lamping (Hrsg.): Demokratien in Europa. Der Einfluss der europäischen Integration auf Institutionenwandel und neue Konturen des demokratischen Verfassungsstaates, Opladen 2003, S. 251–267; S. 251.

[24]] Ines Katenhusen und Wolfram Lamping: »Über diesen Band: Demokratie, europäische Integration und Institutionenwandel«, in: dies. (Hrsg.): Demokratien in Europa. Der Einfluss der europäischen Integration auf Institutionenwandel und neue Konturen des demokratischen Verfassungsstaates, Opladen 2003, S. 9–28; S. 24.

[25] Arno Klönne: »Empire und Empirie. Zum Diskurs über US-amerikanische Globalpolitik«, in: Rainer Butenschön und Eckart Spoo (Hrsg.): Töten – Plündern – Herrschen. Wege zu neuen Kriegen, Hamburg 2003, S. 126–130; S. 127.

[26] Vgl. Peter Alter: Der Imperialismus. Grundlagen – Probleme – Theorien, Stuttgart, S. 2. Rede des Premierminister Benjamin Disraeli vor Vertretern der Wahlkreisorganisationen der Konservativen Partei im Londoner Kristallpalast am 24. Juni 1872, zit. n. ebd., S. 12f.

[27] Vgl. kritisch John A. Hobson: Der Imperialismus (1902), Köln/Berlin 1970.

[28] Gregor Schöllgen: Das Zeitalter des Imperialismus, München 1986, S. 39.

[29] Alter: Der Imperialismus, a. a. O., S. 3.

[30] »›Imperialismus‹ und ›Kolonialismus‹ sind also nicht dasselbe. ›Imperialismus‹ ist in mancher Hinsicht der Begriff mit der umfassenderen Bedeutung, so dass ›Kolonialismus‹ geradezu als sein Spezialfall erscheint.« – Osterhammel: Kolonialismus, Geschichten, Formen, a. a. O.

[31] »H[egemonie] (griech.) bezeichnet die (militärische, wirtschaftliche, kulturelle etc.) Vorrangstellung oder Vorherrschaft eines Staates gegenüber einem anderen Staat oder mehreren anderen Staaten.« – Klaus Schubert, Martina Klein: Das Politiklexikon, 4. Aufl., Bonn 2006.

[32] Vgl. Le Monde diplomatique (Hrsg.): Atlas der Globalisierung, Berlin , S. 30, S. 26f.

[33] Vgl. Karl Marx und Friedrich Engels: »Manifest der Kommunistischen Partei«, in: dies.: MEW, Bd. 4, Berlin 1959.

[34] Zur »Globalisierungskritik« siehe mit einigen Vorbehalten Christiane Grefe, Matthias Greffrath und Harald Schumann: attac. Was wollen die Globalisierungskritiker?, Berlin 2002; wesentlich umfassender und fundierter findet sich die »Globalisierungskritik« bei Michel Chossudovsky: Global Brutal. Der entfesselte Welthandel, die Armut, der Krieg, Frankfurt am Main 2002.

[35] Arno Klönne: »Empire und Empirie. Zum Diskurs über US-amerikanische Globalpolitik«, in: Rainer Butenschön und Eckart Spoo (Hrsg.): Töten - Plündern – Herrschen. Wege zu neuen Kriegen, Hamburg 2003, S. 126-130; S. 129.

[36] Vgl. dazu »Real existierende Strukturen internationaler politischer Regulierung«, in: Ulrich Brand u. a.: Global Governance, Münster 2000, S. 89–128.

[37] Chossudovsky: Global Brutal, a. a. O., S. 33f.

[38] Klönne: »Empire und Empirie«, a. a. O., S. 130.

[39] Stuby: Die »gefesselte« Souveränität der Bundesrepublik, a. a. O., S. 11.

[40] Diesen Normalisierungsprozess habe ich an anderer Stelle umfassend analysiert. Siehe Marcus Hawel: Die normalisierte Nation. Vergangenheitsbewältigung und Außenpolitik in Deutschland, mit einem Vorwort von Moshe Zuckermann, Hannover 2007.

[41] Siehe Dieter S. Lutz: »Das Grundgesetz fordert Friedenspolitik. Zum Streit um unsere sicherheitspolitische Zukunft«, in: ders. (Hrsg.): Deutsche Soldaten weltweit? Blauhelme, Eingreiftruppen, »out of area« – Der Streit um unsere sicherheitspolitische Zukunft, Reinbek bei Hamburg 1993, S. 43.

[42] Vgl. Stuby: Die »gefesselte« Souveränität der Bundesrepublik, a. a. O., S. 10.

[43] Vgl. Carl Schmitt: Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität (1922), 2. Aufl., München, Leipzig 1934, S. 11.

[44] Vgl. Stuby: Die »gefesselte« Souveränität der Bundesrepublik, a. a. O., S. 10; zur historischen Entwicklung des Souveränitätsbegriffs aus marxistischer Perspektive siehe Roland Meister: Studie zur Souveränität, Berlin (Ost) 1981; vgl. Bertrand de Jouvenel: Über die Staatsgewalt. Die Naturgeschichte ihres Wachstums, Freiburg 1972, S. 39 ff.; zur Zielsetzung der Souveränität vgl. kritisch Hermann Jahrreiß: »Die Souveränität der Staaten. Ein Wort – mehrere Begriffe – viele Missverständnisse«, in: Hanns Hermann (Hrsg.): Die Entstehung des modernen souveränen Staates, Köln/Berlin (West) 1967, S. 35 ff. – Jahrreiß bejaht die imperialistische Tradition. »Anderes kann von einem Vertreter des Völkerrechts nicht erwartet werden, der im Nürnberger Prozess als Gutachter auf der Seite der Verteidigung die Verbindlichkeit des Aggressionsverbotes bezweifelte.« – Stuby: Die »gefesselte« Souveränität der Bundesrepublik, a. a. O., S. 10.

[45] Michael Jäger: Probleme und Perspektiven der Berliner Republik, Münster 1999, S. 76.

[46] Vgl. Charta der Vereinten Nationen, Art 51.

[47] Vgl. Stefan Brunner: Deutsche Soldaten im Ausland. Fortsetzung der Außenpolitik mit militärischen Mitteln?, München 1993, S. 119–128.

[48] »Die Unterscheidung zwischen gerechten und ungerechten Kriegen musste scheitern, da die Gerechtigkeit als Bemäntelung der Macht ›entdeckt‹ und für die Ideologisierung der Kriege verantwortlich gemacht wurde.« – Ebd., S. 119.

[49] Vgl. ebd., S. 120.

Dr. Marcus Hawel ist Mitherausgeber der Sopos und Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Rosa Luxemburg Stiftung in Berlin.
Der Beitrag erschien zuerst in der Reihe Standpunkte International, 16/2010, der Rosa Luxemburg Stiftung.

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sopos 10/2010