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Der Geist geistloser Zustände – Religionskritik als Kritik gesellschaftlicher Entfremdung

Vortrag zur (fast) gleichnamigen Tagung von GI und MASCH HH, Hannover 7./8.5.2010)

von Heiko Vollmann

Walter fuhr leise fort. "Du hast recht, wenn du sagst, daß heute nichts mehr ernst, vernünftig oder auch nur durchschaubar ist; aber warum willst du nicht verstehen, daß gerade die steigende Vernünftigkeit, die das ganze durchseucht, schuld daran ist. In alle Gehirne hat sich das Verlangen gelegt, immer vernünftiger zu werden, mehr denn je das Leben zu rationalisieren, zu spezialisieren und zugleich das Unvermögen, sich denken zu können, was aus uns werden solle, wenn wir alles erkennen, zerteilen, typisieren, in Maschine verwandeln und normen. Es kann so nicht weitergehn."
"Mein Gott", antwortete Ulrich gleichmütig, "der Christ der Mönchszeiten hat gläubig sein müssen, obwohl er sich nur einen Himmel denken konnte, der mit seinen Wolken und Harfen etwas langweilig war; und wir fürchten uns vor dem Himmel der Vernunft, der uns an die Lineale, geraden Bänke und entsetzlichen Kreidefiguren der Schulzeit erinnert."
"Ich habe das Gefühl, das eine zügellose Ausschreitung der Phantastik die Folge sein wird", fügte Walter nachdenklich hinzu.
(Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Band I, Kapitel 54, ex libris Volk und Welt, S. 279f.)


Im öffentlichen Diskurs der westlichen Gesellschaften wird Religion heute ambivalent beurteilt, sie gilt einerseits als veraltete, unmoderne und in gewissen Formen als falsche und gefährliche Bewußtseinsgestalt, andererseits wird ihr gerade für den Zusammenhalt der modernen Gesellschaft eine wichtige Funktion zugesprochen.

Die westlichen Gesellschaften selbst erscheinen als weitgehend säkularisiert, zum einen weil in ihnen die institutionelle Trennung von Staat und Kirchen verwirklicht ist und die Religion daher keinen direkten Einfluß mehr auf Gesetzgebung und Politik hat. Ferner scheint das kollektive Bewußtsein, zumindest in bezug auf die Naturzusammenhänge, allgemein so aufgeklärt zu sein, daß bei der Bestimmung der physischen Welt und ihrer Erscheinungen kaum jemand ernsthaft noch auf transzendente Mächte rekurriert, und wenn auch die Schulbildung selten wissenschaftliches Niveau erreicht, so werden doch die Resultate moderner Naturwissenschaft von den meisten als unhintergehbare Voraussetzungen ihres Weltbildes anerkannt.[1]

Gesellschaftlich wird der Religion eine positive Rolle allenfalls in ethischen Fragen zuerkannt. Als Stifterin von „Werten“, an denen es im Geschäftsleben offenbar beständig mangelt, und als karitative Stütze der Armen und Leistungsunfähigen wird die christliche Kirche nicht nur toleriert, sondern gefördert. Ihre öffentlichen Mahnungen an und Einsprüche in die Politik teilen dann aber das Schicksal aller solchen Interventionen von Interessengruppen und Verbänden in pluralistischen Demokratien: Jedem Interesse ist die Artikulation erlaubt, sofern es sich auf eine Meinung herunterbringen läßt, die auf die sofortige Realisierung des Zweckes Verzicht tut und sie den politischen Repräsentanten zur Beratung überläßt. Vor diesen relativieren sich dann sämtliche geäußerten Meinungen zunächst aneinander und alle zusammen schließlich an den objektiv herrschenden Zwecken, der maximalen nationalen Kapitalverwertung und der Steigerung der staatlichen Macht. So dient noch die Publikation von Einsprüchen gegen das Bestehende dazu, sie zu liquidieren.

Dort, wo Menschen allen Ernstes ihren religiösen Vorstellungen gesellschaftliche Wirkmacht verleihen, wo sie das gesellschaftliche Leben und das politische Handeln von einem religiösen Standpunkt aus kritisieren und verändern wollen, erscheinen sie der öffentlichen Meinung als „Fundamentalisten“ und politische „Extremisten“, die eine Gefahr für die Gesellschaft darstellen. Freilich unterscheidet man da auch wieder. Der „eigene“ christliche Fundamentalismus wird in westlichen Gesellschaften überhaupt weniger wahrgenommen, als virulent gefährlich hingegen erscheint der islamische, ob im Innern als „Integrationsproblem“ oder nach Außen als weltpolitischer Faktor, mit dem man rechnen muß, und der zugleich so unberechenbar erscheint. Der „Dialog“, den der Westen der „islamischen Welt“ draußen und den Migrantenverbänden drinnen anbietet, besteht letztlich in der freundlichen Einladung, die im Westen vollzogene Säkularisierung und kapitalistische Modernisierung endlich auch abzuschließen und sich der weltweiten laizistischen Geschäftsordnung anzuschließen – nämlich religiöses Bewußtsein da anzuerkennen, wo es sich aufs Private beschränkt und seinen Anspruch auf absolute Geltung in Fragen der Welterklärung und der Bestimmung gesellschaftlicher Zwecke aufgibt; und es da zu bekämpfen, wo es dies nicht tut, mit militärischer und polizeilicher Macht, mit schulischer Staatsbürgererziehung, mit Integrationskursen zur Vermittlung der lokalen „Leitkultur“.

Von Religion als solcher ist aber der Anspruch auf unbedingte und universelle Geltung ihrer Gebote nicht zu trennen. Religion im klassischen Sinne fordert die vollständige Unterordnung des praktischen Lebens unter das göttliche Gesetz und muß jegliche Abweichung von ihm als Ketzerei und Blasphemie verurteilen und auf praktische Korrektur drängen. Die in den westlichen Gesellschaften dominierenden und gesellschaftlich anerkannten Gestalten von Religion sind demgegenüber Verfallsgestalten, deren Inhalte inzwischen nicht mehr anders als durch Tradition gerechtfertigt erscheinen, und die sich auf dem Markt in der Konkurrenz mit anderen esoterischen Machwerken der Sinnstiftung behaupten müssen. Während die bürgerliche Öffentlichkeit also Religion da verteufelt, wo sie ihrem traditionellen Begriff zu entsprechen sucht und damit erneut, wie vor über zweihundert Jahren, in Konkurrenz zur bürgerlichen Ideologie tritt, toleriert sie sie da, wo sie zur Verfallsgestalt heruntergekommen ist, die den Gang der Welthistorie nur noch durch gelegentliche ethische Kommentare begleitet, ohne ihn verändern zu wollen.

Dem naturwissenschaftlich aufgeklärten und fortschrittsgläubigen Bürger, der sich über die Sachzwänge und Interessenkonflikte in Wirtschaft und Politik keine Illusionen macht und dessen Sprachrohr die liberale Presse ist, muß Religion in beiden Versionen als Anachronismus erscheinen, als Überbleibsel aus vormodernen Tagen. Das Engagement mündiger christlicher Bürger in Sozialkommissionen und Ethikbeiräten hierzulande mag ihm als vergleichsweise harmlose romantische Kritik an den modernen Weltläufen vorkommen, der bewaffnete Kampf der Taliban für die islamische Theokratie in Afghanistan als vergleichsweise bedrohliche – aber eben auch als romantische, rückwärts gewandte Kritik am unabänderlichen Fortschritt der Zivilisation.

Daß Religion heute – 375 Jahre nach dem Erscheinen der Discorsi Galileis (1635), 323 Jahre nach dem Erscheinen der Principia Newtons (1687) und 229 Jahre nach dem Erscheinen der Kritik der reinen Vernunft Kants (1781) – daß Religion heute, aller Aufklärung und Säkularisierung zum Trotz, gesellschaftlich und politisch überhaupt noch wirkmächtig ist, ja, nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus weltweit ein gewisses rinascimento erlebt hat, wenn auch in verfallener Gestalt, ist nicht sowohl einem Mangel an Aufklärung als vielmehr deren historischer Dialektik geschuldet.

I. Religion als historische Gestalt menschlichen Selbstbewußtseins. Philosophische Religionskritik

Religion war über die Jahrtausende hinweg die dominante Gestalt der Welterklärung und der Lehre von den letzten Zwecken menschlichen Handelns und insofern selbst eine Gestalt der Aufklärung. Soweit die rekonstruierbare Geschichte der menschlichen Kultur zurückreicht, also etwa 20.000 Jahre (bis zu den Höhlenmalereien und Grabanlagen der Jäger und Sammler der mittleren Steinzeit), haben Menschen durch Imagination die Naturzusammenhänge vergeistigt und die Welt als beseelt betrachtet. Insofern diese Vergeistigung und Beseelung der außermenschlichen Natur und der Verhältnisse von Mensch und Natur sowie von Mensch zu Mensch im Laufe der geschichtlichen Entwicklung sich rationalisierte, zunächst im Animismus, dann im Mythos, später in Theologie und Philosophie, ist sie selbst ein Moment des menschlichen Fortschritts, und ihre jeweils historisch auftretenden Gestaltungen können als Gestaltungen des in der Geschichte erscheinenden fortschreitenden Bewußtseins des Menschen von der Ordnung des Kosmos und von den verbindlichen menschlichen Zwecken betrachtet werden.

Der Animismus bringt die mannigfaltigen, teils bedrohlichen, teils lustspendenden Erscheinungen der Natur bereits auf Begriffe und Prinzipien, indem er ihnen Name und Seele gibt; der Mythos organisiert die Erscheinungen der Dinge und die Kräfte, denen sie unterliegen, bereits zu einem Ganzen, indem er die irdischen Erscheinungen als Resultat willentlicher, gesetzmäßiger Bestimmungen durch die – ganz nach dem Bilde menschlicher Herrscher miteinander konkurrierenden – überirdischen und unterweltlichen Götter faßt; der Monotheismus ist bereits rationale Kosmologie und Ontologie, indem er die miteinander im Streit liegenden Mächte der Einen Macht, der Allmacht unterordnet, die allem Daseienden das Gesetz vorschreibt.

Die Vorstellung eines außer oder über der erscheinenden Welt bestehenden Gottes als allmächtigen Schöpfers und allwissenden Lenkers der Welt und der Geschicke der Menschen, war einmal fortschrittlich, denn in ihr drückte, wenn auch anthropomorph naiv, sowohl die Erkenntnis sich aus, daß allem Endlichen ein Unendliches, allem Bewegten und Vergänglichen ein unbewegter Beweger als dessen Bestimmungsgrund korrespondieren muß, als auch das Vertrauen darauf, daß die Menschen ihre Handlungen in der Natur und in Gesellschaft mit ihresgleichen sinnvoll zu bestimmen vermögen, sowohl technisch-praktisch als auch moralisch-praktisch.

Die Vorstellung, die Welt als ganze solle vernünftig eingerichtet sein, ist notwendig gesetzt, sobald der Mensch überhaupt beginnt, Mensch zu sein, also zu handeln. Der Mensch tritt aus dem unmittelbaren Naturzusammenhang heraus, indem er sein eigenes Leben produziert, nicht bloß indem er von seinen Muskeln Gebrauch macht und auf andere Naturdinge physisch einwirkt, sondern indem er dabei eigene, vom Bewußtsein autonom bestimmte Zwecke im natürlichen Material verwirklicht. Diese bewußte, zweckbestimmte Tätigkeit, die Arbeit, richtet sich zwar immer auf einzelne Gegenstände, doch sie geht nicht darin auf, denn sie ist von vornherein bezogen auf einen allgemeinen Produktionszusammenhang. Indem die Produkte der einen Tätigkeit als Mittel zur Produktion anderer Dinge dienen und die einzelnen Arbeiten so zu einem Komplex der individuellen Arbeiten, zur gesellschaftlichen Gesamtarbeit sich zusammenschließen, dient die zweckmäßige Tätigkeit des Einzelnen nicht nur der eigenen individuellen Reproduktion sondern zugleich der Herstellung und Erhaltung einer bestimmten Organisationsform des Gesellschaftsprozesses. Die Handlungen der Einzelnen gewinnen ihre Zweckmäßigkeit somit nicht aus sich, sondern aus dem gesellschaftlichen Ganzen der Auseinandersetzung mit der Natur, dem sie als Momente angehören. Damit ist implizit bereits jeder einzelnen menschlichen Handlung der Anspruch auf einen vernünftigen Endzweck, ein widerspruchsfrei organisiertes Ganzes der menschlichen Reproduktion immanent. Dieser Endzweck, die Vorstellung des Zusammenstimmens aller Einzelzwecke zur harmonischen Zwecksetzung der Gattung, ist kein Gegenstand möglicher Erfahrung, sondern Idee, spekulatives Produkt der Vernunft. Das Bewußtsein muß sich zu der Erfahrung, stets schon ein Moment der Vernunft zu sein, und in deren universaler Verwirklichung seinen objektiven Endzweck zu haben, historisch erst emporarbeiten.[2] Gleichwohl verhält sich jedes Individuum, das es nicht für ebenso gut hält, in einen Brunnen zu springen, wie nicht in einen Brunnen zu springen, so, als sei das Ganze vernünftig, denn es verläßt sich darauf, daß seine Handlungen unter identischen Bedingungen stets einen identischen Zweck zu realisieren vermögen.

Damit menschliche Zwecke planvoll in der Natur realisiert werden können, ist die Natur zugleich als an sich bestimmte und als durch den Menschen bestimmbare vorausgesetzt. Damit Menschen in Gesellschaft planvoll ihre Zwecke verfolgen können, müssen die besonderen Ansprüche der Individuen und die Anforderungen der Reproduktion der Allgemeinheit widerpruchsfrei miteinander vermittelt werden. In der Vorstellung Gottes, als Schöpfers der Welt und moralischen Richters der Menschheit, ist der Grund des Zusammenstimmens aller Einzelzwecke als ein Jenseitiges, als fremde Macht und fremder Wille fixiert.

Von Philosophie ergriffen, transformierte der Gottesglaube sich in Metaphysik, und die Erzählung von Gott wandelte sich zur Erklärung des Absoluten gemäß den notwendigen Bestimmungen der Vernunft. Unter ihrem Einfluß und angesichts der Nötigung, die Andersgläubigen von der eigenen Variante des Gottesglaubens durch Gründe zu überzeugen, hat die Theologie ihr Teil dazu beigetragen, das Absolute, den Willen, die Liebe als vernünftige Ideen und damit als Ideen der Vernunft zu bestimmen. Was deren Kriterien widersprach, konnte nicht Bestimmung Gottes sein. Im Programm der Theologie, Gott zu begründen, waren sein und ihr Ende bereits antizipiert: Gott war entweder denknotwendig – oder er war nicht.[3]

Seitdem Philosophie und philosophische Theologie das religiöse Material der reinigenden Kritik unterzogen und rationalisierten, sind die naiven Anthropomorphismen des Mythos und der Offenbarung gründlich zergangen. Die Historiensammlungen der Propheten behalten ihr Recht einzig als allegorische Darstellungen, die vernünftig gedeutet sein wollen, nicht mehr ihrem Literalsinn nach. Gott hat seine Akzidentien verloren.

Seit Kants Kritik der reinen Vernunft ist aber auch die Substanz aller Religion, die Vorstellung des apart von den endlichen Erdenwesen existierenden Absoluten so gründlich diskreditiert, daß der Gott der Religion erledigt ist. Seine Wiederauferstehungsversuche in der idealistischen Philosophie erlebte er schon nicht mehr persönlich, als Subjekt, das von seiner Schöpfung, der Objektivität, getrennt gedacht werden kann, sondern als Subjekt/Objekt, Idee, die in der Natur und in der Geschichte der Menschheit sich verwirklicht.

Kant unterzieht in der Kritik der reinen Vernunft die durch die Theologie überlieferten Gottesbeweise der Kritik.[4] Gott ist traditionell bestimmt als Schöpferwesen, dem die erscheinenden Dinge ihre Existenz und ihre Bestimmtheit verdanken. Die allgemeine, übergreifende Bestimmtheit aller Erscheinungen in Raum und Zeit ist ihr Zusammenhang nach dem Grundsatz der Kausalität. Da jede Erscheinung eine Ursache hat, die selbst wiederum Erscheinung in Raum und Zeit ist, führt der Versuch der begrifflichen Bestimmung einzelner Erscheinungen notwendig auf einen unendlichen Regreß der Begründung durch die jeweils nächste Ursache. Der Regreß könnte nur in einer nicht-natürlichen Ursache, die selbst keine Erscheinung wäre, also außerhalb von Raum und Zeit stünde, abgebrochen werden. Die Vorstellung Gottes als absolutes Ding-ansich, als nicht erscheinende Ursache aller Erscheinungen, drängt sich so zwar notwendig der Spekulation auf, aber bloß als mögliche. Weder das affirmative Existenzurteil „Gott ist“ noch das prädikative „Gott ist so und so beschaffen“ läßt sich begründen, denn als existent, daseiend wäre Gott selbst nur Erscheinung und mangelte der Begründung, und ein jenseits von Raum und Zeit bestehendes Sein wäre stoff- und formlos, Sein, reines Sein, ohne jede weitere Bestimmung, also dasselbe wie Nichts. Dies reine Nichts kann nichts aus sich heraus produzieren. In der Hegelschen Logik bedürfen Sein und Nichts, um ins Werden umzuschlagen und so ins Dasein überzugehen, der Zitation von Material. Nur durch Negation der Bestimmungen vergänglicher Erscheinungen konnte der Begriff des reinen Seins und der des reinen Nichts gewonnen werden, und nur durch die Erinnerung daran gelingt es dem spekulierenden Subjekt, Sein und Nichts, deren Unterschiedenheit nur behauptet und als unwahr erwiesen wurde, ineinander umschlagen zu lassen und diese rastlose Bewegung dann durch einen erneuten Denkschritt stillzustellen zum Begriff des Werdens als Wahrheit des Umschlags von Sein und Nichts.[5]

Die Existenz eines persönlichen Schöpfergottes und Weltlenkers läßt sich also nicht beweisen. Kant bestimmt folgerichtig Gott als bloß regulative Idee, ohne welche die Erscheinungen der Natur durch den Verstand nicht zu widerspruchsfreier systematischer Einheit organisiert werden können, und später, in der Kritik der praktischen Vernunft, als regulative Idee zur Bestimmung moralischen Handelns. Der gemeinsame Grund aller Religion, die Vorstellung eines persönlichen oder lebendigen, außerhalb der Welt existierenden und ihr vor- und übergeordneten Gottes ist damit vernichtet.

Hegels Philosophie des Geistes bemüht sich darum, die traditionelle Trennung von Gott als geistigem Subjekt und der Welt als objektiver Emanation dieses Geistes aufzuheben, indem sie sie beide zur höheren Einheit, zum Subjekt-Objekt zusammenschließt, das in der Naturgeschichte und derjenigen der Menschheit sich realisiert und damit nicht mehr als apart von der Welt, sondern als ihr selbst und ihrer Bewegung immanent gedacht wird. Bereits vom Hegelschen Standpunkt aus erscheint Religion mit ihrem persönlichen Gott als entfremdete Gestalt des seiner selbst nicht mächtigen menschlichen Bewußtseins. Die philosophische Konsequenz beschränkt sich aber auch bei Hegel noch darauf, durch ein korrigiertes Bewußtsein der Menschen die Hemmnisse der Arbeit des Begriffs, der vernünftigen Gestaltung der Welt, beiseite zu schaffen, indem die Menschen nunmehr aus freier Einsicht in die Notwendigkeit des im ganzen vernünftigen Weltlaufs in diesen sich schicken, sich seinen Anforderungen gemäß machen. So erscheint, entgegen der Intention des Autors, auch die Hegelsche Idee noch als ein den konkreten Menschen übergeordnetes Subjekt, das sich der Individuen und Völker nur bedient, um sich zu verwirklichen.

Die wirkliche geschichtliche Bewegung ist zwar durchaus bestimmt von allgemeinen Ideen, wahren wie falschen, aber diese sind jeweils vermittelt durch die praktischen Interessen ihrer Träger, von Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen sozialen Klassen und Gruppen, die keineswegs immerzu das Interesse der Menschheit im Auge haben, sondern auf partikulare Vorteile bedacht sind und im Kampf miteinander stehen. In der Hegelschen Darstellung erscheint die Weltgeschichte als zunehmender Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit, und jede Stufe der Entwicklung wird weniger von ihren eigenen wirklichen Voraussetzungen und materiellen Bedingungen aus betrachtet, als vielmehr von ihrem idealen Resultat her, dem später erreichten oder zu erreichenden vernünftigeren Zustand, auf den sie bereits hingeordnet scheint.

In der Religion stand der Notwendigkeit der göttlichen Vorsehung noch das Moment göttlicher Willkür gegenüber, zum einen in der Vorstellung, Gott sei frei gewesen, die Welt so oder auch anders einzurichten, und könne sie jederzeit umwälzen, zum anderen in der Vorstellung göttlicher Gnade, die an nichts gebunden sei. Im Hegelschen System unterliegen Natur und Geschichte einer ehernen Notwendigkeit. Allem Leiden, allem Schmerz, den die Opfer der Weltgeschichte zu ertragen hatten, wird im nachhinein Vernunft angeschafft, indem sie als notwendige Gestehungskosten des Fortschritts erscheinen. Vernunft und Schicksal werden eins. Als unzureichende Kritik der religiösen Entfremdung, die selbst in die vollendete Entfremdung umschlägt, verfällt die Hegelsche Philosophie daher der Marxschen Kritik.

II. Von der philosophischen Religionskritik zur Ideologiekritik

Marx hielt die philosophische Kritik der Religion 1843 für abgeschlossen.

„Für Deutschland ist die Kritik der Religion im wesentlichen beendigt, und die Kritik der Religion ist die Voraussetzung aller Kritik.
Die profane Existenz des Irrtums ist kompromittiert, nachdem seine himmlische oratio pro artis et focis [Gebet für Altar und Herd] widerlegt ist. Der Mensch, der in der phantastischen Wirklichkeit des Himmels, wo er einen Übermenschen suchte, nur den Widerschein seiner selbst gefunden hat, wird nicht mehr geneigt sein, nur den Schein seiner selbst, nur den Unmenschen zu finden, wo er seine wahre Wirklichkeit sucht und suchen muß.
Das Fundament der irreligiösen Kritik ist: Der Mensch macht die Religion, die Religion macht nicht den Menschen. Und zwar ist die Religion das Selbstbewußtsein und das Selbstgefühl des Menschen, der sich selbst entweder noch nicht erworben oder schon wieder verloren hat. Aber der Mensch, das ist kein abstraktes, außer der Welt hockendes Wesen. Der Mensch, das ist die Welt des Menschen, Staat, Sozietät. Dieser Staat, diese Sozietät produzieren die Religion, ein verkehrtes Weltbewußtsein, weil sie eine verkehrte Welt sind. Die Religion ist die allgemeine Theorie dieser Welt, ihr enzyklopädisches Kompendium, ihre Logik in populärer Form, ihr spiritualistischer Point-d'honneur [Ehrenpunkt], ihr Enthusiasmus, ihre moralische Sanktion, ihre feierliche Ergänzung, ihr allgemeiner Trost- und Rechtfertigungsgrund. Sie ist die phantastische Verwirklichung des menschlichen Wesens, weil das menschliche Wesen keine wahre Wirklichkeit besitzt. Der Kampf gegen die Religion ist also mittelbar der Kampf gegen jene Welt, deren geistiges Aroma die Religion ist.
Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elends und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volks.
Die Aufhebung der Religion als des illusorischen Glücks des Volkes ist die Forderung seines wirklichen Glücks. Die Forderung, die Illusionen über seinen Zustand aufzugeben, ist die Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusionen bedarf. Die Kritik der Religion ist also im Keim die Kritik des Jammertales, dessen Heiligenschein die Religion ist.“[6]

Mit Kant kann Gott nicht mehr als persönlicher, getrennt von der Welt existierender begründet werden. Das Absolute wird zur regulativen Idee der Organisation der Verstandeserkenntnisse zu einem Ganzen und dadurch, auf vermittelte Weise, auch zur regulativen Idee moralischen, autonomen Handelns. Hegel verwandelt die regulative Idee wieder in eine konstitutive, indem er das Absolute als Einheit und durchgängige Bestimmtheit aller Erscheinungen der Natur faßt, als Totalität. Im Begriff des Weltgeistes sind Vernunft und Natur als subjektives und objektives Moment einer höheren Einheit gesetzt, die im Beginn der Geschichte des Menschen beim Erwachen seines Bewußtseins zunächst einander äußerlich werden, um sich schließlich an ihrem Ende, also im Hegelschen System, in selbstbewußter Einheit wieder miteinander zu versöhnen.

Der Gedanke, daß „der Mensch, [der] in der phantastischen Wirklichkeit des Himmels, wo er einen Übermenschen suchte, nur den Widerschein seiner selbst gefunden hat“, ist der Sache nach schon bei Hegel entwickelt und bedurfte kaum noch der Pointierung durch Ludwig Feuerbach. Während bei Hegel jedoch Vernunft selbst das Subjekt ist, dessen Widerschein der religiöse Mensch in den Himmel projiziert, betont Feuerbach, daß die Vernunft kein die empirischen Menschen übergreifendes und gegen sie verselbständigtes Subjekt ist, wie sie bei Hegel entgegen seiner Absicht am Ende doch erscheint, sondern Wirklichkeit nur hat in den lebendigen Individuen. Feuerbachs materialistischer Einwand gegen Hegel bleibt jedoch abstrakt:

Feuerbach geht von dem Faktum der religiösen Selbstentfremdung, der Verdopplung der Welt in eine religiöse und eine weltliche aus. Seine Arbeit besteht darin, die religöse Welt in ihre weltliche Grundlage aufzulösen. Aber daß die weltliche Grundlage sich von sich selbst abhebt und sich ein selbständiges Reich in den Wolken fixiert, ist nur aus der Selbstzerrissenheit und Sichselbstwidersprechen dieser weltlichen Grundlage zu erklären. Diese selbst muß also in sich selbst sowohl in ihrem Widerspruch verstanden als praktisch revolutioniert werden. Also nachdem z.B. die irdische Familie als das Geheimnis der heiligen Familie entdeckt ist, muß nun erstere selbst theoretisch und praktisch vernichtet werden.“[7]

Das „Sichselbstwidersprechen“ der menschlichen Welt ist eine logische Bestimmung, die voraussetzt einerseits, daß der Welt Vernunft immanent ist, andererseits, daß diese Vernunft unter heteronomen Bedingungen gezwungen ist, sich zu entfalten, so daß die heteronomen Bedingungen in Widerstreit treten zum Anspruch der Vernunft auf Autonomie, auf Selbstgesetzgebung. Ist den Menschen eine autonome Willensbestimmung nicht möglich, weil ihr heteronome Bedingungen entgegenstehen oder weil die Realisierung eigener Zwecke die Möglichkeit der Zwecksetzung anderer lädiert, so gerät das individuelle Bewußtsein in das Dilemma, daß Vernunft und Selbsterhaltung in Widerspruch miteinander geraten. Die vernünftige Konsequenz, die daraus zu ziehen ist, kann weder darin bestehen, den moralischen Anspruch auf autonomes Handeln aufzugeben und sich rücksichtslos der Selbsterhaltung zu widmen, noch darin, die Erhaltung des eigenen Selbst zu unterlassen, sobald sie die Erhaltung anderer beeinträchtigt, und als schöne Seele an der Welt zu Grunde zu gehen, in der Hoffnung auf jenseitige Erlösung.

Während Religion die Aufhebung des diesseitigen Widerspruchs in ein illusorisches Jenseits verlegt, postuliert die Marxsche Theorie die Erlösung der Menschheit aus der Naturverfallenheit und aus den gesellschaftlichen Antagonismen als diesseitiges Ziel der geschichtlichen Bewegung der Menschheit.

„Der Kommunismus als positive Aufhebung des Privateigentums als menschlicher Selbstentfremdung, und darum als wirkliche Aneignung des menschlichen Wesens durch und für den Menschen; (...) Dieser Kommunismus ist als vollendeter Naturalismus = Humanismus, als vollendeter Humanismus = Naturalismus, er ist die wahrhafte Auflösung des Widerstreites zwischen dem Menschen mit der Natur und mit dem Menschen, die wahrhafte Auflösung des Streits zwischen Existenz und Wesen, zwischen Vergegenständlichung und Selbstbestätigung, zwischen Freiheit und Notwendigkeit, zwischen Individuum und Gattung. Er ist das aufgelöste Rätsel der Geschichte und weiß sich als diese Lösung.“ [8]

Und etwas später:

„Also die Gesellschaft ist die vollendete Wesenseinheit des Menschen mit der Natur, die wahre Resurrektion der Natur, der durchgeführte Naturalismus des Menschen und der durchgeführte Humanismus der Natur.“[9]

Das telos der Marxschen Theorie, die Herstellung der Wesenseinheit von Mensch und Natur in der klassenlosen Gesellschaft, die als „Verein freier Menschen“ die Natur nach einem gemeinsamen Plan sich aneignet und bearbeitet, ist hier bereits gesetzt, und Marx erhebt nun, nach dem Ende der philosophischen Kritik des entfremdeten Bewußtseins, die Kritik der bestehenden ökonomischen, rechtlichen und politischen Verhältnisse zum Programm.

„Es ist also Aufgabe der Geschichte, nachdem das Jenseits der Wahrheit verschwunden ist, die Wahrheit des Diesseits zu etablieren. Es ist zunächst die Aufgabe der Philosophie, die im Dienste der Geschichte steht, nachdem die Heiligengestalt der menschlichen Selbstentfremdung entlarvt ist, die Selbstentfremdung in ihren unheiligen Gestalten zu entlarven. Die Kritik des Himmels verwandelt sich damit in die Kritik der Erde, die Kritik der Religion in die Kritik des Rechts, die Kritik der Theologie in die Kritik der Politik.“[10]

III. Kritik der politischen Ökonomie

Die kapitalistische Ökonomie beruht rechtlich auf der Absonderung der Individuen voneinander als Privateigentümer, die sich wechselseitig von dem Gebrauch der Dinge, über die sie jeweils verfügen, ausschließen; technisch-praktisch beruht sie auf einer gesellschaftlichen Arbeitsteilung, die sich historisch im Zuge der Entfaltung des Kapitalismus zur universalen Arbeitsteilung der Menschheit entwickelt hat. Indem die Produkte des einen als Mittel in die Produktion anderer Produzenten eingehen, sind diese Produzenten affirmativ aufeinander bezogen. Unter der rechtlichen Bedingung des Privateigentums vollzieht sich der Händewechsel der arbeitsteilig produzierten Gebrauchswerte als Tausch auf dem Markt. Die Angewiesenheit der Einzelnen auf die Produkte Anderer wird so zur Grundlage allgemeiner wechselseitiger Erpressung: Wer meine Produkte benötigt, der muß seinen Reichtum dafür hergeben, sonst geht er leer aus. Die Konkurrenz verschiedener Warenanbieter um Käufer und verschiedener Käufer um das vorhandene Warenangebot bezieht die Privateigentümer negativ aufeinander. Im Kapitalismus findet Kooperation auf großer gesellschaftlicher Stufenleiter statt, aber in der Form der Konkurrenz von Privateigentümern, die sich wechselseitig den Erlös aus den bezweckten Warenverkäufen streitig machen. Der ökonomische Erfolg des einen bedingt notwendig die Schädigung des anderen.

Wie viel fremden Reichtum der einzelne Warenbesitzer im Tausch seiner Waren auf dem Markt ergattert, hängt ab von dem Wert seines Produktes. Dieser Wert ist bestimmt nicht durch das Quantum Arbeit, das der einzelne Produzent in seiner Fabrik verausgaben mußte, sondern durch das Quantum gesellschaftlich notwendiger Arbeit, das auf dem gegebenen Stand der Produktivkraftentwicklung in der gesamten Branche durchschnittlich verausgabt werden muß. Nur derjenige, der höchstens durchschnittliche Produktionskosten hat, kann sich dauerhaft auf dem Markt halten, die technisch zurückgebliebenen Produzenten werden von den technisch avancierten verdrängt. Getrieben von dem Interesse, möglichst viel Ware zu verkaufen, um selbst möglichst viel Ware wieder einkaufen zu können und die eigene Reproduktion zu erweitern, rationalisieren sämtliche Produzenten beständig den Arbeitsprozeß, um ihre Produktionsstückkosten zu senken und die eigene Ware günstiger auf dem Markt anzubieten als die Konkurrenz, um mehr Käufer anzuziehen, oder um bei gleichem Verkaufspreis einen höheren Gewinn einzufahren. Die kapitalistische Konkurrenz erzwingt somit den technischen Fortschritt der Gesellschaft, nicht als Resultat gemeinsamer vernünftiger Planung der Naturkontrolle, sondern dadurch, daß die Individuen ihren Vorteil nur dadurch realisieren können, daß sie ihre individuelle Zugriffsmacht auf fremden Reichtum auf Kosten anderer vergrößern, indem sie deren Produktionspotential überflügeln. „Je ein Kapitalist schlägt viele tot.“[11]

Der aktuelle Wert der Ware drückt das Quantum an Mühsal aus, das im gesellschaftlichen Durchschnitt zu ihrer Herstellung aufgewandt werden muß. Indem die Produkte der Privatproduzenten auf dem Markt einander als Werte gegenüber gesetzt werden, beziehen sich diese rechtlich voneinander unabhängigen, einander von der Verfügung über das jeweils Ihre ausschließenden Produzenten der Sache nach als integrierende Bestandteile der gesellschaftlichen Gesamtproduktion aufeinander, und die Privatarbeiten, die in den einzelnen Werkstätten verrichtet werden, sind von vornherein aufeinander bezogen als Teilarbeiten der gesellschaftlichen Gesamtarbeit, also der menschlichen Gattung. Im allgemeinen Äquivalent der Warenwelt, dem Geld, in welches alle Waren in der Retorte des Zirkulationsprozesses verwandelt werden, erscheint diese historisch-moralische Bestimmung der Produkte, Erzeugnisse der technisch fortschreitenden Gattung zu sein, in verkehrter, dinghafter Form. Das Geld ist, ob als edelmetallene Geldware oder als papierene festverzinsliche Schuldverschreibung, Verkörperung von gesellschaftlichem Reichtum schlechthin, und in der Geldgestalt hat dieser abstrakte Reichtum jegliche Erinnerungsspur an die Bedingungen, unter denen er produziert wurde, verloren.

Woher entspringt also der rätselhafte Charakter des Arbeitsprodukts, sobald es Warenform annimmt? Offenbar aus dieser Form selbst. Die Gleichheit der menschlichen Arbeiten erhält die sachliche Form der gleichen Wertgegenständlichkeit der Arbeitsprodukte, das Maß der Verausgabung menschlicher Arbeitskraft durch ihre Zeitdauer erhält die Form der Wertgröße der Arbeitsprodukte, endlich die Verhältnisse der Produzenten, worin jene gesellschaftlichen Bestimmungen ihrer Arbeiten betätigt werden, erhalten die Form eines gesellschaftlichen Verhältnisses der Arbeitsprodukte.
Das Geheimnisvolle der Warenform besteht also einfach darin, daß sie den Menschen die gesellschaftlichen Charaktere ihrer eignen Arbeit als gegenständliche Charaktere der Arbeitsprodukte selbst, als gesellschaftliche Natureigenschaften dieser Dinge zurückspiegelt, daher auch das gesellschaftliche Verhältnis der Produzenten zur Gesamtarbeit als ein außer ihnen existierendes gesellschaftliches Verhältnis von Gegenständen. Durch dies Quidproquo werden die Arbeitsprodukte Waren, sinnlich übersinnliche oder gesellschaftliche Dinge. (...) Es ist nur das bestimmte gesellschaftliche Verhältnis der Menschen selbst, welches hier für sie die phantasmagorische Form eines Verhältnisses von Dingen annimmt. Um daher eine Analogie zu finden, müssen wir in die Nebelregion der religiösen Welt flüchten. Hier scheinen die Produkte des menschlichen Kopfes mit eignem Leben begabte, untereinander und mit den Menschen in Verhältnis stehende selbständige Gestalten. So in der Warenwelt die Produkte der menschlichen Hand. Dies nenne ich den Fetischismus, der den Arbeitsprodukten anklebt, sobald sie als Waren produziert werden, und der daher von der Warenproduktion unzertrennlich ist.
Dieser Fetischcharakter der Warenwelt entspringt (...) aus dem eigentümlichen gesellschaftlichen Charakter der Arbeit, welche Waren produziert.
Gebrauchsgegenstände werden überhaupt nur Waren, weil sie Produkte voneinander unabhängig betriebner Privatarbeiten sind. Der Komplex dieser Privatarbeiten bildet die gesellschaftliche Gesamtarbeit. Da die Produzenten erst in gesellschaftlichen Kontakt treten durch den Austausch ihrer Arbeitsprodukte [nicht vorher, durch einen gemeinsamen Produktionsplan], erscheinen auch die spezifisch gesellschaftlichen Charaktere ihrer Privatarbeiten erst innerhalb dieses Austausches. Oder die Privatarbeiten betätigen sich in der Tat erst als Glieder der gesellschaftlichen Gesamtarbeit durch die Beziehungen, worin der Austausch die Arbeitsprodukte und vermittelst derselben die Produzenten versetzt. Den letzteren erscheinen daher die gesellschaftlichen Beziehungen ihrer Privatarbeiten als das, was sie sind, d.h. nicht als unmittelbar gesellschaftliche Verhältnisse der Personen in ihren Arbeiten selbst, sondern vielmehr als sachliche Verhältnisse der Personen und gesellschaftliche Verhältnisse der Sachen.“[12]

Die kapitalistische Warenproduktion versetzt also die Menschen, die an sich auf Grund der Arbeitsteilung und des technischen Ineinandergreifens der Einzelproduktionen zum System der gesellschaftlichen Gesamtproduktion zusammengeschlossen sind, in ein ganz äußerliches Verhältnis zueinander. Das Geld, als abstrakte Verkörperung von Reichtum und universales Zugriffsmittel auf fremde Ware, ist gesellschaftliche Macht, die sich in der Tasche herumtragen läßt, mit der jedes beliebige Produkt, jeder wünschbare Dienst zu haben ist.

Warenproduktion und -zirkulation als solche stellen somit eine entfremdete Gestalt der gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit der Natur dar, und der „Tanz ums goldene Kalb“, der täglich auf dem Markt tobt, ist nicht auf eine Verrücktheit einzelner, moralisch verkommener Individuen zurückzuführen, sondern auf die Verrücktheit der gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse.

Arbeitskraft wird im Kapitalismus gekauft, um Ware produzieren zu lassen, die mit Profit verkauft werden kann. Der Profit beruht darauf, daß der Wert, der im Ankauf der Arbeitskraft gezahlt wird, und der Wert, den die Anwendung der Arbeitskraft erzeugt, verschiedene Größen sind. Indem der Arbeitstag über das Maß hinaus dauert, welches zur bloßen Reproduktion des Werts der Arbeitskraft (des Lohns) nötig wäre, findet Mehrarbeit statt, die sich in einem Mehrprodukt niederschlägt, aus dessen Verkauf eine größere als die ursprünglich im Ankauf der Produktionsmittel und der Arbeitskraft gezahlte Wertsumme erlöst wird, ein Mehrwert.

Das bürgerliche Recht setzt voraus, daß die Individuen, die durch das bürgerliche Gesetzbuch zur wechselseitigen Anerkennung als Personen gezwungen werden, von anderen nur zu Leistungen verpflichtet werden können, wenn sie dies in einem von beiden gemeinsam vollzogenen und schriftlich fixierten Willensakt vereinbaren, dem Vertrag. Die Freiheit aller Personen zum Vertragsschluß erweist sich aber bei näherem Hinsehen als juristische Fiktion. Lohnarbeiter und Kapitalist treten einander als gleichermaßen freie Rechtspersonen gegenüber. Voraussetzung des Vertrags auf Seite des Lohnarbeiters ist jedoch dessen Eigentumslosigkeit, also die Notwendigkeit, sich zu verkaufen. Der Inhalt des Arbeitsvertrages besteht in der Übereignung der Arbeitskraft an ihren Käufer auf Zeit, und wie jeder Eigentümer pocht der Kapitalist darauf, daß er die von ihm rechtsgültig erworbene Ware unumschränkt gebrauchen kann. An der Arbeitskraft hängt ihr Verkäufer aber leider dran, und in der Tat gehören seine körperlichen und geistigen Kräfte für die kontraktlich vereinbarte Zeit nicht ihm, sondern seinem Lohnherrn. Er produziert nun mit fremden Produktionsmitteln fremde Waren; das Wertprodukt, das er den Waren durch seine eigene Arbeit zusetzt, ist größer als das, was er in Gestalt des Lohns erhält, und der Kapitalist verkauft die von seinem Arbeiter produzierte ihm gehörige Ware auf dem Markt für seinen Profit. Obwohl er im Verein mit seinen Kollegen das tätige Subjekt der materiellen Produktion ist, steht dem Arbeiter rechtlich die Verfügung über die von ihm erzeugten Produkte nicht zu; der gesamte Produktionsprozeß vollzieht sich unter dem Kommando des Kapitals. Die Entfremdung der Lohnarbeiter im Kapitalismus ist also rechtlich bedingt, und die Freiheit zum Vertragsschluß erweist sich als die Nötigung, sich freiwillig in die Kechtschaft für fremden Reichtum zu verkaufen.

Damit nicht genug. Die Kapitalkonkurrenz sorgt dafür, daß der Arbeitstag auf ein Höchstmaß verlängert wird, wenn nicht der kollektive Widerstand der Arbeiter dem Schranken setzt. Dazu bedarf es der Aufhebung der Konkurrenz untereinander durch die Arbeiter und ihres Zusammenschlusses zu schlagkräftigen Koalitionen. Die Konkurrenz der Kapitale um maximalen Profit vollzieht sich zugleich als technischer Verdrängungskampf. Je höher die Produktivkraft der Arbeit entwickelt werden kann durch effizientere Arbeitsorganisation, durch Maschinisierung und Automatisierung der Produktion, desto größer sind die möglichen Extraprofite und Absatzchancen. Das Kapital perfektioniert die innerbetriebliche Arbeitsteilung, indem es den isolierbaren Teilfunktion des Arbeitsprozesses Teilarbeiter zuweist, die sich auf diese Funktion spezialisieren und im selben Maße an Fähigkeit einbüßen, andere Funktionen zu verrichten. Die Maschinisierung vereinfacht viele Arbeiten und entwertet dadurch die einzukaufenden Arbeitskräfte, die nun leichter gegeneinander ersetzbar werden. Der Ersatz von immer mehr lebendiger Arbeit durch Maschinerie produziert Arbeitslosigkeit und verstärkt dadurch die Konkurrenz unter den Arbeitern, wirkt entsolidarisierend und verbilligt dadurch wiederum das Lohnniveau, steigert also den Kapitalertrag.

Der technische Fortschritt, die zunehmende Naturkontrolle und die objektive Verringerung des notwendigen Aufwands zur Produktion der Dinge, die sich unter dem Kommando des Kapitals entwickeln, sind an sich, der Möglichkeit nach, produktive Potenzen der menschlichen Gattung, und sie werden allemal ins Werk gesetzt von den „abhängig Beschäftigten“, den körperlich und geistig Arbeitenden. Diese sind aber bloße lebendige Mittel des Kapitals, sie gehören nicht sich, während sie produzieren, und was sie produzieren, gehört auch nicht ihnen. Weder reicht ihr Lohn, um sich die Dinge kaufen zu können, die sie während ihrer Arbeitszeit herstellen, noch haben sie positiven Anteil am technischen Fortschritt der Produktion. Dieser erscheint vielmehr als eigentümliches Erzeugnis des Kapitals, dem kommandierenden Subjekt des Produktionsprozesses und gestaltet sich nach erfolgreicher Akkumulation zudem als gewachsener Kapitalstock, also erweiterter Zugriffsmacht auf Massen von Lohnarbeitern.

Die Entfremdung, die im Fetischcharakter der Ware, also auf der Ebene der einfachen Warenzirkulation bereits von Marx geschichtsphilosophisch gefaßt wurde, vollendet sich im Fetischcharakter des Kapitals. Sämtliche Potenzen der menschlichen Gattung sind ihm untergeordnet: die Erde als allgemeiner Arbeitsgegenstand und Arsenal der gegenständlichen Arbeitsmittel, die lebendige Arbeitskraft als zweckmäßige Tätigkeit, welche die dem Naturzusammenhang entnommenen Mittel zu Produkten umbildet, ihr inhärierend das über Generationen hinweg aufgehäufte handwerkliche Geschick und Erfahrungswissen der Arbeiter, die technische Intelligenz der Ingenieure, die Resultate sämtlicher Naturwissenschaften, angewandt jeweils in Gestalt neuester Technologie – in einem Wort, die Totalität der Bedingungen und Mittel des menschlichen Produktionsprozesses steht unter dem despotischen Kommando des Kapitals, und alle Produktionspotenzen der Gattung erscheinen als vom Kapital erzeugte Potenzen.

Die Konkurrenz bezieht die technisch voneinander abhängigen Einzelkapitale negativ aufeinander und treibt zur Konzentration und Zentralisation von Kapitalmacht. Der einzelne Kapitalist mag noch so ein Gutmensch sein und seinen Arbeitern ein gedeihliches Auskommen wünschen, sofern er dauerhaft Kapitalist bleiben will, muß er mindestens den gesellschaftlichen Durchschnittsprofit erzielen und muß daher um Kostensenkung bemüht sein. Die Freiheit des kapitalistischen Eigentümers, durch maximale Ausbeutung der Lohnarbeit und maximalen Warenabsatz sich zu bereichern, erweist sich im Resultat, vom Standpunkt des gesellschaftlichen Gesamtkapitals aus, formal ebenso als Schein, wie schon die Vertragsfreiheit des Lohnarbeiters, denn der Verlauf der gesellschaftlichen Konkurrenz, der in der Entwicklung des Warenangebots und der Warenpreise auf dem Markt erscheint, diktiert dem Einzelkapitalisten das Gesetz seines Handelns. Das Kapital ist apersonale Herrschaft. Die Menschen sind in der bürgerlichen Gesellschaft bloßes Anhängsel des Eigentums; die Lohnarbeiter als dessen lebendiges Material und agens der Produktion, die Kapitalisten als rechtliche Träger und technische Exekutoren der Selbstverwertung des Werts.

Der ökonomische Antagonismus der Bourgeois-Existenzen findet seine notwendige Ergänzung im Staat, der außerhalb der Konkurrenz dafür sorgt, daß deren allgemeine Reproduktionsbedingungen garantiert sind.

„Der bürgerliche Staat ist die politische Gewalt der kapitalistischen Gesellschaft. Er unterwirft die Agenten der kapitalistischen Produktionsweise unter Absehung von allen natürlichen und gesellschaftlichen Unterschieden seiner Herrschaft und gewährt ihnen damit die Verfolgung ihrer gegensätzlichen Sonderinteressen: Gleichheit & Freiheit. Er verpflichtet sie, die ökonomische Konkurrenz unter Respektierung des Privateigentums abzuwickeln: jeder wird gezwungen, die ausschließende Verfügung über den Reichtum der Gesellschaft anzuerkennen und zum Prinzip seines ökonomischen Handelns zu machen. Weil die Mitglieder der kapitalistischen Gesellschaft in der Verfolgung ihres individuellen Nutzens die Schädigung der anderen betreiben, sind sie auf eine Macht angewiesen, die getrennt vom ökonomischen Leben die Anerkennung von Eigentum und Person garantiert. Ihren negativen Bezug aufeinander ergänzen sie um ihre gemeinsame Unterwerfung unter eine Gewalt, die ihre Sonderinteressen beschränkt. Neben ihren ökonomischen Geschäften sind sie politische Bürger, sie wollen die staatliche Herrschaft, weil sie ihren Sonderinteressen nur nachgehen können, indem sie von ihnen auch abstrahieren. Der bürgerliche Staat ist also die Verselbständigung ihres abstrakt freien Willens.“[13]

Der im bürgerlichen Staat gegen die Einzelnen als souveräne Gewalt verselbständigte politische Wille aller beruht auf einer erzwungenen Leistung des Einzelwillens, der wegen des privaten Nutzens, auf den es ihm als bourgeois ankommt, auch noch als abstrakt-allgemeiner Wille, als Wille des citoyens, auftritt:

Die Trennung der bürgerlichen Gesellschaft und des politischen Staates erscheint notwendig als eine Trennung des politischen Bürgers, des Staatsbürgers [respektive citoyens; H.V.], von der bürgerlichen Gesellschaft, von seiner eignen wirklichen, empirischen Wirklichkeit, denn als Staatsidealist ist er ein ganz anderes, von seiner Wirklichkeit verschiedenes, unterschiedenes, entgegengesetztes Wesen.“[14]

Die Entfremdung, der die Menschen als ökonomische Subjekte unterliegen, ihr Beherrschtsein durch ihr eigenes gesellschaftliches Produkt, erweitert sich in der politischen Sphäre durch die zugleich erzwungene und gewollte Unterwerfung aller unter die übermächtige Staatsgewalt, die Sachwalterin des Allgemeinwohls, also des nationalen Wirtschaftswachstums, das bekanntlich nicht identisch ist mit dem Wohl aller Einzelnen.

Staat und Kapital haben die Stelle des Hegelschen Subjekt/Objekts eingenommen und halten die Menschheit im Bann der nüchternen Objektivität.

IV. Religiöses Bedürfnis heute

Wenn Religion „in einem der Ausdruck des wirklichen Elends und in einem die Protestation gegen dieses Elend“ ist, indem sie erstens die objektive Entfremdung der Menschen in Gestalt eines entfremdeten Bewußtseins widerspiegelt und zweitens mit ihrem Anspruch auf einstmalige Erlösung auch in Gegensatz zur vorfindlichen Entfremdung gerät, dann ist sie weiterhin eine zwar falsche, aber gesellschaftlich adäquate Bewußtseinsgestalt. Angesichts der fortdauernden und sich erweitert reproduzierenden Verdinglichung der menschlichen Beziehungen, der Destruktion von Subjektivität durch den „stummen Zwang der ökonomischen Verhältnisse“[15], angesichts der Sinnlosigkeit menschlichen Handelns also, das nicht aus eigenem, vernünftigem Gesetz erfolgt, sondern als Bedienung von objektivierten ökonomischen Funktionen, die als Sachzwänge wie die der ersten Natur erscheinen, ist es zumindest nicht verwunderlich, wenn Menschen auf der Suche nach einem Sinn in ihrem Leben in das reservoir der Menschheitsgeschichte greifen und in traditionellen Formen und Formeln ihrem Bedürfnis Ausdruck geben nach einer zweckvoll eingerichteten Welt, in der es auf sie selber ankommt, wenn auch nur in der Rolle eines von Gott-Vater an der Hand geführten Kindes, das erst den dunklen Wald, der voller Wölfe ist, durchschreiten muß, um zur Himmelsleiter zu gelangen. Schule und Medien machen einem schließlich kaum bessere Angebote.

Die einstmalige Einheit des religiösen Bewußtseins ist allerdings unwiederbringlich verloren. Objektiv kann sie angesichts naturwissenschaftlicher Aufklärung, philosophischer Gotteswiderlegung und marxistischer Philosophiekritik in ihrer traditionellen Gestalt keinen Anspruch auf Wahrheit mehr erheben. Der klassische Protestantismus Luthers war, wie gezeigt, bereits genötigt, im Abwehrkampf gegen die philosophische Kritik dem Glauben sein separates Feld jenseits aller Vernunft zuzuweisen, in der Hoffnung, ihn dadurch zu retten.

So sieht denn auch heute die Praxis des Evangeliums im Westen aus: Die Resultate der Naturwissenschaft werden (zumeist...) anerkannt, und dennoch hält man daran fest, daß diese Ordnung von Gott sei, der eben den Einfall des Big Bang hatte, unbekümmert um die sich aufdrängende Frage: mit wem eigentlich? Man hält eben trotz aller Naturwissenschaft an der Hoffnung fest, nach dem Tode des Leibs fahre die individuelle Seele „auf“ ins Jenseits und sei dann „bei Gott“, auch wenn man sich inzwischen hütet, sich das so auszumalen, daß der als alter Mann auf seinem Thron sitzt. Die Staatenkonkurrenz wird als Faktum hingenommen, aber es wird gemahnt, das nationale Militär nur zu „Friedenszwecken“ einzusetzen; die Verschärfung der ökonomischen Konkurrenz infolge der Globalisierung schafft neue Zwänge und Abhängigkeiten, aber die dem Volke neu verhängten Härten sollen, wenigstens hierzulande, „sozial verträglich“ verteilt werden etc. Grundsätzliche Kritik an den Verhältnissen, die auf die alte Idee der Erlösung rekurriert, findet im gemäßigten Westen nicht mehr statt. Dazu sind die Christen dort wohl auch schon viel zu sehr bourgeois und citoyen geworden, die ihren weltlichen Ideologiehaushalt lediglich um ein paar religiös ererbte Motive erweitern, mangels Kenntnis von Alternativen.

Resümierend möchte ich noch einmal auf das Eingangszitat aus Musils „Mann ohne Eigenschaften“ zurückkommen. Wenn dort von der „steigenden Vernünftigkeit“ die Rede ist, die alles „durchseucht“, dann im Sinne instrumenteller Vernunft, die sich um die moralische Beurteilung der Zwecke nicht schert. Deren Ausbreitung auf alle Lebensbereiche, so Walter, läßt die Frage danach, „was wir werden sollen“, unbeantwortet, ja, verhindert geradezu, sie zu stellen. Eben darin liegt die Fatalität der mißglückten historischen Aufklärung. Die Reduktion der Individuen auf bloße Funktionsträger des sich selbst verwertenden Wertes, dessen gesetzmäßigen Anforderungen sie auf Gedeih und Verderb zu genügen haben, produziert das Bedürfnis nach einem Ausbruch aus der vollendeten Heteronomie. Deren mögliches Gegenbild wäre die Autonomie, aber ebenso möglich ist es, zur „zügellosen Ausschreitung der Phantastik“ Zuflucht zu nehmen. Der religiöse Fanatismus, der nicht auf die Erlösung der Gattung, sondern auf die Vormachtstellung des eigenen, letztlich national bestimmten Kollektivs abzielt, ist eine solche Ausschreitung, gerade insofern er dem nüchternen politischen Interesse den himmlischen Heiligenschein anschafft. Ob er überhaupt noch als Religion bestimmt werden kann, oder vielmehr als (anti-)imperialistische Ideologie, weil er sich aus der materiellen Interessenlage innerhalb der imperialistischen Weltordnung speist, werden wir wohl noch bei Gelegenheit anderer Vorträge diskutieren.

Amen.

Der Autor ist Sozialwissenschaftler und Philosoph und lebt in Hannover.
Der Text wurde zuerst als Vortrag gehalten auf der Tagung 'Der Geist geistloser Zustände - Religionskritik und Gesellschaftstheorie', organisiert vom Gesellschaftswissenschaftlichen Institut Hannover und der Marxistischen Abendschule Hamburg' am 7./8. Mai 2010 in Hannover.

Anmerkungen

[1] Freilich gibt es Ausnahmen von der Regel, von Astrologie über christlichen Kreationismus bis Tantra- und Zenbuddhismus. Diese Vorstellungen sind aber gesellschaftlich nicht wirkmächtig in der Weise, daß sie Politik und Wirtschaftsleben bestimmen, und sie spielen auch für die Individuen, die sie im Kopf haben, während ihrer Arbeitszeit oder beim Behördengang keine große Rolle; handlungsanleitend wirken sie wohl eher in der sogenannten „Freizeit“, im privaten Verkehr. Daß sie dennoch, als falsches Bewußtsein, das Einverständnis mit dem Bestehenden befördern und zur Rechtfertigung von Herrschaft dienen, bleibt davon unberührt.

[2] Vgl. G.W.F. Hegel: Phänomenologie des Geistes, in: Werke, Bd. 3, hrsg. v. Moldenhauer/Michel, Frankfurt/Main 1970, 137ff. u. 178ff.

[3] Anm.: Zu den nicht wenigen reaktionären Lehren des großen Kirchenreformators Martin Luther gehört es, dem philosophisch-theologischen raisonnement jedes Recht abzusprechen, über Gott nach eigenen, vernünftigen Kriterien zu urteilen: „Vernunft, du bist eine Hure, ich will dir nicht folgen.“ (Zit. n. Max Horkheimer, GS 7, 190.) – Horkheimer bemerkt dazu: „Da er [Luther] auf das irrationale Prinzip, die Gnade, konsequent sich verließ und es verschmähte, das rechte Verhalten aus Vernunft zu deduzieren, blieb ihm gesellschaftlich nichts übrig, als den Staat und die Verwaltung, die bestehende Obrigkeit zu vergotten. Seine Lehre bildet einen eigenen Versuch, Religion zu retten. Jenseits von Wissenschaft sei nicht bloß Irrtum und Aberglaube. Unter all den Vorstellungen, die durch Erfahrung und Vernunft nicht zu begründen sind, sollen die christlichen als Glauben gelten. Außer Richtigem und Falschem gebe es ein Drittes, Gottes Wort. Hatte einst die Hochscholastik zwischen theologischem und säkularem Wissen keinen Widerspruch gekannt, nur wenige der höchsten christlichen Wahrheiten allein dem übernatürlichen Licht zugeschrieben, so steht nach Luther die der Bibel eigene Weltansicht neben den ihr widersprechenden neuen wissenschaftlichen Ansichten, unvermittelt durch Philosophie.“ (Max Horkheimer: Religion und Philosophie, in: GS 7, 190.) – Auf diesen Gedanken werde ich im Schlußteil des Artikels, zur Situation von Religion heute, zurückkommen.

[4] Vgl. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, zweite Abteilung: Die trsz. Dialektik, zweites Hauptstück: Die Antinomie der reinen Vernunft, sowie drittes Hauptstück: Die Dialektik der reinen Vernunft.

[5] Vgl. G.W.F. Hegel: Wissenschaft der Logik I, in: Werke Bd. 5, Frankfurt/Main (stw) 1986, 82f.

[6] Karl Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, in: MEW 1, 378f.

[7] Karl Marx: Thesen über Feuerbach, 4. These, in: MEW 3, 6.

[8] Karl Marx: Ökonomisch-philosophische Manuskripte (Pariser Manuskripte), in: MEW, Ergänzungsband 1, 536.

[9] Karl Marx: Ökonomisch-philosophische Manuskripte (Pariser Manuskripte), in: MEW, Ergänzungsband 1, 538.

[10] Karl Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, in: MEW 1, 378.

[11] Karl Marx: Das Kapital, Band 1, 790

[12] aaO., 86f.

[13] Gegenstandpunkt VerlagsGmbH (Hg.): Resultate der Arbeitskonferenz, Bd. 3: Der bürgerliche Staat. München: Gegenstandpunkt Verlag, o.J. (Zuerst: Marxistische Gruppe (Hg. im Selbstverlag): München: 1979). Zitat: §1: 8. (Im folgenden zitiert als: Der bürgerliche Staat.)

[14] MEW 1, Kritik des Hegelschen Staatsrechts: 281.

[15] Karl Marx: Das Kapital, Band 1, 765.

Zur normalen Fassung


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sopos 5/2010