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Testfeld Griechenland

Die Diktatur der Gläubiger ist das Pilotprojekt für den Angriff auf die Unter- und Mittelschichten in ganz Europa

von Gregor Kritidis (sopos)

Die Botschaft des informellen EU-Krisengipfels am 11. Februar war eine doppelte: Im äußersten Notfall werde die EU Griechenland finanzielle Unterstützung gewähren; gegenwärtig bestehe dazu aber keine Notwendigkeit. Bevor über konkrete Maßnahmen beraten werde, müsse die griechische Regierung selbst alle Möglichkeiten der Haushaltskonsolidierung ausschöpfen. Damit hat sich mit französischer Kooperation die restriktive Linie der Bundesregierung gegen die Interessen der anderen EU-Staaten, die – wie Spanien, Portugal, Italien und Irland – mit ähnlichen Problemen konfrontiert sind, durchgesetzt. Dass dennoch direkte Finanzhilfen notwendig werden könnten – zeitweise wurden 25 Mrd. Euro diskutiert[1] – will niemand bestreiten.

In der Mehrzahl der Medien wird versucht, dieser neoliberalen Marschroute mit zwei „Argumenten“ Volkstümlichkeit zu verschaffen: Einerseits hätte seinerzeit die griechische Regierung sich den Zugang zur Währungsunion mit statistischen Manipulationen verschafft; andererseits hätten die Griechen jahrelang über ihre Verhältnisse gelebt und somit die Krise ihrer Staatsfinanzen selbst verursacht.

Die Verlogenheit des ersten Aspekts läßt sich mittlerweile Teilen der Presse entnehmen: Die Mitgliedschaft in der Währungsunion war zwar an die Maastrichter Kriterien gebunden, letztlich waren jedoch politische, d.h. geostrategische Überlegungen ausschlaggebend.[2] Die Manipulationen der griechischen Regierung sind seitens des nationalen Statistikbüros mehrfach kritisiert worden und waren sogar schon Gegenstand eines Arbeitskampfes über die inhaltliche Qualität der statistischen Erhebungen. In Brüssel wird das kaum jemandem entgangen sein. Abgesehen davon gehört die Manipulation von Statistiken zur allgemeinen Geschäftsgrundlage, wie im Bankenkrach nach der Lehmann-Pleite erneut deutlich geworden ist.[3]

Der zweite Aspekt bedarf zumindest der Differenzierung. Die implizite Behauptung, mit der Währungsunion sei vorrangig das Ziel verfolgt worden, den allgemeinen Lebensstandard zu erhöhen, entbehrt jeder Grundlage. Sieht man einmal von den tief sitzenden, moralisierenden Ressentiments über die "Schlamperei" und "Mißwirtschaft" der faulen Südeuropäer hinweg, die nun die "Solidarität" der europäischen Staatengemeinschaft einforderten,[4] bezieht sich dieses Argument in seinem ökonomischen Kern auf das Leistungsbilanzdefizit der griechischen Wirtschaft. Mit anderen Worten, Griechenland hat mehr importiert als exportiert. Die griechische Wirtschaft sowie große Teile des EU-Währungsraumes bilden damit das Gegenstück zum deutschen "Exportweltmeister", der mit dem durch Harz IV ermöglichten Lohndumping "unter seinen Verhältnissen" gelebt und gewirtschaftet hat. Genau das war aber mit der Währungsunion beabsichtigt, zumindest von denen, die etwas davon verstanden: Den exportorientierten Industrien Zentraleuropas sollten unabhängig vom Wechselkursrisiko die Absatzmärkte gesichert werden; die Möglichkeit, mittels einer Abwertung der eigenen Währung die Importe zu verteuern, die Exporte zu verbilligen und somit die Konkurrenzfähigkeit der eigenen Industrien zu erhalten, sollte den Ländern mit einer geringeren Arbeitsproduktivität genommen werden.[5] An die Stelle der Währungsflexibilität trat die Lohnflexibilität nach unten. Dieses neoliberale Programm hatte im EU-Währungsraum die Senkung der gesamten Reproduktionskosten der Ware Arbeitskraft zum Ziel. Neben der Reduzierung der direkten Lohnkosten ging und geht es vor allem um eine Senkung des Rentenniveaus sowie der Kosten für die Sozialversicherungen. Daß mit den Maastrichter Konvergenzkriterien tatsächlich eine reale Annäherung der ökonomischen Verhältnisse erreicht werden könne, ist dagegen nur von neoliberalen Ideologen ernsthaft behauptet worden.

Neoliberales Programm in Griechenland noch im Vollzugsdefizit

Allerdings ließ sich das neoliberale Programm nicht in dem erhofften Maße realisieren. Das neoliberale Dogma besteht schlicht in dem Glauben, eine Deregulierung des Arbeitsmarktes würde die erhofften Resultate zeitigen. Das war jedoch nicht der Fall, auch wenn die griechischen Gewerkschaften den neoliberalen Kurs ihrer Regierungen weitgehend mitgetragen haben. Selbst wenn es möglich gewesen wäre, Arbeitskämpfe vollständig zu unterbinden: Das Lohnniveau läßt sich nicht dauerhaft unter die Reproduktionskosten der Ware Arbeitskraft senken, ohne Migrationsströme oder soziale Revolten auszulösen. Die – mehr als berechtigte – Angst vor dem „außerinstitutionellen Faktor“ auf der Straße war ein wesentlicher Grund, warum die griechischen Regierungen die Demontage der ohnehin nur rudimentären Sozialversicherungssysteme weitgehend im Konsens mit den Gewerkschaften und anderen sozialen Gruppen und selten mit der Brechstange betrieben haben.[6] Es liegt in der Logik der Verhältnisse, dass die schwach oder gar nicht organisierten Belegschaften in besonderem Maße eine Verschlechterung ihrer Arbeitsbedingungen hinnehmen mußten.

Betrachtet man die Struktur der griechischen Importe, so wird ebenfalls deutlich, dass der private Konsum keinesfalls der entscheidende Faktor für die wirtschaftlichen Ungleichgewichte ist, wie es die Phrase vom "Leben über den Verhältnissen" nahelegen will.[7] Mit dem Hebel der europäischen Strukturfonds sind seit den 1990er Jahren gigantische Infrastrukturprojekte auf den Weg gebracht worden. So wurden die West-Ost-Autobahn von Igoumenitsa zur türkischen Grenze, die Brücke Rio-Antirio, die attische Ringstraße, die Athener Metro, der Großflughafen "Eleftherios Venizelos" sowie die olympischen Spielstätten gebaut. Die Firmenkonsortien, die diese Großprojekte realisiert haben, lesen sich wie ein who's who der deutschen und französischen Industrie. Die Schmiergeldzahlungen von Siemens an die beiden Regierungsparteien, mit denen im großen Stil die politische Landschaft „gepflegt“ wurde, sind vor diesem Hintergrund zu sehen – in der Presse werden Summen von über 100 Mio. € genannt.[8]

Hinzu kommt der exorbitante Rüstungshaushalt Griechenlands, der nicht allein dem Konflikt mit der Türkei um den Grenzverlauf in der Ägäis geschuldet ist, sondern auch den Interessen französischer und deutscher Rüstungskonzerne entspricht. Es ist ein offenes Geheimnis, das die Rüstungslobbyisten in beiden großen griechischen Parteien, die sich in den letzten 30 Jahren bei den Regierungsgeschäften abgelöst haben, eine gewichtige Rolle spielen.[9] Die deutschen Rüstungsexporte haben zwischen 2004 und 2008 um 70% zugenommen, wobei der Export innerhalb Europas um 123% anstieg. Hauptimporteure waren Griechenland und die Türkei, die zusammen rund ein Drittel der deutschen Rüstungsexporte abnahmen.[10] Bei der Anbahnung von Rüstungsgeschäften sind immer Politiker, Diplomaten und Banker beteiligt, da derartige Geschäfte zumeist politischen Druck, Schmiergeldzahlungen, hohe staatliche Kredite des Importlandes sowie staatliche Bürgschaften des Exportlandes zur Grundlage haben. Gerade auch nach Ausbruch der Wirtschaftskrise bemüht sich z.B. die deutsche Regierung um den Export von Eurofightern nach Griechenland.[11]

Die Korruption im politischen und wirtschaftlichen Leben wird daher zurecht als Ursache für die gegenwärtige Krise ausgemacht. Nur wird dabei übersehen, dass der externe Faktor maßgeblich für die Aufrechterhaltung eben dieser Korruption verantwortlich ist. Ohne die Korrumpierung der griechischen Eliten und die Einbindung großer Teile der oberen Mittelschichten wäre es gar nicht möglich gewesen, das sozial und ökologisch desaströse Entwicklungsmodell, das in den letzten 20 Jahren verfolgt worden ist, politisch abzusichern. Im übrigen handelt es sich historisch betrachtet um kein neues Phänomen, sondern seit der Gründung des griechischen Staates im 19. Jahrhundert um das vorherrschende Modell sozialer Herrschaft.[12]

Die griechische Bevölkerung hat für diese Politik in den letzten 20 Jahren bereits einen hohen Preis entrichtet: Neben der Deregulierung der Arbeitsmärkte, der Zerstörung der sozialstaatlichen Sicherungen sowie der Senkung von Löhnen und Sozialeinkommen ist die Gesundheitsfürsorge und das Bildungssystem in einem desaströsen Zustand. Allein die privaten Ausgaben für Gesundheit und Bildung, die griechische Familien aufbringen müssen, sprengen alle europäischen Rekorde. Mittlerweile lebt rund ein Fünftel der Griechen unter der Armutsgrenze, eine Zahl, die sich infolge der verschärften Austerity-Politik der Regierung Papandreou weiter erhöhen wird.[13] Es ist kein Zufall, dass das in den bundesdeutschen Medien ebenso unterbelichtet bleibt wie die gezielte Spekulation "angelsächsischer" Bankhäuser[14] oder die betrügerische Ausplünderung der griechischen Rentenversicherungsträger, die Funktionäre der Rechtsregierung Karamanlis in Zusammenarbeit mit griechischen Banken und internationalen Anlegern ins Werk gesetzt haben.[15] Die Aktiva der griechischen Banken haben sich dagegen seit 2000 von 233 Mrd. € auf 579 Mrd. € mehr als verdoppelt.[16] Von einer Heranziehung dieses Kapitals zur Schuldentilgung, das zudem wegen der Bankenkrise staatliche Unterstützung erfahren hat, ist aus naheliegenden Gründen keine Rede.

Die Gefahr eines Staatsbankrotts, die mit der Herabstufung der Kreditwürdigkeit des griechischen Staates in der europäischen Presse lanciert wurde, ist freilich abwegig. Denn – und da besteht ein Unterschied zur Zerrüttung der Staatsfinanzen im 19. Jahrhundert unter Charilaos Trikoupis – die Staaten der Gläubiger griechischer Staatsobligationen, zu denen deutsche, französische und niederländische Banken gehören, haben kein Interesse, dass diese Forderungen abgeschrieben werden müssen.[17] Eine Einstellung der Zahlungen seitens Griechenlands könnte eine Kettenreaktion zur Folge haben, die – ähnlich wie im Fall der Lehmann-Brothers – eine erneute Finanzkrise zur Folge hätte. Eine solche Entwicklung wollen die europäischen Eliten unter allen Umständen vermeiden. Profitieren würden dabei die Händler der Versicherungen von Anlagen in griechische Staatsobligationen, deren Spekulationen die Kredite des griechischen Staates verteuert haben.

Von der Krise der demokratischen Repräsentation in Griechenland zur Diktatur der EU-Sparkommissare

Die Alternative zu einer Abschreibung der Kredite besteht in dem jetzt eingeschlagenen Weg: Wie Ende des 19. Jahrhunderts, als Griechenland aufgrund des Kriegsabenteuers gegen die Türkei erneut Kredite aufnehmen und daher seine Altschulden anerkennen musste, werden die griechischen Staatsfinanzen einer rigiden Kontrolle unterworfen, die den Gläubigern erlaubt, ihren Einfluß auf die griechische Wirtschaft maßgeblich auszuweiten.[18] Das griechische Parlament büßt damit das vornehmste Recht eines jeden Parlaments, das Budgedrecht, ein. Ministerpräsident Papandreou fällt damit die Rolle eines von Frankreich und Deutschland mit Billigung Brüssels eingesetzten Staatskommissars zu, der sich – im Gegensatz zu den von den Großmächten im 19. Jahrhundert oktroyierten Monarchen – zumindest einer formalen demokratischen Legitimation erfreuen kann. Für die griechische Oberschicht ist diese Form der ökonomisch-politischen Diktatur in eigenem Interesse: Das griechische Handels-, Reederei- und Bankkapital ist traditionell weltmarktorientiert und insbesondere eng mit der herrschenden Klasse Großbritanniens verflochten, während das industrielle Kapital vor allem auf eine Akkumulationsstrategie setzt, die auf gering qualifizierter Arbeit und niedrigen Löhne basiert.[19]

Die Repräsentationskrise der parlamentarischen Demokratie wird mit der Teilsuspendierung der parlamentarischen Rechte des Vouli[20] freilich weiter auf die Spitze getrieben. Dieser Offenbarungseid der parlamentarischen Demokratie kann in seiner Wirkung kaum überschätzt werden. Faktisch hat sich die Regierung eines EU-Landes der ökonomischen Diktatur der Gläubiger gebeugt. Es läßt tief blicken, das in den deutschen Medien diese vollständige Suspendierung eines zentralen demokratischen Rechtes, nämlich des Budgetrechts des Parlaments, nicht einmal ansatzweise zu politischen Bauchschmerzen geführt hat.

Die weiteren Entwicklungen werden maßgeblich davon abhängen, ob es der griechischen Regierung gelingen wird, die Verschärfung ihres neoliberalen Kurses durchzusetzen. Die in rassistische Positionen reichenden Kommentare in der bundesdeutschen Presse bezüglich der griechischen Mentalität verweisen auf die tief sitzende Furcht, die Austerity-Politik der PASOK könnte scheitern und die Krisendynamik damit an Geschwindigkeit und Tiefe gewinnen. Bereits die Revolte der griechischen Jugend im Dezember 2008 hat die Befürchtung ausgelöst, die „griechische Krankheit“ könne sich auf ganz Europa ausbreiten und einen Machtverlust der politischen Eliten einleiten. Diese Befürchtung ist angesichts der Dynamik der sozialen Bewegungen durchaus berechtigt, zumal in Griechenland die Traditionen sozialen Widerstands tief im historischen Bewußtsein der Bevölkerung verankert sind.[21]

Die Kräfte der Gegenwehr

Einen entscheidenden Faktor im innenpolitischen Kräftespiel Griechenlands stellt die Kommunistische Partei (KKE) dar; inwieweit diese dauerhaft aus der Einbindung in den herrschenden Block ausscheren wird, ist noch ungewiß. Angesichts des nun durch die Kürzungspakte entstandenen politischen Drucks ist es aber unwahrscheinlich, dass die kommunistischen Gewerkschaften ihren Kurs der "oppositionellen" Kooperation aufrecht erhalten können. Im Dezember 2008 hat die KKE noch gegen die soziale Bewegung Position bezogen und die zweite im Parlament vertretene Linkspartei, die Linkskoalition (SYRIZA), bezichtigt, sie streichele den anarchistischen Koukouloforoi ("Kapuzenträger") die Ohren. Die SYRIZA wurde für ihre Parteinahme für die sozialen Bewegungen erst in der medialen Öffentlichkeit, dann bei den Parlamentswahlen, welche den Regierungswechsel zur PASOK zum Ergebnis hatte, abgestraft.

Der Generalstreik vom 17. Dezember 2009 wurde allein von der KKE, der SYRIZA, den gewerkschaftlichen Basisverbänden sowie der außerparlamentarischen Linken getragen. Dabei kam es zu einem heftigen Schlagabtausch zwischen der KKE und dem von der PASOK-nahen PASKE geführten Dachverband der Gewerkschaften (GSEE – Allgemeine Konföderation der Arbeiter Griechenlands), der sich unverhüllt als Streikbrecher positionierte. Inwieweit die neue Bündniskonstellation, die sich bei diesem erfolgreichen Streik faktisch ergeben hat, von Dauer sein wird, ist noch unklar. Es gibt aber einige Anzeichen, die auf eine Umgruppierung der politischen Kräfte hindeuten: Zu den in Griechenland durchaus üblichen Generalstreiks mit eher demonstrativem Charakter haben im Januar und Februar nolens-volens auch wieder die PASKE-dominierte GSEE und die ADEDY (der Dachverband der Beschäftigten im staatlichen Sektor) aufgerufen. Angesichts der politischen Front aus PASOK, Nea Dimokratia und dem rechtradikalen LAOS, die mit Nachdruck für die Austerity-Politik eintreten, sind die regierungsnahen Kräfte in den Gewerkschaften, aber auch die Sympathisanten einer Koalition mit der PASOK in der SYRIZA in erhebliche Erklärungsnöte geraten. Zudem sind die Sollbruchstellen im neoliberalen Block mehr als offensichtlich; beide Rechtsparteien unternehmen bisher alles, sich rhetorisch von der Regierungspolitik abzusetzen, während die PASOK sich nach Kräften bemüht, der Nea Dimokratia möglichst alle Verantwortung für die gegenwärtige Situation zuzuschieben.[22]

Unklar ist auch die weitere Entwicklung des dynamischsten Faktors der sozialen Bewegungen in Griechenland, der anarchistischen Strömung. Diese ist in ihrer Breite in der traditionell von marxistischen Organisationen geprägten griechischen Linken ein neues Element. Seit der Dezember-Revolte im Jahre 2008 ist von verschiedenen Gruppierungen dieses Spektrums die Frage eines langfristigen Transformationskonzeptes und in diesem Zusammenhang die Bündnisfrage erhoben worden. Die kapitalistische Form der Vergesellschaftung, die nationalistische Integration und die Politik des Rassismus sowie die Idee der Emanzipation mittels des Staatsapparates werden von keiner anderen soziopolitischen Strömung so radikal in Frage gestellt wie von den Anarchisten. Sie bilden den aktivsten und militantesten Teil des antikapitalistischsten Spektrums, viel wird daher von der weiteren Orientierung der Anarchisten abhängen.

Die Bedeutung des Kampfes in Griechenland für die Entwicklung der sozialen Auseinandersetzungen in Europa

Je mehr die demokratischen Institutionen in der EU ausgehöhlt werden, desto größer wird das Potential und die Verantwortung aller „außerinstitutionellen“ Kräfte, die zentralen sozialen und demokratischen Rechte der lohnabhängigen Bevölkerung gegen die Krisenpolitik der politischen und ökonomischen Eliten zu verteidigen. An Griechenland soll ein Exempel statuiert und prototypisch die Verschärfung der neoliberalen Krisenpolitik erprobt werden. Diesem Versuch muß auch in Zentraleuropa mit Nachdruck entgegengetreten werden, soll den europäischen Eliten nicht kampflos das Feld überlassen werden. Die Frage der demokratischen und sozialökonomischen Selbstbestimmung muß zum zentralen Punkt der Auseinandersetzung gemacht werden, wenn die sozial und ökologisch zerstörerischen Kräfte der Krise gebannt werden sollen. Die Selbstaufklärung der Kräfte des gesellschaftspolitischen Widerstands über die weiteren Schritte beinhaltet jedoch eine Reihe von Fragen, deren Diskussion auf breiter Basis erst im Verlauf der Krise selbst möglich werden wird. Es kommt darauf an, den Chancen und Risiken dieser Entwicklungen gerecht zu werden.

Anmerkungen

[1] FAZ v. 22.2.2010. Die hektische Betriebsamkeit auf dem internationalen Parkett – selbst Deutsche Bank Chef Josef Ackermann bereiste Athen – zeigt, das ein Staat, zumal ein EU-Währungsunionsmitglied, ebenso "systemrelevant" wie eine Bank ist – vor allem, wenn die Gläubiger ihre Kredite nicht abschreiben wollen.

[2] Im Interview mit der FAZ hat der litauische Ministerpräsident Kubilius nochmals darauf hingewiesen. FAZ v. 12.2.2010. Erhellend ist auch ein Blick in die Pressearchive: "Kandidat mit Schönheitsfehlern". SZ v. 3.5.2000. "Griechenlands Anpassung an die EU. Staatliche Nachhilfe mit geschickten Kunstgriffen". Neue Zürcher Zeitung v. 26.1.1999.

[3] Werner Rügemer, Griechen aller Länder, vereinigt Euch! JW v. 24.2.2010.

[4] Die Abkürzung PIGS für die südeuropäischen Mitgliedsländer der EU läßt in dieser Hinsicht tief blicken. Der zwischen der Rechtspresse Deutschlands und Griechenlands ausgebrochene Medienkrieg, den der "Focus" losgetreten hat, umfaßt das ganze Arsenal denkbarer Ressentiments. Aber auch die "seriöse" Presse ist im Kern nicht besser. Vgl. "Zahlen Bitte". SZ v. 20./21.2.2010; "Operation Quittungsblock". Zeit v. 25.2.2010. Konkrete Zahlen, etwa die Höhe von Durchschnittsrenten oder die Lebenshaltungskosten in Hellas werden in diesem Zusammenhang nicht genannt, um den Mythos des flotten Lebens auf Kosten der EU-Geberländer nicht zu zerstören. Es ist charakteristisch für das Ausmaß der Krise, das große Teile des neoliberalen Mainstreams Schuldige für Entwicklungen suchen, da die methodischen Möglichkeiten, welche die herrschenden Wirtschaftswissenschaften bereithalten, völlig unzureichend sind, die Widersprüche des Markgeschehens zu analysieren.

[5] Die Medien, welche die Interessen der exportorientierten Industrien, etwa die der Automobilindustrie, vertreten, ist dieser Zusammenhang bewußt. Folglich verteidigen sie das Projekt des Euro. Vgl. HAZ v. 6.3.2010.

[6] Die rechte Regierung Mitsotakis hat Anfang der 1990er Jahre erfolglos versucht, mit einem Frontalangriff die Rechte der abhängig Beschäftigten zu kassieren.

[7] Vor allem hat der private Konsum zu nicht geringen Teilen privaten Verschuldung zur Grundlage und nur mittelbar staatliche Ausgaben.

[8] Es dürfte kein Zufall sein, dass der Chef von Siemens-Hellas, Michalis Christoforakos, bisher von Deutschland nicht an Griechenland ausgeliefert worden ist. Sollte er Interna dieses Parteispenden-Skandals dem Untersuchungsausschuss des griechischen Parlaments mitteilen, dürften sowohl die PASOK als auch die ND erhebliche politische Schwierigkeiten bekommen. Vgl. Eleftherotypia v. 5.3.2010. Giorgos Chatzimarkakis, Europaabgeordneter, FDP-Vorstandsmitglied und Präsident der deutsch-griechischen Wirtschaftsvereinigung hält die Schmiergeldzahlungen für eine gelungene Exportförderung. JW v. 24.2.2010.

[9] Die heiße Liebe zwischen Nicolas Sarkozy und Kostas Karamanlis basiert sogar wesentlich auf diesen Interessen, wie in der griechischen Presse relativ breit diskutiert worden ist. Vgl. Kathimerini v. 31.7.2007; 5.6.2008; 9.6.2008. Im Gegenzug gab die französische Regierung Griechenland außenpolitische Rückendeckung, etwa in Bezug auf den Konflikt mit Mazedonien. In der PASOK galt Akis Tsochatsopoulos als "Mann der Franzosen", während Kostas Simitis, der in Deutschland studiert hat, als Wahrer deutscher Interessen gehandelt wurde.

[10] taz v. 27.4.2009. Die Zahlen basieren auf Statistiken des Stockholmer Friedensforschungsinstituts Spiri.

[11] Z.B. durch eine Veranstaltung der deutschen Botschaft in Athen mit Vertretern der EADS. Kathimerini v. 13.5.2009. Außenminister Westerwelle schaltete sich ebenfalls in die Geschäfte ein und übte Druck auf die griechische Regierung aus. NGO-online, Zugriff v. 22.2.2010. http://www.ngo-online.de/ganze_nachricht.php?Nr=19830

[12] Vgl. Dimitris Charalambis, Gesellschaftliche Klassen, politische Krise und Abhängigkeit. Frankfurt/Main 1981.

[13] Niels Kadritzke hat zwar zutreffend angemerkt, dass das griechische Steuersystem eine erhebliche Schlagseite aufweist, da z.B. Freiberufler teilweise durch allerlei Tricks kaum Steuern bezahlen. Es ist aber kaum zu vermuten, dass sich daran wesentlich etwas ändern wird. Die Kürzungsmaßnahmen der griechischen Regierung zielen vor allem auf die breite Mehrheit der abhängig Beschäftigten, so etwa die Erhöhung der indirekten Steuern auf Zigaretten, Alkohol und Benzin, einen Einstellungsstop sowie Gehaltskürzungen im öffentlichen Dienst als auch die angekündigte Rentenreform. Die Ausdehnung der Ladenöffnungszeiten auf den Sonntag wird zudem eher multinationalen Konzernen wie Lidl entgegenkommen und die Steuerbasis durch die Verdrängung kleiner Gewerbetreibender vermindern. Vgl. Griechenland – auf Gedeih und Verderb. Le Monde Diplomatique. Januar 2010.

[14] Die Namen dieser Banken sind von der französischen Regierung, welche diese Information in der Nationalversammlung mitteilte, bisher nicht bekannt gemacht worden. Eleftherotypia v. 17.10.2010. Zur Spekulation gegen den Euro und die griechischen Staatsobligationen vgl. SZ v. 5.3.2010.

[15] Der Skandal des Anlagebetrugs – auch hier waren vor allem britische Investoren beteiligt – ist noch Gegenstand eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses, der, legt man bisherige Erfahrungen mit derartigen Ausschüssen zugrunde, nur wenig zur Aufklärung beitragen wird.

[16] Risospastis v. 21.2.2010.

[17] Vgl. Heinz Richter, Griechenland zwischen Revolution und Konterrevolution (1936-1946). Frankfurt/M 1973. S. 24ff. Korinna Schönhärl. Geschichte eines Staatsbankrotts. FAZ v. 19.2.2010.

[18] Die Aufforderung, die Griechen sollten ihre Inseln verkaufen, ist in diesem Zusammenhang als Metapher zu verstehen: Das Manager-Magazin hat schon genauer vorgerechnet, was es noch aus griechischem Staatsbesitz zu holen gibt: Teile von Hellas-Post und Telekom, die Athener Wasserversorgung, die Raffinerien, die Hafengesellschaften und vor allem die staatliche Lottogesellschaft. Manager-magazin v. 5.3.2010. Wenn der Springer-Verlag und andere es ernst meinen, ließe die griechische Regierung aber möglicherweise über den Verkauf von Makronisos oder Agios Efstratios mit sich verhandeln.

[19] Historisch ist das ebenfalls nicht neu. Vgl. Charalambis, Gesellschaftliche Klassen. Frankfurt/Main 1981.

[20] So heißt das griechische Parlament.

[21] Die griechische Gesellschaft ist hochgradig politisiert; diese Politisierung hat ihre Wurzel darin, dass die griechischen Aufklärer im 19. Jahrhundert Schwierigkeiten hatten, Zugang zu den Kreisen der über das osmanische Reich und das Ausland verstreuten Bourgeoisie zu finden. Die nationalen Befreiungskriege stützten sich daher vor allem auf die breite Bevölkerung, die sich für die Ideen der Demokratie und Aufklärung zugänglich zeigten. Es waren daher immer vorrangig die Mittel- und Unterschichten Träger der demokratischen Idee. So ist es auch kein Zufall, dass die vollkommen mangelhaft ausgerüsteten Mannschaften und mittleren Offiziersränge 1940 im albanischen Krieg den faschistischen Achsenmächten ihre erste Niederlage bereiteten und die hochgerüsteten, aber unmotivierten Truppen Mussolinis weit nach Albanien zurückdrängten, während die Bourgeoisie unter Regentschaft des Diktators Metaxas nur ein Interesse an der Aufrechterhaltung der faschistischen "Ordnung" zeigte. Im Zweifelsfall hat sich die Oberschicht stets auf den Rückhalt bei den Großmächten verlassen können.

[22] Vgl. Kathimerini v. 18.2.2010.

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sopos 3/2010