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"Geglückte" Demokratie, verunglückte Geschichtsschreibung

Gregor Kritidis

Seit den 1990er Jahren hat sich in der Geschichtsschreibung die Meistererzählung von der "Erfolgsgeschichte Bundesrepublik" durchgesetzt. Diese ihren legitimatorischen Charakter kaum verhüllende Deutung ist in den letzten Jahren zunehmend auf Kritik gestoßen. Wir dokumentieren hier die leicht gekürzte Rede unseres Redakteurs Gregor Kritidis, die er am 16.1.2010 anläßlich der Verleihung des Günter Reimann Wissenschaftspreises der Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen in Leipzig gehalten hat. Ausgezeichnet wurde er für seine 2008 erschienene Dissertation "Linkssozialistische Opposition in der Ära Adenauer. Ein Beitrag zur Frühgeschichte der Bundesrepublik Deutschland" [1]. Diese Arbeit befaßt sich mit den weitgehend verschütteten demokratisch-sozialistischen Traditionen in Westdeutschland und ihrer aktuellen Bedeutung.

Einer der herausragenden Protagonisten der linkssozialistischen Opposition der 1950er und 1960er Jahre war der Staatsrechtler und Politikwissenschaftler Wolfgang Abendroth. Gegenwärtig arbeite ich an der Edition einer Auswahl seiner Briefe im Rahmen der Herausgabe seiner gesammelten Schriften. Dabei bin ich auf einen Brief gestoßen, der veranschaulicht, wie sehr Demokratie und Sozialismus für Abendroth eine unzertrennbare Einheit bildeten:

Abendroth schrieb 1961 an den Leipziger Literaturwissenschaftler Hans Mayer, den er aus der Studentenbewegung der Weimarer Republik kannte, und bat ihn, sich für das Studentenkabarett "Der Rat der Spötter" einzusetzen. Deren Mitglieder waren wegen staatsfeindlicher Propaganda von der Universität relegiert, der Leiter der Kabarettgruppe war gar verhaftet worden. Dabei hatten die "Spötter", wie Abendroth betonte, keinesfalls prinzipiell den Sozialismus kritisiert. In der Bundesrepublik wirkten sich derartige Repressionen äußerst negativ aus, so Abendroth weiter: "Diese unglaubliche Beeinträchtigung der geistigen Freiheit und der persönlichen Sicherheit von Studenten, die auch nur die leisesten Regungen selbstständigen Denkens zeigen, wirkt unvermeidlich hier als beste Rechtfertigung jeder Form antikommunistischer Vorstellungen und als Mittel, die Entstalinisierung unglaubwürdig zu machen." Mayer zog eigene Erkundigungen ein und teilte Abendroth dann mit, er kenne den Fall nur vom Hörensagen und könne nicht in ein schwebendes Ermittlungsverfahren eingreifen. Man merkt schon: Hier wurde von Mayer äußerst vorsichtig taktiert, um sich nicht selbst zu gefährden.

Die weiteren Entwicklungen werfen wenig gutes Licht auf die damaligen Verhältnisse in der DDR: die "Spötter" wurden aufgelöst und ihr Leiter – es handelte sich übrigens um Peter Sodann – wurde zu zwei Jahren Haft verurteilt. Die Strafe wurde nach 9 Monten in eine Bewährungsstrafe umgewandelt. Hans Mayer blieb nach einem Besuch 1963 in Tübingen. Er wurde von Peter von Oertzen – auch ein wichtiger Protagonist der sozialistischen Linken in Westdeutschland – 1965 an die TH Hannover geholt. Der Briefwechsel zwischen Abendroth und Mayer zeigt nicht nur, mit welchen taktischen Argumenten die stille Diplomatie während des Kalten Krieges betrieben wurde. Er verdeutlicht auch das radikaldemokratische Selbstverständnis der Linkssozialisten in der Bundesrepublik: Die Prinzipien Gleichheit und Freiheit sollten nicht auseinandergerissen werden, für sie bildete die Zielperspektive ein demokratisch-sozialistisches Gesamtdeutschland.

Die Linkssozialisten in Westdeutschland vertraten damit eine Position, die kurz nach der Niederwerfung des Faschismus in Deutschland hegemonial war. Selbst die CDU bekannte sich unmittelbar nach 1945 zum Programm eines christlichen Sozialismus und forderte die Vergesellschaftung der Großbanken und der Schlüsselindustrien. Der Vordenker dieses christlichen Sozialismus, der Dominikaner Eberhard Welty, ist übrigens weithin vergessen, ebenso wie die Frankfurter Leitsätze der CDU von 1946 und das Ahlener Programm von 1947. Nach Auffassung führender CDU-Politiker wie dem niedersächsischen Innenminister Uwe Schünemann dürften derartige Positionen als verfassungswidrig einzustufen sein.[2]

Die Intervention der Westmächte vor dem Hintergrund der Frontstellung des Kalten Krieges verhinderte die Realisierung dieser weitreichenden Programmatiken. Eberhard Schmidt, übrigens ein Abendroth-Schüler, hat in seiner einschlägigen Studie in diesem Kontext von der "verhinderten Neuordnung" gesprochen.

In der zeithistorischen Forschung möchten viele an diesen sozialistischen Gründungszusammenhang der frühen Bundesrepublik nur ungern erinnert werden. Seit den 1990er Jahren hat sich die These von der "Erfolgsgeschichte Bundesrepublik" durchgesetzt.

Zur Durchsetzung dieser Deutung hat die Forschung über die Herrschaftspraktiken der SED maßgeblich beigetragen; grundlegend neue Deutungen wurden in diesen Zusammenhang aber nicht entwickelt. Im Gegenteil, die zeithistorische Forschung hat mehr an das westdeutsche Selbstbild der 1950er Jahre angeschlossen, wonach die Bundesrepublik ein demokratisch legitimierter Rechtsstaat, die DDR jedoch ein historisch illegitimer Unrechtsstaat sei. Die "Geglückte Demokratie", von der Edgar Wolfrum spricht, hat als Gegenbild die verunglückte Volksdemokratie[3]. Nun ist die DDR kein demokratischer Rechtsstaat gewesen. Eine derart schematische Gegenüberstellung verstellt jedoch den Blick auf die Legitimationsdefizite der frühen Bundesrepublik.

Zwar wurden im Grundgesetz die liberalen Freiheitsrechte sowie das Prinzip des demokratischen und sozialen Rechtsstaates verfassungsrechtlich verankert – Abendroth hat dieses Prinzip dahingehend interpretiert, dass eine sozialistische Transformation auf der Basis des Grundgesetzes juristisch möglich, und politisch geboten sei. Im Gegensatz zur DDR hat es in Westdeutschland aber weder eine Beseitigung des Besitz- noch des Bildungsmonopols der Oberschicht gegeben; die alten Funktionseliten wurden nicht dauerhaft aus ihren Positionen in der staatlichen Verwaltung, der Justiz oder dem Hochschulwesen entfernt. Die Bestrebungen der Gewerkschaften, die nach 1945 ein umfassendes Programm zur Demokratisierung der Wirtschaft vertreten hatten, wurden nach einem harten Verfassungskonflikt mit dem Betriebsverfassungsgesetz abgewehrt. Vor diesem Hintergrund wird Kurt Schumachers Vorwurf verständlich, die Regierung Adenauer wolle einen autoritären Besitzbürgerstaat etablieren.

Die ideologische Klammer zur Integration der NS-Eliten auch in höchste Staatsfunktionen einerseits, der Arbeiterbewegung andererseits, bildete der Antikommunismus. Dieser richtete sich gegen den äußeren, aber fast mehr noch gegen den inneren Feind. Dieser innere Feind war nicht nur die KPD, auch wenn die FDJ wegen ihren aktivistischen, und unter Jugendlichen äußerst populären Kampagne gegen die Aufrüstung bereits 1951 verboten wurde. Der Antikommunismus richtete sich gegen die gesamte Arbeiterbewegung und insbesondere gegen die Linkssozialisten in der SPD und den Gewerkschaften.

Jürgen Seifert hat darauf verwiesen, das in der Ära Adenauer jegliche Gesellschaftskritik von vornherein dem Verdacht ausgesetzt war, letztlich dem Ostblock in die Hände zu spielen. Er schreibt: "Wer die persönliche Berührung mit Kommunisten nicht scheute, wurde verdächtigt, bloß weil er Kontakt hatte (Kontaktschuld). Wer Argumente vertrat, die Kommunisten auch vertraten, dem wurde (ohne sich mit dem Argument auseinanderzusetzen) ‚Konsensschuld’ vorgeworfen. Jede kritische Position wurde ausschließlich daran gemessen, wem nützt sie, ‚cui bono’: dem Westen oder dem Osten?"[4]

Welche Auswirkungen das hatte, lässt sich am Beispiel des bedeutenden Linkssozialisten Viktor Agartz aufzeigen. Agartz, ein enger Wegbegleiter Hans Böcklers, war 1947 Wirtschaftsminister der Bizone und später Gründer des Wirtschaftswissenschaftlichen Instituts des DGB (WWI), Anfang der 1950er Jahre der zentrale gewerkschaftliche Think-Tank der Gewerkschaften. Im Zuge einer bis heute unaufgeklärten Briefaffäre wurde er 1955 kaltgestellt, 1958 wurde ihm gar mit dem Vorwurf des Landesverrates der Prozess gemacht: Agartz hatte die von ihm herausgegebene Zeitschrift Wiso-Korrespondenz durch ein Sammelabonnement des FDGB indirekt finanzieren lassen. An sich war das nicht strafbar, Agartz wurde aber von der Bundesanwaltschaft eine hochverräterische Absicht vorgeworfen.

Die Zeugenaussagen prominenter Linkssozialisten wie Wolfgang Abendroth, Theo Pirker und Leo Kofler verwandelten den Gerichtssaal zu einer Lehrstunde für politische Soziologie, bei der nachgewiesen wurde, das marxistisches Denken keinesfalls demokratischen Überzeugungen widerspricht, sondern es im Gegenteil gerade die Ausweitung des demokratischen Prinzips auf den Bereich der Wirtschaft anstrebt.

Trotz eines Freispruches in diesem neben dem KPD-Verbotsverfahren vielleicht wichtigsten politischen Prozess der frühen Bundesrepublik war Agartz in der Öffentlichkeit nachhaltig als kommunistischer fellow-traveller diskreditiert. Die Verteidiger von Agartz in diesem Prozess waren übrigens sein ehemaliger Studienfreund, der erste Innenminister im Kabinett Adenauer und spätere Bundespräsident Gustav Heinemann sowie dessen Sozius Diether Posser, der spätere Justizminister von NRW, der kürzlich verstorben ist.

Posser sprach im Zusammenhang mit dem Prozeß gegen Agartz von einer Art Bürgerkriegsjustiz. Von dieser justizförmigen Repression waren unmittelbar vor allem Mitglieder und Sympathisanten der KPD, aber auch alle diejenigen, die man dafür hielt, betroffen. Der Historiker Josef Foschepoth hat kürzlich die Maßlosigkeit dieser juristischen Verfolgung hervorgehoben: Nach älteren Schätzungen gab es zwischen 1949 und 1968 über 125.000 Ermittlungsverfahren wegen kommunistischer Betätigung, wobei die KPD zum Zeitpunkt ihres Verbots nur noch etwa 12.000 Mitglieder hatte. Nicht selten wurde sich dabei über rechtstaatliche Prinzipien hinweggesetzt[5].

In seinen Auswirkungen auf alle Dimensionen des politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Lebens ist dieser Kalte Krieg nach innen bisher noch nicht systematisch untersucht worden; dabei ist seine Entlastungsfunktion für ehemalige NS-Täter und -Mitläufer ebenso offensichtlich wie sein Beitrag zur Restauration autoritär-obrigkeitsstaatlicher Bewußtseinsformen. In der vorherrschenden Zeitgeschichtsschreibung wird das freilich anders gesehen, folglich findet nur sehr widerwillig eine Auseinandersetzung mit der repressiven Politik gegen die Opposition in Westdeutschland statt.

Am Beispiel des Agartz-Prozesses lässt sich das veranschaulichen: Es mag noch verständlich sein, dass in der Heinemann-Biographie von Dieter Koch aus dem Jahre 1972 der Name Agartz gar nicht auftaucht[6]. Offenbar wollte er die Verbindungen des amtierenden Bundespräsidenten zu linkssozialistischen Kreisen nicht in den Vordergrund rücken. Aber auch in Edgar Wolfrums Überblicksdarstellung "Die geglückte Demokratie" aus dem Jahr 2006 wird der Agartz-Prozeß trotz seiner zentralen innenpolitischen Bedeutung ebenso wenig erwähnt wie in Jörg Treffkes im letzten Jahr erschienenen Heinemann-Biographie[7]. Das ist umso bemerkenswerter, als 1982 eine zweibändige Abhandlung über den Prozeß gegen Viktor Agartz von Jürgen Treulieb erschienen ist, die sogar die zeitgenössische Presseberichterstattung in die Analyse einbezieht.[8]

Neben dem KPD-Verbotsverfahren und dem Hochverrats-Prozeß gegen Viktor Agartz gab es aber noch ein weiteres zentrales politisches Verfahren, das Verbotsverfahren gegen die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes. Als der Prozeß gegen die VVN 1962 begann, musste das Verfahren jedoch ausgesetzt werden, da die VVN nachweisen konnte, dass der Vorsitzende Richter bereits vor 1933 Mitglied der SA gewesen war. Es erübrigt sich zu sagen, dass über dieses Verfahren kaum Literatur vorliegt, geschweige denn die Repressionen gegen die VVN systematisch in die Forschung über die frühe Bundesrepublik einbezogen worden wären. Eine Studie über die Arbeit des Initiativausschusses der Verteidiger in politischen Strafsachen gibt es ebenfalls nicht. Dabei treten die Legitimationsdefizite der Bundesrepublik in diesem Punkt mehr als deutlich zu Tage: ehemalige Parteigänger des Dritten Reiches saßen über ehemalige Widerstandskämpfer zu Gericht.

Das Argument, eine Integration der ehemaligen Nazis in die bundesrepublikanische Gesellschaft sei unumgänglich, ja im Interesse der Demokratie notwendig gewesen, geht dagegen fehl. Es ist doch ein erheblicher Unterschied, ob ein kleiner NS-Mitläufer in das Gemeinwesen sozial integriert wird, oder ob jemand als Staatssekretär, Richter oder Hochschullehrer erneut eine gesellschaftliche Führungsposition einnimmt.

Bisher liegen keine übergreifenden Studien vor, welche langfristigen strukturellen Folgen das Wirken der NS-Tätergeneration in der Bundesrepublik gehabt hat. Joachim Perels hat am Beispiel der Justiz wiederholt darauf hingewiesen, dass sich diese Frage keinesfalls auf ein moralisches Problem reduzieren läßt. Ich möchte im Anschluß an Perels die These vertreten, dass etwa in der Rechtsprechung der Arbeitsgerichte sich bis heute eine Kontinuität obrigkeitsstaatlicher Entscheidungskategorien ausmachen lässt. – Die Argumentation der Gewerkschaften und ihres juristischen Gutachters Abendroth hat sich in den 1950er Jahren, als die Grundlagen der Rechtssprechung der Arbeitsgerichte gelegt wurde, nicht durchgesetzt, sodaß die obrigkeitsstaatliche Deutung eines Ernst Forsthoff maßgeblich wurde.

Damit meine ich nicht nur die Urteile, welche die Entwendung von Dingen am Arbeitsplatz betreffen, wie das Bienenstichurteil aus den 1980er Jahren und alle sich darauf beziehenden Urteile zu Mundraub und anderen Bagatellfällen. Ebenso problematisch ist die Kategorie des Allgemeinwohls, wie sie in verschiedenen Urteilen in Zusammenhang mit dem Streik der Gewerkschaft der Lokomotivführer verwendet worden ist. In mehreren Urteilen wurde das Allgemeinwohl vollkommen unkritisch mit den Interessen der Bahn-AG sowie ihrer industriellen Großkunden identifiziert. Zwar wurden alle diese Urteile vom Bundesarbeitsgericht aufgehoben; beim Koalitons- und Streikrecht handelt es sich schließlich um ein Grundrecht. Aber auch diese Entscheidung des BAG lässt Interpretationsspielräume offen, und es leuchtet ein, dass jedes Gesetz nur solange bestand hat, wie eine gesellschaftspolitische Kraft seine Einhaltung garantiert.[9]

Viele der Positionen, die der Erarbeitung des Grundgesetzes zugrunde lagen, sind in den Jahrzehnten nach seiner Verabschiedung uminterpretiert oder ausgehöhlt worden; es wurde sogar gespottet, beim Grundgesetz handele es sich um eine Loseblatt-Sammlung. Wirklich einschneidende Veränderungen des Grundgesetzes hat es aber erst nach 1990 gegeben, sodaß man von einem Bruch des Verfassungskompromisses von 1948 sprechen muß.

Diese Veränderungen betreffen zum einen die Kriegseinsätze der Bundeswehr im Ausland, deren Legitimation im Rahmen des "Krieges gegen den Terror" auf einer sehr dünnen Basis steht. Zum anderen betreffen sie den mit der Agenda 2010 institutionalisierten Verstoß gegen das Sozialstaatsgebot, die Menschenwürde sowie das Recht auf freie Berufswahl.

Diese Veränderungen gehen einher mit einem autoritären, sich auf Carl Schmitt beziehenden Denken, wie Marcus Hawel in seiner Analyse der Positionen des Staatsrechtlers Otto Depenheuer gezeigt hat[10]. Depenheuer, dessen Schriften übrigens von Wolfgang Schäuble zur Lektüre empfohlen werden, plädiert für ein Feindstrafrecht: Jeder Feind der Verfassung und des Staates verwirke seine bürgerlichen Rechte und habe keinen Anspruch, nach Maßgabe der Ordnung, die er bekämpft, behandelt zu werden. Damit wird eine Legitimation geschaffen, auch nur des Terrorismus Verdächtige zu erschießen.

Diese autoritären Tendenzen sind keinesfalls ein auf Deutschland beschränktes Problem. Der britische Politikwissenschaftler Colin Crouch hat im Hinblick auf die inhaltliche Aushöhlung der parlamentarischen Institutionen sowie der politischen Öffentlichkeit den Begriff der "Postdemokratie" geprägt.[11] Und der Strafrechtler Peter Alexis Albrecht hat in seinem Buch "Die vergessene Freiheit" herausgearbeitet, dass in den europäischen Staaten im Zusammenhang mit dem Anti-Terror-Kampf die liberalen Grundprinzipien sukzessive aufgegeben worden sind und sich das Schwergewicht von der Judikative zur Exekutive verschoben hat[12].

Ohne Zweifel wird der Kampf um die demokratischen Freiheiten in den nächsten Jahren im Zentrum der gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung stehen. Aber diese Freiheiten sind nicht abstrakt und losgelöst von den sozialen Interessen der Mehrheit der sozial abhängigen Bevölkerung; die demokratischen Rechte werden ja deswegen eingeschränkt, um die sozialen Rechte der Menschen aufheben zu können. Es wird dabei von entscheidender Bedeutung sein, im Sinne eines Wolfgang Abendroth zwischen Staats- und Verfassungsordnung klar zu unterscheiden. Als Georg Leber, der Vorsitzende der IG Bau Steine Erden, in der Auseinandersetzung um die Notstandsgesetze Zweifel an der staatstreue Abendroths äußerte, war dessen Entgegnung programmatisch und traf die autoritäre Staatsfixierung Lebers im Kern: Zweifellos, so Abendroth, müßten alle Demokraten die demokratische Grundordnung schützen. Gerade deswegen dürften dem Staatsapparat jedoch nicht die Mittel an die Hand gegeben werden, die Grundrechte einzuschränken oder aufzuheben. "Wird das Ja zur Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, der Wille zur Verteidigung des demokratischen Staates, durch das abstrakte Ja zum jeweiligen Staat, in dem wir leben, ersetzt, so ist die schiefe Ebene erneut betreten, auf der das deutsche Volk schon einmal von der Demokratie zum Unrechtsstaat abgeglitten ist."[13]

Anmerkung

[1] Gregor Kritidis, Linkssozialistische Opposition in der Ära Adenauer. Ein Beitrag zur Frühgeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Offizin-Verlag, Hannover, 2008. Eine Rezension findet sich unter: Stefan Janson, "Die Flamme weitergetragen - Kontinuitätslinien linkssozialistischer Theorie und Praxis in dürftiger Zeit", sopos 12/2008

[2] Vgl. U. Schünemann, "Die Linke" ist keine normale Partei. Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 15.12.2008. Schünemann argumentiert in diesem Beitrag, die Linke diffamiere "die gesellschaftliche und politische Realität der Bundesrepublik so gezielt, dass man von ihrer Absicht ausgehen muss, die Verfassungsordnung zu demontieren". Damit fällt er noch hinter die Begründung des KPD-Verbots durch das Bundesverfassungsgerichts von 1956 zurück, das immerhin eine gegen die Verfassungsordnung gerichtete aktiv-kämpferische Haltung für die Charakterisierung einer Partei als verfassungswidrig für notwendig erachtet hat. Da Schünemann nicht zwischen Verfassungsordnung und Verfassungsrealität differenziert, sondern diese umstandslos miteinander identifiziert, erklärt er sich selbst implizit zur maßgeblichen Instanz, die darüber befindet, was als legitime Kritik der Opposition und was als verfassungsgefährdende Diffamierung zu gelten hat.

[3] Edgar Wolfrum, Die geglückte Demokratie. Geschichte der Bunderepublik Deutschland von ihren Anfängen bis zur Gegenwart. Stuttgart 2006.

[4] Jürgen Seifert, Sozialistische Demokratie als ‚schmaler Weg’. Kooperation in der Redaktion der Zeitschrift ‚Sozialistische Politik’ (1955-1961). In: Ders./Heinz Thörmer/Klaus Wettig (Hrsg.), Soziale oder sozialistische Demokratie. Beiträge zur Geschichte der Linken in der Bundesrepublik. Marburg 1989, S. 25.

[5] Josef Foschepoth, Rolle und Bedeutung der KPD im deutsch-deutschen Systemkonflikt. Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 56/2008. S. 889-909. Vgl. Jan Korte, Instrument Antikommunismus. Sonderfall Bundesrepublik. Berlin 2009.

[6] Diether Koch, Heinemann und die Deutschlandfrage. München 1972.

[7] Vgl. Fn 2. Jörg Treffke, Gustav Heinemann. Wanderer zwischen den Parteien. Eine politische Biographie. Paderborn 2009.

[8] Jürgen Treulieb, Der Landesverratsprozeß gegen Viktor Agartz. Verlauf und Bedeutung in der innenpolitischen Situation der Bundesrepublik auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges. 2 Bd. Münster 1982

[9] siehe dazu: Gregor Kritidis, "Haut den Lukas", sopos 8/2007 und Gregor Kritidis, "Haut den Lukas, Teil II", sopos 10/2007

[10] Marcus Hawel, Dämmerung des demokratischen Rechtsstaates? Zur Renaissance des Dezisionismus. In: Kritische Justiz (KJ), 1/2009, S. 64-73. Wieder in: Marcus Hawel, Dämmerung des demokratischen Rechtsstaates? sopos 5/2009

[11] Colin Crouch, Postdemokratie. Frankfurt/M 2008.

[12] Peter-Alexis Albrecht, Die vergessene Freiheit. Strafrechtsprinzipien in der europäischen Sicherheitsdebatte. Berlin 2003.

[13] Zitiert nach Uli Schöler, "Rote Blüte im kapitalistischen Sumpf." Abendroth, SPD und Presse in der Nachkriegsära. In: SPW Nr. 29/1985. S. 433.

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https://sopos.org/aufsaetze/4b94cd49d1794/1.phtml

sopos 3/2010