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Kerzenschein und Molotow-Cocktails – Zur Symbolgeschichte der brennenden Straße

von Utz Anhalt (sopos)

Eine Bundestagsabgeordnete der Linkspartei soll gesagt haben, "die Straße brennt", wenn besagte Partei 51% der Stimmen bekommt. Damit, so ein Vorwurf, zeige sie ihr antidemokratisches Denken. Die kritische Intelligenz, sofern es sie in diesem Land geben sollte, ist gut beraten, sich nicht im Schlamm des Parteigeschäfts zu wälzen, sondern die politische und historische Wirklichkeit zu benennen.

Die gegenwärtige Uni-Besetzung in Wien richtet sich gegen unerträgliche Studienbedingungen, unter dem Titel "Die Uni brennt". Nun gehörten Slogans wie "Deutschland brennt", "Kreuzberg brennt, (Hannover-) Linden pennt", "Deutschland – Wir lieben dich brennend" zum Repertoire der außerparlamentarischen Opposition im Westen – vor dem Mauerfall. "Schule – wir lieben dich brennend", schrieben wir bei unserem Abi-Umzug. Die Parole von Linken "Feuer und Flamme für jeden Staat" war bewusst doppeldeutig und nur manchmal wörtlich zu verstehen – als Molotowcocktail.
Der Molotow-Cocktail war lange ein Symbol für den Widerstand der Straße, des Volkes gegen den Polizeistaat, ähnlich wie Steine gegen Panzer. Seinen Ursprung hat er im erfolgreichen Freiheitskampf der Finnen gegen das großrussische Imperium der rotlackierten Zaristen. Molotow war Außenimister und ließ in Finnland einmarschieren, die Finnen jagten die Panzer der Sowjet-Imperialisten mit Steinen und benzingefüllten Flaschen aus dem Land – David siegte gegen Goliath. Bekanntlich blieb Finnland unabhängig.
Seine späteren Sternstunden erfuhr der Molotow-Cocktail in den 1950er Jahren im Ungarn-Auftstand. Die damalige Bürgerrechtsbewegung, demokratische Sozialisten und bürgerliche Menschenrechtler waren der erste Riss im stalinistischen System. Sie stürzten die nationale stalinistische Diktatur, um einen demokratischen Sozialismus einzuführen. Die Rote Armee marschierte ein, Schüler und Studenten leisteten erbitterten Widerstand und verteidigten sich mit Molotow-Cocktails gegen Panzer, starben zu tausenden. Danach fiel der eiserne Vorhang – aber das Wissen, dass sich das totalitäre System nur mit Massenmord halten konnte, war aus dem Bewusstsein der Menschen nicht mehr zu löschen.

Historisch hat dieser Riss im Stalinismus "on the long run" die Revolution von 1989 möglich gemacht und gezeigt, dass "das Volk" die Sowjetversklavung keinesfalls guthieß. Ungarn blieb nach dem im Blut erstickten Freiheitskampf der Stachel im Fleisch der Ostblock-Diktaturen. Es ist kein Zufall, dass der Anfang vom Ende des Orwell-Kommunismus die Öffnung der Grenze zwischen Österreich und Ungarn war. Die Tradition von 1956 brachte 1989 den Stein ins Rollen: Der Molotow-Cocktail, die brennende Straße, ist ebenso ein Symbol der Befreiung wie die Kerzen der Bürgerrechtler in Leipzig. Das Diktum der politischen Protestbewegungen der 1980er Jahre im Westen hieß Gleichberechtigung der Aktionsformen. Das war eben keine Verherrlichung der Gewalt einerseits und ein "sich zur Schlachtbank treiben lassen" andererseits, sondern das historische Bewusstsein darüber, dass die soziale Bewegung der Menschen erfolgreich Widerstand gegen Staatsterrorismus leisten kann – selbst in den tiefsten Phasen der Verzweiflung. Und das mit Mitteln, die jedem zur Verfügung stehen: Glasflaschen, Putzlappen und Benzin. "Widerstand ist machbar, Herr Nachbar."
Es ist auch Gorbatschow zu verdanken, dass wir uns an 1989 nicht mit Bildern aus Leipzig erinnern von Schülern, die mit dem Molotow-Cocktail in der Hand im Kugelhagel der Roten Armee verbluten. Als Gorbatschow versicherte, dass die Rote Armee nicht einschreitet, war der Stasi-Staat am Ende. Dass danach gerade die im Westen die friedliche Revolution bejubelten, die hierzulande versucht hatten, den Widerstand ganzer Regionen zu brechen – mit Tränengasbombardierungen aus Hubschraubern und sonstigen Verstößen gegen die Menschenrechte, ist leider "how history works." Die Bürgerrechtler im Osten, die nach "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" "Kein Kohl, kein Krenz, kein Vaterland" riefen, ließen sich allerdings nicht vor diesen Karren spannen. Bürgerrechtler im Westen, die prügelnden Westpolizisten die Leipziger Parole "Keine Gewalt" entgegensetzten und die "Entwaffnung von Stasi und Bundesgrenzsschutz" forderten, hatten die Botschaft der Mutigen unter den Menschen in der DDR aufgenommen. Die DDR-Bürgerrechtler sind auch deswegen so sympathisch, weil sie nicht den "ganz großen Wurf", das Himmelreich auf Erden versprachen wie die totalitären Ideologien, sondern "Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit", die Französische Revolution einklagten.
SED-Bonzen erkannten in der Wende zum Beispiel ihre Chancen als Inmoblienmakler, das von ihnen in Besitz genommene Volkseigentum ließ sich jetzt gut verschachern. Datschen-Kleinbürger verstanden unter "Freiheit", Marlboro zu rauchen. Wer sich die Kritikfähigkeit bewahrte, zum Beispiel mit Transparenten wie "Im Westen sind sie schlauer, da ist das Geld die Mauer", zog den Zorn des autoritären Charakters auf sich. Der genoss die Früchte der Bürgerrechtsbewegung und brüllte jetzt "Helmut, gib uns Arbeit, gib uns Brot". "Wir sind ein Volk" richtete sich ursprünglich an die Volkspolizisten und rief sie dazu auf, zusammen mit den Bürgerrechtlern die SED-Bonzen zu stürzen. Sich von Helmut Kohl einkaufen zu lassen, war damit nicht gemeint. Das entsprach selbstredend nicht dem deutschen Radfahrer, der nach oben buckelt und nach unten tritt, und sich, als keine Gefahr mehr bestand, auf die Straße traute. Jetzt wollte der autoritäre Charakter sich nicht mehr von Papa Honecker, sondern von Papa Kohl füttern lassen. Der versprach nämlich "blühende Landschaften", ein paar mehr Speckwürfel in der Erbsensuppe.

Die "blühenden Landschaften" kamen bekanntlich nicht, stattdessen Arbeitslosigkeit für viele, während sich die alten Kader aus SED, Stasi, FDJ etc. in der neuen Herrschaft ihr Plätzchen an der Sonne suchten. Und als der Golf GTI ausblieb, richtete sich der Aufstand der Spießer gegen "die da unten". Es brannte nicht die Straße im Widerstand gegen die Panzer der Roten Armee wie in Ungarn, sondern es brannten die Flüchtlingsheime, angezündet vom autoritären Mob, der es sich zuvor im Gartenzwerg-Stalinismus gemütlich gemacht hatte. Der Molotow-Cocktail, das Symbol der Befreiung, bekam eine neue, eine entsetzliche Bedeutung. Ebenso, wie der Stalinismus den wundervollen Begriff Sozialismus, die Weiterentwicklung der indivduellen Bürgerrechte, entwürdigte, indem er nämlich die bürgerlichen Freiheitsrechte nicht verallgemeinerte, sondern vernichtete, ging es dem Molotow-Cocktail als Symbol. Die Lichterkette, die friedliche Kerze, als Symbol gegen den faschistischen Mob, blieb. Willkommen im Westen: Der Berliner Senat hatte die friedliche Revolution gegen den Terrorismus von Stasi-, SED- und FDJ beklatscht. Jetzt ließ er die seit der Wende von den Bewohnern selbst verwalteten Häuser der Ostberliner Mainzer Straße räumen. Das Gerücht von einem "Supermolli" machte die Runde und heizte die Staatsschergen zur Gewalt auf. Es handelte sich um eine Tage dauernde Schlacht mit extremer Polizeibrutalität. Stasis dürfte die Integration leicht gefallen sein – ihre sehr deutschen Fähigkeiten, Hetze und Denunziation, sind auch im Westen nicht unbekannt.

Vom Feuer der Freiheit in den Herzen brennende Straßen sind keinesfalls antidemokratisch, sondern historisch der Kampf für Demokratie, für Menschenrechte und Freiheit – und das gegen Diktaturen jeglicher Coleur. Die Wählerklientel der Linkspartei im Osten ist hingegen nicht gerade für das Einklagen von Selbstbestimmung und Freiheitsrechten bekannt. "Helmut, gib uns Arbeit, gib uns Brot", oder im Original "Unser täglich Brot gib uns heute, lieber Gott" verweist eher darauf, was passieren könnte, wenn 51% der Menschen hierzulande die Linkspartei wählen würden. Papa Honecker, Papa Helmut, Papa Gott soll dem unmündigen Kind Futter geben – das eigene Leben selbstbestimmt zu gestalten, ist bestimmt nicht Mehrheitswunsch. Und, da der deutsche Radfahrer weiß, dass "eine anständige Tracht Prügel noch niemandem geschadet hat", dürften ihn Einschränkungen der Grundrechte kaum zum Protest ermutigen. Es braucht also niemand Angst zu haben: Die Straße wird wohl nicht in Flammen stehen, und die Kerzen, die auf der Straße brennen, um auch in Zukunft die Freiheitsrechte einzuklagen, dürften wohl wieder in den Händen weniger engagierter Bürgerrechtler leuchten. Die SED-Bonzen warnten damals vor "Rowdies" in der Leipziger Innenstadt, die Kerzenwachs ausgießen würden, auf dem die Leute ausrutschen. Das klingt lächerlich, und heute ist das natürlich alles ganz anders. Wirklich? In den Protestbewegungen der 1980er Jahre im Westen standen Menschen vor Gericht, weil sie Benzin, leere Flaschen und Stoff im Auto hatten. Damit, so die Begründung, lässt sich ein Molotow-Cocktail bauen. In Heiligendamm wurden Clowns angezeigt, weil sie "die Schleimhäute reizende Substanzen" auf Polizisten spritzten: Es handelte sich um Seifenblasen. Als solche entpuppen sich auch Diktaturen – Lächerlichkeiten, die allerdings tödlich sind.

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sopos 12/2009