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Viktor Agartz: Alles Geschichte oder was?

Eine Entgegnung auf Stefan Janson

von Christoph Jünke

Es ist nicht lange her, da besprach Stefan Janson auf sopos.org Gregor Kritidis' Werk über die linkssozialistische Opposition der 1950er Jahre in euphorischem Ton: »Wer heute einen Weg zur Transformation der kapitalistischen Gesellschaft sucht, sollte sich vom Reichtum emanzipatorischen Denkens nach 1945 inspirieren lassen. Angesichts der Versuche, die Zeit zwischen 1945 bis 1968 als eine ›Zeit des Wirtschaftswunders‹ und des ›Wohlstandes für Alle‹ zu verklären, sollte jeder dieses Buch zur Hand nehmen, um sich kritisch mit jener Zeit auseinanderzusetzen und die alternativen, aber unterdrückten Entwicklungspfade kennen und nutzen zu lernen.« (Hervorhebungen: CJ) Anscheinend auf den Geschmack jener Zeit gekommen, hat er nun ein weiteres Werk besprochen, ein Werk, das man durchaus als vertiefende Fallstudie des Kritidischen Werkes betrachten kann – und eines zudem aus einer ganzen Reihe anderer, vergleichbarer Bücher, die in den letzten Jahren diese terra incognita der deutschen Linken aufarbeiten. Doch wie anders ist der Ton seiner Rezensentenmusik, wenn Janson in seinem Beitrag »Viktor Agartz – eine Persönlichkeit der historischen Arbeiterbewegung« (sopos 5/2009) auf das von Reinhard Bispinck, Thorsten Schulten und Peter Raane herausgegebene Werk »Zur Aktualität von Viktor Agartz« zu sprechen kommt.[1]

Das Buch behandelt niemand geringeren als den in der zweiten Hälfte der besagten 50er Jahre immerhin bekanntesten und einflussreichsten aller Linkssozialisten. Und es versammelt – neben der Neuauflage von ein paar alten Agartz-Aufsätzen – Beiträge, die Ende 2007, auf einer von der Rosa Luxemburg-Stiftung und dem Wirtschaftswissenschaftlichen Institut (WSI) des DGB gemeinsam organisierten Veranstaltung zur 110. Wiederkehr des Geburtstags von Agartz und zum 50. Jahrestag des Urteils im Landesverratsprozesses gegen Agartz zur Diskussion gestellt wurden.[2] Von diesem Politikum erfahren wir bei Janson leider nichts, dafür viel darüber, warum er Agartz für einen vollkommen veralteten Politiker und Intellektuellen hält. Agartz' Aufsätze haben, schreibt Janson apodiktisch, »heute allein historischen Wert«. Diese Einschätzung sei ihm unbenommen. Doch die Argumente, die er im Folgenden zur Begründung dieses Urteils anführt, und mehr noch die ganze Form derselben, bedürfen hier einer Antwort.

Die Verlagswerbung wecke, so Janson, »hohe Erwartungen«, die er sogleich für »ganz überwiegend enttäuscht« ansieht. Warum? Folgen wir ihm auf seinen verschlungenen Um- und Nebenwegen.

Zweifelhaft sei zuerst, dass unsere aktuelle Krise, wie nicht nur der Verlag, sondern auch die Herausgeber in ihrem Vorwort schreiben, Raum für alternative Gesellschaftsentwürfe öffne. Sei dies nicht vielmehr, fragt Janson, die »für den Großteil der etatistisch orientierten sozialdemokratischen, parteikommunistischen und auch gewerkschaftlichen Linken« typische Fehleinschätzung, wo doch die objektive Krise mindestens seit den 1970er Jahren allüberall präsent sei. Als Beleg verweist er auf Lateinamerika und auf den Zusammenbruch des Ostblocks, um dann an die ökologische Krise und die Krise der Biomacht zu erinnern. Doch das ist so richtig wie falsch, denn was objektiv und strukturell der Fall war und ist, muss sich bekanntlich noch nicht in subjektiver Empfänglichkeit für neosozialistische Gedanken und Strömungen niederschlagen. Was im Kopfe des aufgeklärten Oppositionellen vorgeht, gilt nicht unbedingt für die Köpfe der zu emanzipierenden Subjekte. Und es ist eines, was in den Köpfen steckt und ein anderes, ob es eine politische Konjunktur gibt, die diesen Inhalt herausfordert. Bei aller zu gebietenden Skepsis über die Funktionsweisen der Medienindustrie: Will Stefan Janson ernsthaft behaupten, dass gerade heutzutage so etwas wie eine Renaissance der Systemfrage und ein mindestens spürbares massenhaftes Minderheiteninteresse an emanzipativen, und d. h. auch sozialistischen Alternativen besteht? Warum meint er dann, dies mit der großen Geste des Propheten abwehren zu müssen?

Kurioserweise weiß Janson sogar selbst, wie unangemessen ist, was er da behauptet. All diesen Fragen, schreibt er, »können die Arbeiten von Agartz aus den Jahren 1946 bis 1954 natürlich nicht gerecht werden. (...) Es wäre also zuviel verlangt, hier Antworten auf die Fragen nach der Zukunft der kapitalistischen Gesellschaftsordnung zu suchen.« (Hervorhebungen: CJ) Man reibt sich die Augen und fragt, warum er fast ein Drittel seiner Auseinandersetzung mit Erwartungen an Agartz zubringt, von denen er selbst weiß, dass sie keine angemessenen Erwartungen sind oder dass sie von der Werbung des Verlags geweckt wurden. Doch genau dies ist bei ihm die argumentative Grundlage für das dann unmittelbar fallende Vernichtungsurteil, dass Agartz' Aufsätze »insoweit ... heute allein historischen Wert (haben)«.

Es wird sogar noch kurioser, wenn er im gleich an dieses Diktum anschließenden Halbsatz fort fährt, dass die Herausgeber (in diesem Falle sind es nicht nur die Herausgeber, sondern mehr noch die Autoren Bispinck und Schulten) in ihrem Aufsatz zur expansiven Lohnpolitik selbst gerade auf diese historische Beschränkung der Agartzschen Konzeption hinweisen (vgl. im Buch S. 61 ff.) – ganz ähnlich übrigens auch Hans-Jürgen Urban in seinem Beitrag (vgl. S. 40, 44). Rekapitulieren wir also: Da Agartz schon ein halbes Jahrhundert tot ist, kann er keine Antworten geben auf heutige Probleme des Imperialismus und der Ökologie- und Biomacht-Krise. Und weil die Herausgeber und Autoren des Bandes dieses wissen – der Verlag aber was anderes unterstellt – ist Agartz »heute allein von historischem Wert«? Welch ein argumentatives Kunststück.

Der Ton macht hier die Musik – und der zieht sich im Weiteren durch. Viktor Agartz wird im besprochenen Band als ein herausragender Vordenker einer Konzeption der Wirtschaftsdemokratie behandelt – wobei sich der Zusammenhang zu aktuellen Debatten auf der Linken mehr als aufdrängen sollte. Janson findet auch dies nicht nachvollziehbar, nicht zuletzt deswegen, weil für ihn nicht nur die Form der Wirtschaftsdemokratie von Bedeutung ist, sondern mehr noch bei dieser Diskussion »unerlässlich« sei, »auch den politischen Weg dorthin« aufzuzeigen. Als Beleg für seine Behauptung, dass Agartz gerade dies nicht tue, verweist er auf eine Rede desselben, die dieser 1946 gehalten habe. Aber der Agartz von 1946 war bekanntlich (bekanntlich?) nicht der Agartz von 1956 ff. Der späte Agartz hatte gebrochen mit der Sozialdemokratie der Nachkriegszeit – und sei es nur, weil diese mit dem gebrochen hatte, wofür er sein Leben lang gekämpft hatte. Diese historischen Umstände veränderten nicht nur die Konzepte von Agartz trotz all ihrer Kontinuität, sondern bestimmten auch seine neuen Suchbewegungen. Schon methodisch ist also Jansons Urteil abermals unsauber und ungerecht. Und zeigt nicht – ganz unabhängig von diesem fundamentalen methodischen Einwand – gerade der von Janson gelobte Buchbeitrag von Michael Krätke auf, wie sich Agartz' Konzeption der Wirtschaftsdemokratie durchaus in eine Strategie der Gesellschaftstransformation einfügt – zudem in eine, die sehr viel Parallelen zu heutigen Konzepten eines Marktssozialismus aufweisen? Man kann dies ja für politisch falsch und wenig zukunftsträchtig halten (ebenso wie den Marktsozialismus), aber man kann doch weder dessen Gehalt noch dessen Aktualität so nonchalant abtun.

Weiter im Takt: Janson mokiert, dass sich in den Beiträgen des Buches zu Agartz' Haltung zur SED und zum praktischen Stalinismus »nicht viel« findet, und dass dies unverzeihlich sei für jemanden, dem es um die Rekonstruktion einer autonomen, klassenkämpferischen Arbeiterbewegung ging. (Dass er in diesem Zusammenhang mich als Autor mit den Worten meint abwatschen zu können, ich würde annehmen – soll heißen: bloß annehmen... –, dass es Agartz um eine solche radikale Bewegung gegangen sei, lass ich hier mal in Klammern.) Mindestens in dem von mir verfassten (und von Janson dankenswerterweise gelobten) biografischen Überblicksbeitrag zum Band geht es durchaus auch um dieses Problem.[3] und dass es bei den anderen Beiträgen nicht auftaucht, hat ja vielleicht etwas damit zu tun, dass deren Themen andere sind, nämlich die Lohn- und Wirtschaftspolitik?

Überhaupt wird in dem Band nur ein Teil von Agartz präsentiert, und zwar vor allem der Agartz der frühen 50er Jahre, nicht der der späten 50er Jahre. Man mag das bedauern – ebenso wie die Tatsache, dass sich dies auch auf die Auswahl der Agartz-Aufsätze verzerrend ausgewirkt hat – aber daraus ein Negativurteil über Agartz selbst abzuleiten, kann nur jemand tun, der den anderen Agartz entweder nicht kennt oder meint nicht kennen zu brauchen.

Nächste Strophe: Janson hält Agartz auch deswegen für vollkommen veraltet und unglaubwürdig, weil das von Agartz seit dem Frankfurter DGB-Kongress im Oktober 1954 mit Vehemenz vertretene Projekt der Rekonstruktion einer autonomen, klassenkämpferischen Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung »bereits 1946 sowohl im Osten als auch im Westen längst entschieden (war) ... Die eigentliche Gegenrevolution hatte innerhalb der Arbeiterbewegung also schon zu einem Zeitpunkt gesiegt, als Agartz sich für ein weit reichendes politisches Mandat der – nunmehr gewendeten und entkernten – Gewerkschaftsbewegung einsetzte«. Wieder haben wir es mit dem typischen Ätschi-Bätsch eines Sektierers zu tun, der Agartz links liegen lässt, weil er ja weiß, dass die Geschichte schon viel weiter war und ist... Mit demselben Recht kann man auch heute wieder die Erfolgsaussichten einer solchen Rekonstruktionsarbeit und damit alle linkssozialistische Politik fahren lassen. Ist dies wirklich Jansons Ansatz, um den »erblindeten Prometheus« wieder zum Sehen zu bringen?[4]

Doch abgesehen von diesem Einwand: Warum nennt Janson eigentlich das Jahr 1946 als entscheidenden Wendepunkt der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung? War die von ihm beschworene Gegenrevolution nicht eher 1948/49 oder vielleicht doch eher 1955? Oder nicht vielleicht schon 1933 oder gar 1921? Warum nicht eigentlich schon von Anbeginn der von Janson mit besonderem Genuss als »etatistisch« beschimpften Arbeiterbewegung? Und wenn er hierbei den guten Theo Pirker gegen Agartz auffährt, der es ja schon damals viel besser gewusst hatte, so ist auch dies schief, immerhin war Pirker bis 1957 einer von Agartz' engsten Mitarbeitern. Pirker – und auch dies wäre durchaus eine Diskussion über Lehren aus der Geschichte wert – hatte damals die Hoffnung, sorry: die »hohe Erwartung«, dass aus Agartz ein neuer Lassalle werde. Und als diese Erwartung enttäuscht wurde, entfernte er sich Stück für Stück auch von (fast) allem anderen...

Auch hier liegt der aktuelle Zusammenhang abermals auf der Hand: Es gab (und gibt) Linke, die vor wenigen Jahren in Oskar Lafontaine den neuen Lassalle zur Wiedererweckung einer sozial und politisch eigenständigen, radikalen Arbeiterbewegung sahen. Ist die heutige Einsicht (oder Einschätzung), dass hier einmal mehr der Wunsch der Vater des Gedankens war, so ohne weiteres gegen Lafontaine und seine objektiv progressive Rolle in einem gegebenen historischen Moment zu wenden? Ich ziehe diesen Vergleich nicht, um Lafontaine mit Lassalle, oder Lassalle mit Agartz, oder Agartz mit Lafontaine zu erhöhen oder zu verdammen (und ich weiß, dass Janson und andere hier laut aufheulen werden über den vermeintlichen Ultra-Etatisten Lassalle) – es geht vielmehr darum, sich mithilfe historisch vergleichender Aufklärung den heutigen Strukturproblemen linker, emanzipativer Politik zu nähern, um sie eventuell besser bewältigen zu können. Es geht um jenes von Janson selbst so treffend festgestellte Inspirieren lassen, um die Erkenntnis und Nutzung historischer Entwicklungspfade. Dass jedoch gerade bei Agartz nicht gehen soll, was für Janson bei Theo Pirker, Erich Gerlach und all den anderen »50ern« funktioniert, scheint mir doch einer Erklärung bedürftig.

Theo Pirker, Erich Gerlach und viele andere haben damals sicherlich manches besser oder tiefer gesehen – nicht zuletzt in Fragen der politischen Programmatik und Theorie. Die einen gegen die anderen auszuspielen, wiederholt jedoch das Selbstzerfleischungsprozedere der End-50er-Jahre, als die schwungvoll begonnene erste Generation einer deutschen Neuen Linken an den Wellenbrechern des sozialen Friedens im aufkommenden Sozialstaat, an der sich im KPD-Verbot und dem Landesverratsprozess gegen Viktor Agartz manifestierenden Repression, an der sich im Harich-Prozess und der Kampagne gegen Bloch und andere manifestierenden Repression eines sich restalinisierenden DDR-»Kommunismus«, und an den dadurch bedingten neuen Spaltungslinien auch innerhalb der sozialistischen Linken zerschellte.

Viktor Agartz war in jenen Jahren das wichtigste Verbindungsglied zwischen den linken Strömungen wie auch zwischen dem Establishment und seinen Widersachern. Er war, ob uns dies gefällt oder nicht, das »missing link« und seine Tragik die Tragik der sozialistischen Linken. Grundlage dieser tragischen Entwicklung war dabei das prekäre Verhältnis zwischen kommunistischer und linkssozialistischer Bewegung. In der Tat kann sich eine autonome, klassenkämpferische Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung nicht entwickeln, wenn Teile derselben ihr Hirn beim Klassengegner oder bei fremden Mächten des eigenen Lagers abgeben. Antistalinismus ist ebenso elementar für eine solche Bewegung wie Antikapitalismus. Es gibt jedoch auch eine Tradition des antikommunistischen Antistalinismus innerhalb der Linken, die politisch verheerend gewirkt hat. Und diese Verheerungen lassen sich sehr gut gerade im Übergang zu den 60er Jahren, im Schicksal der ersten Neuen Linken und von Viktor Agartz studieren. Damals wurde die Kontaktschuldthese der restaurativen Bourgeoisie von Teilen der Linken übernommen und damit die Grundlage einer nachhaltigen Spaltung gelegt, die sich – ich wiederhole mich gern – verheerend ausgewirkt hat auf die weitere Entwicklung der deutschen Linken. Das bedeutendste Opfer dieser Spaltung findet sich symbolisiert in Viktor Agartz und seiner WISO-Zeitschrift.[5]

Unempfänglich für diese innerlinken Verstrickungen beerdigt Janson Viktor Agartz gleich aufs neue, obwohl doch die intellektuelle Reanimation mit dem vorliegenden Band gerade erst begonnen hat: Schön und verdienstvoll, wenn es Leute gibt, die daran erinnern, dass die Geschichte der BRD auch eine Geschichte der Repression gegen links war (»wertvolles, empirisch gesättigtes Anschauungsmaterial zur Klassenrealität im Westen Deutschlands«) und dass Demokratie für alle und in allen Lebensbereichen ein Grundrecht war und ist. Aber bitte doch nicht diesen komischen altmodischen Agartz, diese verschimmelte Hoffnung aller Etatisten... Kann denn Janson nicht erkennen, dass all seine Kritiken schon deshalb ihren Bezugspunkt verfehlen, weil jene, die sich in dem erwähnten Band mit Agartz auseinandersetzen, ähnliches zum »historischen« Charakter des Agartzschen Werkes zu sagen haben wie er selbst – dies jedoch nicht als Begründung für eine Nichtbeschäftigung mit ihm nehmen. Wieso sollten sie auch, denn was ist das eigentlich für ein Vorwurf, einem vor fast 50 Jahren gestorbenem politischen Intellektuellen hinterher zu rufen, er habe »heute allein historischen Wert«?

Was also bleibt von Viktor Agartz? Es gibt keinen Grund, die Autoren und Herausgeber des Bandes über einen Leisten zu brechen, deswegen bleibe ich hier mal bei meinen dort gegebenen Antworten. Der politisch-intellektuelle Teil meiner Antwort ist bereits auf sopos.org veröffentlicht worden.[6] Ausgespart blieb dort mein Argument, dass von Agartz nicht nur, aber vor allem ein exemplarisches Leben bleibt, das »wie wenige die Wandlungen und das Schicksal der einstmals radikalen und weltweit beachteten deutschen Arbeiterbewegung im 20.Jahrhundert widerspiegelt, ihre Stärken und Schwächen, ihre Aufs und Abs. Es ist ein exemplarisches Leben, von dem viel zu lernen wäre – nicht zuletzt in der heutigen Zeit, in der es scheint, also ob die deutsche Arbeiterbewegung und der linke Sozialismus politisch wieder in Bewegung geraten.« (S.17) Glaubt man Stefan Janson, ist solche Art der Vergegenwärtigung von Geschichte nur Geschichte. Er kann darin nur die Fortschreibung einer vergangenen Geschichte erkennen und schreibt damit – oh heilige Dialektik – bewusst oder unbewusst gerade die Tradition einer linken Kontaktschuldthese fort.

Dass diese Form der Geschichtspolitik nicht alles ist, um das es im besagten Bande geht, weiß Janson und polemisiert ja auch heftigst gegen das eine oder andere dort angeführte. Aus jeder Zeile seiner Besprechung erkennt man jedoch den tief greifenden Widerwillen, sich mit dem Erbe von Agartz nüchtern auseinanderzusetzen. Fast jedes seiner Argumente ist entweder methodisch völlig unsauber oder haltlos, denn alle Begründungen für sein Verdikt sind nicht dem im Buch aufbereiteten Material zu entnehmen. Er lässt sich durch dasselbe nicht inspirieren und benutzt es nicht für ein neugieriges Hinterfragen oder dazu, unterdrückte Entwicklungspfade kennen und nutzen zu lernen. Jansons Urteil über Agartz stand offensichtlich schon fest, bevor er das Buch zur Hand nahm. Eine interessante Frage ist deswegen, woher seine Aversionen kommen.

Die Form seiner Invektive wie auch zentrale Aspekte ihres Inhalts – das vermeintliche Ende der Arbeiterbewegung; die vermeintlichen Fehler der »Etatisten«; Agartz' vermeintliche Naivität – erinnern jene, die sich in der Agartz-Literatur auskennen, doch stark an Hans-Peter Riesche. Der brachte es Ende der 70er Jahre fertig, sich gleichermaßen fasziniert zu zeigen von Agartz und ihn ebenso umgehend in den Boden zu versenken: Agartz Leben und Werk vor 1955 sei durch und durch naiv und illusionär geblieben und nach 1955 »ohne weitere Bedeutung für die Geschichte der Republik, Kristallisationskern für Gruppen von Sektierern«.[7] Auch hier dieselbe Mischung aus rotzig-linkem Ton und hohlem Inhalt. Und auch hier möchte man nur antworten: So what – Na und?

Das Problem solcher Parteilichkeit ist nicht die Parteilichkeit als solche, sondern ihre ungenügende argumentative Fundierung. Hinzu kommt hierbei die in dieser Parteilichkeit enthaltene, so unbewusste wie ungerechte Fortschreibung einer sich über Agartz erhebenden Geschichtsschreibung der »Sieger« – in diesem Falle eines linken Radikalismus, der schon damals ausgesprochen kompatibel war mit den Legitimationsstrategien der sozialdemokratischen und gewerkschaftlichen Ausgrenzung nicht nur von Agartz selbst, sondern mehr noch jener Strömung, für die dieser stand.

Auch wenn ich selbst durchaus den einen oder anderen von Janson geäußerten Vorbehalt gegen Agartz teilen mag, kann dies kein Grund sein, sich nicht endlich auf nüchterne, anständige und selbstkritische Weise mit ihm auseinanderzusetzen. Trotz des dabei mitschwingenden Pathos hatte nämlich der gute alte Fritz Kief – Sozialist und Antistalinist durch und durch – absolut recht, als er im November 1957, während des Landesverratsprozesses gegen Agartz und anlässlich von dessen 60. Geburtstag, schrieb: »Die deutsche Arbeiterschaft war – leider – nie sparsam mit ihren Besten. Sie soll es nun endlich werden.«[8]

Anmerkungen:

[1] Reinhard Bispinck/Thorsten Schulten/Peter Raane (Hrsg.): Wirtschaftsdemokratie und expansive Lohnpolitik. Zur Aktualität von Viktor Agartz, Hamburg: VSA 2008, 242 Seiten.

[2] Vgl. dazu Peter Schäfer: »Die Rückkehr des Viktor Agartz. Ein Tagungsbericht«, in: Utopie kreativ 213/214, Juli/August 2008, S. 732–735

[3] Einiges mehr dazu findet man auch in meinem Beitrag: »Das dritte Leben des Viktor Agartz«, in: Mitteilungsblatt des Instituts für soziale Bewegungen Bochum, Essen: Klartext, Heft 40/2008, S. 39–60.

[4] Wilfried Gaum, Marcus Hawel und Gregor Kritidis: »Der erblindete Prometheus. Situation und Kritik der Gewerkschaften«, sopos.org, März 2009.

[5] Vgl. Anmerkung 3.

[6] Christoph Jünke: »Mehr als Dienstleistung. Zur Aktualität des fast vergessenen Gewerkschaftstheoretikers Viktor Agartz (1897–1964)«, sopos.org, Februar 2009.

[7] Hans Peter Riesche: Von der »Neuen Wirtschaftsdemokratie« zur »Expansiven Lohnpolitik«. Ein Beitrag zur Biographie von Viktor Agartz, Hannover 1979, S. 60.

[8] Fritz Kief, in: Die Andere Zeitung, November 1957.

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sopos 9/2009