Zur normalen Fassung

Ein bißchen weniger Frieden

Zum Begriff der sozialen Unruhe in der gegenwärtigen öffentlichen Debatte

von Gregor Kritidis (sopos)

Das historische Gedächtnis ist in der von medienindustriellen Verwertungszwängen bestimmten Öffentlichkeit naturgemäß kurz; anders wäre die Debatte kaum zu erklären, die DGB-Chef Michael Sommer mit seiner Warnung vor sozialen Unruhen ausgelöst hat. Die Struktur dieser Debatte verläuft dabei durchaus in üblichen Bahnen: Der oberste Gewerkschafter warnt vor den sozialen Folgen kapitalistischen Wirtschaftens, führende SPD-PolitikerInnen stimmen dem zu oder distanzieren sich eilfertig, Konzernlobbyisten aus Unternehmerverbänden, der CDU sowie der FDP kritisieren dagegen, Leute wie Sommer oder Bundespräsidenten-Kandidatin Gesine Schwan würden die „soziale Marktwirtschaft“ kaputtreden und den sozialen Frieden aufs Spiel setzen. In das vielfältige Mediengezwitzscher mischt sich zudem die Stimme der Linken, soziale Unruhe sei durchaus normal angesichts der gegenwärtigen sozialen Verwerfungen.

Nun ist es weder neu, vor dem Verlust des sozialen Friedens oder vor sozialen Unruhen zu warnen, noch mit einem „heißen Herbst“ zu drohen oder Schlimmeres anzukündigen. Die Endphase der Ära Kohl, von wilden Streiks, regulären Arbeitskämpfen, Studentenprotesten und gewerkschaftlich organisierten Massenaufmärschen geprägt, war von derartigen öffentlichen Debatten begleitet. Damals war es übrigens mit Hans Olaf Henkel ein Vertreter der „Arbeitgeber“, der schnoddrig konstatierte, infolge der privaten wie öffentlichen Austerity-Politik hätten wir „eben ein bißchen weniger sozialen Frieden“. Auch viele andere Äußerungen aus dieser Zeit sind aus heutiger Sicht durchaus erhellend.[1]

Geändert hat sich lediglich der Ton derartiger Äußerungen, der eine Nuance schriller geworden ist: Wenn jemand wie Wolfgang Bosbach das Gerede über „soziale Unruhen“ für „brandgefährlich“ hält, zeigt das eine gewisse Unruhe in den Unionsparteien an, die sich ihrer Hegemonie nicht mehr sicher sein können. Ein Blick über den deutschen Tellerrand könnte ebenfalls hilfreich sein, die Debatte zu verorten. So hat EU-Präsident Jean Claude Juncker vor dem „explosiven Charakter“ der steigenden Arbeitslosigkeit gewarnt und Regierungen und Unternehmen aufgefordert, geeignete Maßnahmen zur Verhinderung von Massenentlassungen zu ergreifen.[2] Das Gerede von der sozialen Unruhe ist also ein Zeichen für das steigende Unbehagen einer politischen Elite, die sich die Welt nicht mehr erklären und sich der politischen Massenloyalität nicht mehr sicher sein kann.

Allein ein Blick auf den Urheber der Debatte in Deutschland verdeutlicht jedoch, daß die Warnung vor sozialen Unruhen vor allem Teilen der Gewerkschaften und der SPD dazu dient, innerhalb des etablierten Machtgefüges der großen Koalition das Kräfteverhältnis zu ihren Gunsten zu verschieben, sich in Konkurrenz zur Linkspartei der eigenen Wählerbasis zu versichern, innerparteilich die Bindung des eigenen Klientels an die Parteiführung zu stärken und sich den Wirtschaftseliten als geeignete politische Kraft zur Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung anzubieten. Der DGB-Vorsitzende Michael Sommer ist bisher nicht dadurch aufgefallen, den DGB aus der Umklammerung durch die SPD-Führung lösen und einen eigenständigen Kurs einschlagen zu wollen, der den politischen und wirtschaftlichen Interessen der breiten Mehrheit der abhängig Beschäftigten Rechnung trägt. Die Politik der DGB-Spitze sowie maßgeblicher Teile der Einzelgewerkschaften war im Gegenteil bisher durch die erfolglosen Versuche charakterisiert, in Kooperation mit der SPD dem Schwinden des eigenen Einflusses durch politisches Lavieren im Schlepptau der SPD Einhalt zu gebieten.[3] Der innergewerkschaftliche Spott, erst komme der „heiße Herbst“ und dann die „Sommer-Pause“, kennzeichnet die gesellschaftspolitische Linie der sozialdemokratisch orientierten Gewerkschaftsführungen seit dem kläglichen Ende des „Bündnisses für Arbeit“ durchaus treffend. Den meißten Gewerkschaftern ist dagegen vollkommen klar, daß es sinnlos ist, den Mund zu spitzen, wenn man nicht auch pfeifen will. Leere Drohungen können sich schon als Problem erweisen, wenn man nur bluffen will; auf Dauer macht man sich damit aber lächerlich, sodaß Sommers Autorität nun kaum noch über die DGB-Zentrale in Berlin hinausreicht. Die Arbeitgeberverbände als direkte Gegenspieler der Gewerkschaften wissen ohnehin, was sie den „Sozialpartnern“ an Opposition zutrauen können, und bewerten die übliche Rhetorik der Gewerkschaftsspitzen intern entsprechend.

Schon ein oberflächlicher Blick auf die gegenwärtige Krisenpolitik zeigt zudem, dass die verschiedenen Fraktionen der politischen Elite und insbesondere die Parteien der großen Koalition in der Analyse der gesellschaftspolitischen Lage in Grundzügen mit dem DGB-Vorsitzenden durchaus einig sind: Die Sicherung des Geldumlaufs und in diesem Zusammenhang die Garantie für die Sparguthaben, die Abwrackprämie, die den industriellen Kern der deutschen Wirtschaft stabilisieren soll, die Verlängerung des Kurzarbeitergeldes sowie die Vermeidung offensichtlicher Rentenkürzungen zielen auf die Aufrechterhaltung des sozialen Friedens und die Vermeidung sozialer Unruhe. Indem die große Koalition der herrschenden politischen Kräfte die Wucht der Krise für breite und zentrale Teile der abhängig Beschäftigten abfedert, wird die Gesellschaft trotz Erosion an den Rändern insgesamt pazifiziert. Noch funktioniert das korporatistische Stillhalteabkommen zwischen den mittleren und großen Unternehmen sowie der Mehrheit der politischen Klasse einerseits und den Betriebs- und Personalräten der großen Konzerne und Verwaltungen, welche die politische Machtbasis der Gewerkschaften bilden, andererseits.

Damit ist auch schon im Wesentlichen umrissen, was inhaltlich mit dem Begriff der „sozialen Unruhe“ gemeint ist: Eine unkontrollierte Erosion der sozialen und politischen Machtverhältnisse, die das gegenwärtige gesellschaftspolitische System in seiner konkreten, d.h. auch in seiner politisch-personellen Konstellation, ins Wanken bringen und die Gefahr einer sozialen Transformation in sich bergen würde. Die Kehrseite einer solchen Entwicklung wäre eine spontane Massenbewegung, die den etablierten Kräften aktiv das Vertrauen entzieht, neue Organisationsformen hervorbringt und/oder sich eine neue Repräsentanz in zwar bereits existierenden, sich aber am Rande des politischen Systems bewegenden Kräften sucht. Das könnten neben Attac sowie Untergliederungen der Gewerkschaften und der Linkspartei vor allem die zahlreichen kleinen und größeren, im außerparlamentarischen Bereich wirkenden Organisationen sein, die mehr oder minder in den radikaldemokratischen respektive sozialistischen Traditionen seit 1968 stehen.

Entscheidend wäre allerdings der allgemeine Charakter des Protests und sozialen Widerstandes; die sozialen Unruhen etwa der späten 60er Jahre und die folgende „Anspruchsinflation“ waren gerade dadurch charakterisiert, dass sie breite Teile insbesondere der jungen Generation sowie alle gesellschaftlichen Institutionen erfaßten; ob Katholikentag, Burschenschaften, Liberale Hochschulgruppen, Großbetriebe oder kleinstädtische Verwaltungen: Überlieferte Überzeugungen und soziale Praktiken wurden mehr oder minder radikal infrage gestellt, und es begann die Suche nach neuen Antworten auf die sich verschärfenden gesellschaftspolitischen Probleme. Eine soziale Unruhe wäre vor allem von Gruppen aus den unteren und mittleren gesellschaftlichen Milieus getragen, und zwar relativ unabhängig von ihrer parteipolitischen Orientierung; im Gegenteil, kennzeichnend wäre gerade die Beteiligung traditionell eher sozial-konservativer, ja selbst autoritärer sozialer Gruppen.[4]

Eine derartige aktive Unmutsbekundung breiter Teile der Bevölkerung in Form von Streiks, Demonstrationen, Betriebs- und Schulbesetzungen sowie der Bildung eigenständiger Komitees in Stadtteilen, Betrieben, Schulen Büros etc. könnten der Anfang einer sozialen Bewegung sein, die sich den gesellschaftlichen Lebensprozess wieder demokratisch aneignet, ein Emanzipationsprozess, den die sozialen und politischen Eliten zu recht füchten, auch wenn sie sich soetwas nicht so ganz vorstellen können.

Teile der SPD, der Grünen, der Linkspartei sowie die Gewerkschaften könnten bei einer solchen Entwicklung die Rolle als Moderatoren und Scharnier in die Institutionen hinein spielen; Eine Koalitionsregierung aus SPD, Grünen und der Linken, die eine sozialökologische Reformpolitik realisiert, wäre – das haben die Ereignisse in Hessen deutlich vor Augen geführt – nur auf Basis der Schubkraft einer breiten sozialen Bewegung möglich. Denn einerseits sind die neoliberalen Kräfte in der SPD und den Grünen nach wie vor tonangebend; zum anderen ist jegliche klassische Reformpolitik, welche die eigenen Ziele ernst nimmt, zum Scheitern verurteilt, solange die öffentliche Meinung fast ausschließlich von neoliberalen Kräften dominiert wird. Und das ist – man halte sich nur die Besitzverhältnisse der meinungsbildenden Medien vor Augen – der Fall, auch wenn es nun infolge der Krise hier und da ein paar kritische Zwischentöne gibt.[5] Für ein sozial-ökologisches Reformprojekt gibt es momentan noch keine machtpolitische Basis. Selbst die früher der Sozialdemokratie nahestehende Frankfurter Rundschau war in Bezug auf eine Rot-Grüne Minderheitsregierung gespalten; teilweise reihte sich ihre Berichterstattung in die äußerst schäbige und partiell sexistische Kampagne gegen die SPD-Spitzenkandidatin Andrea Ypsilanti ein.[6] Das rot-grüne Projekt ist in Hessen maßgeblich von der Bundes-SPD im Zusammenspiel mit dem rechten Parteiflügel der hessischen SPD vor dem Hintergrund einer vom Medienestablishment inszenierten Kampagne gegen Ypsilanti verhindert worden. Es ist in dieser Hinsicht bezeichnend, daß in einem Interview im Deutschlandfunk Klaus Wowereit fast schon penetrant in verschiedenen Variationen nur mit einer einzigen Frage konfrontiert wurde, nämlich ob sich die hessische SPD mit ihrer Absicht, eine von der Linken tolerierten Minderheits-Regierung zu bilden, nicht des Wortbruchs schuldig gemacht hätte. Im Gegensatz dazu hatte die Mehrheit der Medienvertreter keinerlei Probleme damit, ausgerechnet Roland Koch ohne parlamentarische Mehrheit als geschäftsführenden Ministerpräsidenten im Amt zu akzeptieren. Derartige schein-moralischen Kampagnen verfangen natürlich nur vor dem Hintergrund einer weitgehend entpolitisierten Öffentlichkeit.

Die Repolitisierung großer Teile der Bevölkerung im Sinne der Idee der sozialen Demokratie wäre allerdings nur ein Aspekt sozialer Unruhe; gesellschaftliche Umbrüche waren und sind stets auch mit einer Polarisierung nach rechts verbunden. Die Erfolge der NPD seit den frühen 60er Jahren waren ebenso ein Krisenphänomen wie die derzeitige Radikalisierung innerhalb der Neonazi-Szene. Die Formierung einer neuen autoritären politischen Kraft droht jedoch nicht allein von rechtsaußen; der harte Kern des politisch neoliberalen Lagers quer durch die Parteien stellt selbst ein genuin autoritäres Potential dar. Gegen das Sozialstaatsgebot nach Artikel 20 des Grundgesetzes haben breite Teile der politischen und sozialen Eliten eine aktiv-kämpferischen Haltung eingenommen, und weder der fortgesetzte Verfassungsbruch bei militärischen Einsätzen der Bundeswehr außerhalb des Bundesgebiets noch die Abschaffung des Asylrechts und schon gar nicht die sukzessive Einschränkung der Bürgerrechte lassen auf eine tiefe Verankerung demokratischer Grundprinzipien schließen. Wie schnell zudem die neoliberale Ideologie in Zeiten der Krise, die immer auch Zeiten der Erklärungsnot sind, in antisemitische Stereotypen umschlägt, zeigt die Äußerung des Chefs des Ifo-Institus Hans-Werner Sinn, der die Situation von Managern heute mit denen der Juden in der Krise der 30er Jahre verglichen hat. Die neoliberale Ideologie hat einen aggressiven, autoritären Kern, wie Analysen zeigen,[7] der im Verlauf der Krise immer stärker hervortreten wird. Vorschläge aus Kreisen der CDU, ALG-II-Empfängern das Wahlrecht zu entziehen, sind ebenso bezeichnend für die Erosion demokratischen Bewußtseins wie die Tendenz der Medien, diese verfassungsfeindlichen Positionen weiterzuverbreiten. Der Umstand, daß die Bild-Zeitung solche Positionen begierig aufgreift, wäre nicht weiter beunruhigend, wenn das Springer-Flagschiff nicht mittlerweile die Rolle eines Leitmediums bekommen hätte, das selbst für die öffentlich-rechtlichen Sender die Themen setzt.

Der gegenwärtige Aufschwung der FDP in Wählerumfragen belegt, wie groß die Mischung aus Unsicherheit und Aggression in Teilen der bürgerlichen Schichten bereits ist. Diejenigen, die sich um ihr kleines Vermögen geprellt sehen oder deren mittelständische Unternehmen von den mit staatlichen Mitteln agierenden Banken an der kurzen Kreditleine gehalten werden, gehen zwar in Opposition zur großen Koalition und deren auf die Interessen der Großbanken und Großkonzerne abgestellte Krisenpolitik;[8] ihre Opposition muß aber zwangläufig einen marktradikalen, d.h. einen konformistischen Charakter annehmen, da ihre sozialen Interessen sich gleichzeitig gegen die Mehrheit der Lohnabhängigen sowie der BezieherInnen von Transfereinkommen richtet.

Mit dem Begriff der sozialen Unruhen ist also ein Sachverhalt bezeichnet, der in der Sprache der alten Arbeiterbewegung als Verschärfung des Klassenkampfes in der Krise bezeichnet wird: Eine Zuspitzung der sozialen und politischen Widersprüche, die aufgrund ihres antagonistischen Charakters den oberflächlichen Scheinfrieden der bürgerlichen Austauschverhältnisse zerstören. Unter sozialen Unruhen muß man sich also weniger brennende Autos oder die Verwüstung von Finanzämtern vorstellen; derartige Phänomene mögen – wie in Frankreich oder Italien – die Begleiterscheinung sozialer Transformationsprozesse sein; über den Inhalt und die Reichweite einer sozialen Bewegung sagen diese aber nichts aus, eher über die Form, mit denen die herrschenden Kräfte einer solchen Bewegung entgegentreten. Die „friedlichen“ Revolutionen 1989-1991 etwa haben wesentlich weitreichendere Folgen gehabt, auch wenn – sieht man einmal von Rumänien und Russland ab – offene Gewaltanwendung nur eine untergeordnete Rolle gespielt hat. Selbst die Oktoberrevolution hat sich in ihrer entscheidenden Phase derart geräuschlos vollzogen, daß, wie Willy Huhn spottete, die bürgerliche Presse den politischen Umsturz gar nicht bemerkte.[9]

Entscheidend ist der Inhalt einer breiten Massenbewegung, also inwiefern sie sich von der vorherrschenden Deutung der Wirklichkeit und damit von den etablierten politischen Kräften lösen kann und auf die sozial-ökologischen Probleme der Gegenwart eine der komplexen Struktur der heutigen Gesellschaft angemessene Antwort geben kann. Die neoliberal-kapitalistischen Kräfte sind nämlich aus strukturellen Gründen zu einer die sozialökologische Krise überwindenden Politik nur eingeschränkt in der Lage. Am Beispiel der Abwrackprämie, auch wenn sie vom finanziellen Volumen nur einen kleinen Teilaspekt des Konjunkturpakets darstellt, lässt sich aufzeigen, wie sehr die Krisenstrategie der herrschenden Kräfte einzig auf sozialen Machterhalt abgestellt ist: Die außerordentlich schädlichen gesellschaftlichen und ökologischen Folgen des individuellen PKW-Verkehrs sind seit langem bekannt. Eine Steigerung des Automobilverkehrs sowie der Fahrzeugproduktion im Weltmaßstab ist auf Dauer nicht möglich.[10] Stattdessen wäre es notwendig, die Fahrzeugproduktion und den Individualverkehr drastisch einzuschränken, langlebigere Fahrzeuge zu bauen und Teile der Produktionsstätten gänzlich zu schließen oder für neue Zwecke umzustrukturieren. Das ist auf soziale und demokratische Weise freilich nur möglich, wenn gleichzeitig die Arbeitszeit branchenübergreifend drastisch verkürzt und neu verteilt wird. Das setzt nicht nur eine drastische wirtschaftliche Umverteilung von den Profiteuren des bisherigen neoliberalen Systems zur breiten Masse der abhängig Beschäftigten voraus, sondern eine demokratische Neuordnung der Schlüsselbereiche der Wirtschaft.[11]

Die politischen und wirtschaftlichen Eliten fürchten eine derartige Entwicklung freilich zurecht als „feindliche Übernahme“ eines Gemeinwesens, dessen Kontrolle sie als ihr vornehmstes Recht betrachten. Auch wenn wir davon denkbar weit entfernt sind: In Krisenzeiten steigt die Verunsicherung auch bei den Eliten, und zwar aus strukturellen Gründen.[12] Denn einerseits ist ein Mindestmaß an Kooperation zur Stabilisierung des Gesamtsystems notwendig; zudem eint das gemeinsame Interesse, der lohnabhängigen Masse der Bevölkerung die Lasten der Krise aufzubürden. Andererseits versuchen die verschiedenen kapitalistischen Interessengruppen, sich Konkurrenzvorteile zu verschaffen und den Bankrott der „Mitbewerber“ zu nutzen. Der kapitalistische „Naturzustand“ des ökonomischen Krieges aller gegen alle verschärft sich in der besten aller Welten in der Krise, freilich immer unter der Drohung, irgendwann könnte diesem Krieg durch eine Massenbewegung ein Ende bereitet werden. Öffentliche Selbstberuhigung, Durchhalteparolen und aggressive Abwehr, aber auch rhetorische Integration aller Vorstellungen, die den Status Quo kapitalistischer Herrschaft auch nur in Frage stellen könnten, sind daher ein Kennzeichen der Krise.

Die Drohung der „soziale Unruhe“, mag sie auch manchen erschrecken, trägt tatsächlich zur Befriedung der Verhältnisse bei, da sie die Fraktionen der herrschenden Eliten zur verstärkten Kooperation zwingt, eine Kooperation, die sich freilich für die Aufrechterhaltung des Status Quo und gegen die Interessen der Mehrheit der Bevölkerung richtet. Der Bildung von stabilen Regierungen, dem wichtigsten Machtmittel kapitalistischer Krisenpolitik, kommt in einer solchen Phase eine zentrale Bedeutung zu. Die demokratischen Kräfte haben dagegen allen Grund, die Widersprüche im herrschenden Block zu vertiefen, und gleichzeitig durch eine breite Bündnispolitik zu verhindern, daß die staatlichen Gewaltapparate gegen die sozialen Bewegungen und ihre emanzipativen Ansprüche zum Einsatz kommen.

Anmerkungen:

[1]Vgl. Die studentischen Proteste vom Dezember 1997 im Kontext der Klassenkämpfe der 90er Jahre, in: sopos 9/2000 und in: Susanne Schmitt, Marcus Hawel (Hg.): Vom Nutzen der Kritik. Probleme der Studierenden und ihrer Proteste, Hannover 1998, S. 36-48.

[2]To Ethnos v. 6.5.2009.

[3]Die korruptiven Nebenwirkungen dieser politische Linie sind hinlänglich bekannt, von kleineren und größeren Begünstigungen über Einladungen zu Bordellbesuchen oder den Wechsel in lukrative Positionen des Unternehmens, dessen Interessen man schon zuvor gegen die eigene Basis erfolgreich vertreten hat.

[4]Zu den verschiedenen Milieus in der Bundesrepublik vgl. Michael Vester e.a., Die neuen Arbeitnehmer. Hamburg 2007.

[5]Es ist exemplarisch für die gegenwärtige Phase, das ein genuiner Vertreter des freien Marktes wie Paul Krugman nun als wichtigster Kritiker des ungezügelten Kapitalismus dargeboten wird.

[6]Leider sind diese Aspekte in einer ansonsten hervorragenden Analyse nur am Rande behandelt worden: Horst Peter/Mathias Lomb, Mit Programm und Glaubwürdigkeit Wahlen gewinnen. Die Landtagswahlen in Hessen 2008 und 2009. In: Heiko Geiling, Die Krise der SPD. Autoritäre und partizipatorische Demokratie. Münster 2009. S. 197-230. Der ebenfalls in dem Band enthaltene Beitrag von Wolfgang Schröder macht sich dagegen teilweise in der neoliberalen Presse verbreitete Positionen zu eigen, ohne diese als Teil der Auseinandersetzung einer Kritik zu unterziehen. Seine These, die hessische SPD habe nicht ausreichend aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt, wird dadurch etwas schief.

[7]Christoph Butterwegge/Bettina Lösch/Ralf Ptak, Kritik des Neoliberalismus. Wiesbaden 2007

[8] Der Selbstmord des Unternehmers Adolf Merckle ist ein Beispiel, mit welch harten Bandagen die Märkte neu aufgeteilt und die Zentralisierung des Kapitals vorangetrieben werden: Die Banken haben Merckle den Kredithahn zugedreht und damit handlungsunfähig gemacht, nachdem dieser mit VW-Aktien aufs Kreuz gelegt worden war. Im Gegensatz zu den Banken, die sich staatlicher Bürgschaften erfreuen, wurden Merckle staatliche Hilfen des Landes Baden-Württemberg verweigert. Derartige Prozesse hatte Marx mit den Worten charakterisiert, ein großer Kapitalist schlage viele kleine tot.

[9] Willy Huhn, Trotzkis Rolle beim Oktoberumsturz. Pro und Contra Nr. 10/1950, S. 5-9. Die der Revolution folgenden Gewaltexzesse waren, daran sei hier erinnert, in erster Linie der konterrevolutionären Gewalt durch die Weißgardisten sowie die westlichen Interventionsarmeen geschuldet.

[10] Vgl. Athanasios Karathanassis, Naturzerstörung und kapitalistisches Wachstum. Ökosysteme im Kontext ökonomischer Entwicklungen. Hamburg 2003.

[11] Zu dieser Debatte vgl. die Beiträge in: Widerspruch. Beiträge zu sozialistischer Politik. Nr. 55. 2. Hj. 2008.

[12] Die Berichterstattung über die revolutionäre 1.Mai-Demo in Berlin ist dafür bezeichnend: Nichts ist aus Sicht des neoliberalen Bürgertums verwerflicher, als wenn jemand auf einem Plakat verkündet, was ohnehin jeder weiss: „Arbeit nervt“. Entscheidendes Argument gegen jegliche sozio-politische Opposition ist freilich vor allem, diese sei gewalttätig. Folglich kommt es immer wieder darauf an, Gewaltausbrüche auf Demonstrationen zu provozieren oder zu fördern. Die manifeste faschistische Gewalt gegen Gewerkschaftskundgebungen wie in Dortmund ist dagegen nur am Rande erwähnt worden, oder – wie in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung – erst Tage später im Regionalteil – immerhin hatten sich Nazis aus Niedersachen an den Überfällen beteiligt. Will die Linke im weitesten Sinne sich nicht das Etikett der Gewalttätigkeit anheften lassen, sollte sie versuchen die medialen Kategorisierungen unterlaufen: Die Clowns-Armee ist in dieser Hinsicht eine herausragende Erfindung. Für zukünftige Demonstrationen würde ich als Motto vorschlagen: Sinnflut statt Westerwelle.

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sopos 5/2009