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Darwin war kein Sozialdarwinist

von Utz Anhalt (sopos)

Charles Darwin (1809-1882) erkannte, dass Lebewesen sich durch natürliche Zuchtwahl entwickeln. Entstand der Rassismus der Moderne, mit seiner vernichtenden Konsequenz, dem Völkermord der Nazis an den europäischen Juden, auf dem Nährboden von Darwins Evolutionsbiologie? Rassismen sind Konstrukte, nach denen Menschen mit unterschiedlicher Herkunft, Hautfarbe und körperlichen Unterschieden "von Natur aus" in ihrer Intelligenz und ihrer "Zivilisationsfähigkeit" divergieren. Sozialdarwinismus lässt sich im allgemeinen (!) Sprachgebrauch zusammenfassen als Vorstellung, der zufolge das Niederkämpfen des Schwachen durch den Starken in der menschlichen Gesellschaft ein Naturgesetz darstellt. Ist Darwin schuld am Sozialdarwinismus?

Bei Darwin entwickeln sich Arten, die geeignetsten Gruppen und Exemplare setzen sich durch, alte Arten sterben aus und neue entstehen: "surviving of the fittest". Die am besten Angepassten sind nur im jeweiligen ökologischen Kontext (andere Lebewesen, Klima, Boden, etc.) geeignet - nicht allgemein. Der "Kampf ums Dasein" ist im übertragenen, nicht aber im wörtlichen Sinn zu verstehen.

War Darwin aber ein Rassist? Der Begriff Rasse bei Menschen ist bei ihm nicht klar definiert, sondern bezeichnet zum Beispiel auch Berufsgruppen. Er war ein Gegner der Sklaverei und trat nachdrücklich für allgemeine Menschenrechte ein. Darwin kam zu einem Schluss, der den Stereotypen von "Herrenrasse und Untermenschen" entgegen steht: "Wer (...) aufmerksam liest, wird kaum umhin können, einen tiefen Eindruck von der großen Ähnlichkeit zwischen den Menschen aller Rassen (...) zu erkennen." Das aber widerspricht den rassistischen Vorstellungen, nach denen es gerade keine geistigen Ähnlichkeiten zwischen "Schwarzen", "Ariern" und "Juden" gäbe.

Darwin stellte die legitime Frage nach der Abstammung der Menschen und damit auch, ob die Menschen unterschiedliche Arten wären. Diese naturwissenschaftliche Untersuchung war kein politisches Projekt, um Andere zu verfolgen oder abzuwerten, sondern die Suche nach Erkenntnis.

Und hier kam Darwin aus biologischer Sicht zu einem Ergebnis, dass rassistischen Stereotypen widerspricht: "Die große Variabilität der (...) Verschiedenheiten zwischen den Rassen der Menschen weist (...) darauf hin, dass diese (...) von keiner (...) Bedeutung sein können; denn wären sie von Bedeutung gewesen, so würden sie (...) fixiert (...) oder eliminiert worden sein."

Phänotypen der Menschen sind ihm weder "rein" noch bedeutend, sondern biologische Varianten, die "allmählich ineinander übergehen und dass es kaum möglich ist, scharfe Unterscheidungsmerkmale zwischen ihnen aufzufinden."

Den Begriff der Rasse hat Darwin nicht erfunden und nicht zur Festschreibung von Hierarchien zwischen Menschengruppen missbraucht.

Haeckel und der biologistische Rassismus

Die Übertragung der Darwinschen Lehre, oder genauer gesagt, Verzerrungen der Darwinschen Lehre auf Menschengruppen, war ein Mittel, um menschliche Gesellschaften in Hochkulturen und primitive Kulturen aufzuteilen - eine Legitimation für den Kolonialimperialismus. Die Verbindung zwischen Darwins Evolutionsbiologie und vernichtendem Rassismus vollzog der deutsche Zoologe Ernst Haeckel (1834-1919). Haeckel vertrat die Darwinsche Lehre mit der These, der Mensch stamme vom Affen ab. Dabei gäbe es eine Entwicklung vom Affen zum Menschenaffen und weiter vom Affenmenschen zum Menschen. Der Mensch war demnach ein Affe mit großem Gehirn.

Haeckel setzte Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft gleich. Im sittlichen Verhalten jedes einzelnen Menschen müsse sich die Harmonie des natürlichen Kosmos spiegeln. Die Verbindung zur deutschen Romantik wird deutlich. Als vermeintliche Wissenschaft ist diese naturalisierende Esoterik gefährlich: Die Natur kennt weder Menschenwürde noch universelles Menschenrecht, unter "natürlichen Bedingungen" würden Kranke und Körperbehinderte sterben - und tatsächlich bejahte Haeckel dies ausdrücklich.

Seine "Poesie der Natur", diese Einheit von Innen und Außen, zeigt Assoziationen zu Alexander von Humboldts "Erhabenheit des Menschen im Kosmos", Kants "bestirntem Himmel über und dem moralischen Gesetz in mir" und zu Goethes "ewig einem, das sich vielfach offenbart". Haeckel verehrte diese drei Denker, unterschied sich jedoch in einem gefährlichen Punkt: Kant, obwohl selbst Rassist, definierte die Vernunft als dem Menschen und nicht nur einer bestimmten Menschengruppe, Allgemeines. Humboldt setzte sich für universale Menschenrechte ein, die für alle Menschen Gültigkeit haben sollten. Haeckel vertrat hingegen eine Ideologie der biologischen und zugleich intellektuellen Ungleichheit der Menschengruppen, aus der heraus er bestimmten Menschengruppen ihren Lebenswert absprach. Der Adel hatte seine Macht über Jahrhunderte hinweg familiär definiert und aufgeteilt; bei Haeckel gab es jetzt biologischen Adel und biologische Pariahs unter den Menschen.

Darwin hatte sich darauf beschränkt "Naturwissenschaftler" zu sein, während Haeckel Natur- und Kulturgeschichte als von den gleichen Prinzipien ausgehend betrachtete, die Demokratie ablehnte, den Imperialismus und die "germanische Rasse" verherrlichte, Euthanasie an geistig und körperlich behinderten Menschen forderte. Dabei griff er auf kulturelle und soziale Ressentiments und Diskriminierungen zurück, um seine Rassenlehre zu erläutern. Ein Kennzeichen der "Rassen" sollte demnach die Sprache, körperliche Kategorien sollten Haarbildung, Zahnstellung und Schädelform sein. Evolution war für Haeckel eine schöpferische Naturkraft, er verwendete den Begriff Gottnatur. Im Unterschied zu Darwin war ihm Evolution nicht der Übergang von einer Spezies zur nächsten, sondern eine kosmische Kraft, in der die "Menschenrassen" einen Plan erfüllten. Darum forderte er eine scharfe Trennung zwischen diesen Rassen. Vorfahren waren stets gegenwärtig, Kultur und Biologie gleich bedeutend - die "überlegene Rasse" müsste sich durch "Ausmerzung Untüchtiger" stark halten. Prägungen seines nationalistischen Elternhauses, ästhetische Ideale der Romantik, Mittelstandsmoral und Borniertheit im Kolonialimperialismus vermischte Haeckel mit einem vermeintlichen Bezug auf Darwin. Australier und Afrikaner rückte er in die Nähe "niederer Tierarten", die "Germanen" wurden - fast möchte man sagen selbstredend- zur führenden "Menschenrasse".

Kritische Geister wie August Bebel, Franz Mehring und Kropotkin, Anarchisten, Kommunisten, Linke und Liberale bezogen sich auf Haeckel. Für sie war vor allem die Idee des Fortschritts in der Natur interessant, da sich daraus ein gesellschaftlicher Fortschritt ableiten ließ: Die Entwicklung hin vom Kapitalismus zum Kommunismus schien ein Evolutionsgesetz zu sein. Die Reformen vom Feudalismus hin zum Kapitalismus erschienen Liberalen als Naturgesetz.

Bei Darwin allerdings war der Gedanke eines Fortschritts in der Natur marginal und auch die linken und liberalen Ableitungen nicht gerechtfertigt: Erstens ist das "Überleben der Tauglichsten" bei Darwin auf das Leben in der Natur bezogen, nicht auf Gesellschaft, zweitens ist eine Tauglichkeit, die nur im ökologischen Kontext gilt und dazu noch zufällig ist, schwerlich für irgend eine politische Richtung nutzbar.

So sehr Haeckel unbestritten die Zoologie in Deutschland etablierte und die Naturkunde von religiösen Spekulationen befreite, so unbestreitbar war er ein Rassist, genauer gesagt, die Leitfigur des aus der Biologie abgeleiteten Rassismus. Seine "monistische Religion" erscheint in gesellschaftlicher Hinsicht als bürgerlicher Kapitalismus in der Auseinandersetzung mit christlichen Werten: Eigennutz, Körperlichkeit, Nationalismus, die Natürlichkeit von Klassenunterschieden und die daraus folgende Ablehnung von sozialen Fürsorgesystemen.

Haeckel wurde ungemein populär, denn seine Ansichten deckten sich mit denen weiter Teile des deutschen Bildungsbürgertums, die die Unterschichten als "roh" ansahen und eine Rechtsfertigung für den Kolonialimperialismus brauchten, sich aber zugleich nicht auf das Familienprivileg des Adels beziehen konnten. Auf- und Abwertungen von Rassen, völkische Esoterik als Ableitung seriöser Wissenschaft, nämlich der Erkenntnisse von Charles Darwin, passten hervorragend zu einer Bourgeoisie, die sich als treibende Kraft einer expandierenden Industriemacht verstand.

Empirisch ließen sich Haeckels "Rassen" gerade nicht belegen. Deshalb nahm er kulturelle Zuschreibungen zu Hilfe. Sein Lehrer und Kontrahent Virchow hatte bereits 1871 erklärt, dass es im wissenschaftlichen Sinne keine Rassen gibt, sondern dass die "Rassen des Menschen" ein Mythos sind.

Die Nazi-Propaganda vom "lebensunwerten Leben" scheint bei Haeckel durch. Seine Konsequenz war die Forderung nach einer Kommission, die über Lebenswert und Lebensunwert entscheiden sollte. 1900 förderte Haeckel den Arzt Wilhelm Schallmayer, der Haeckels "Rassenhygiene" systematisierte und praktische Anleitungen gab, die eine Säule des Euthanasieprogramms der Nazis darstellen. Mit redlicher Wissenschaft, wie Darwin sie betrieben hatte, hatte Haeckels Zoologie durchaus, sein Rassismus jedoch nichts zu tun.

Von Haeckel zu Hitler

Die harmlose Evolutionsbiologie hatte Haeckel in ein gefährliches Fahrwasser getrieben. Als er 1919 starb, kamen bereits die aus dem Weltkrieg zurück, die rassistische Vernichtungsfantasien nach 1933 in die Tat umsetzten.

Die Rassenfanatiker der Rechten waren allerdings, insbesondere bei den Klerikalfaschisten in Österreich und der katholischen Ustascha in Kroatien, nicht nur Faschisten und Rassisten, sondern auch Kreationisten - also Todfeinde der Darwinschen Lehre.

Hitlers imaginierte eine "Endschlacht zwischen Ariern und Juden". Seine völkische Religion, nach der "die Vorsehung" ihn auserkoren habe, Führer zu sein, übernahm Motive aus der Offenbarung des Johannes und aus Martin Luthers Hetzschriften gegen Juden - verband sich also mit eben den religiösen Schöpfungsmärchen, die die Evolutionsbiologie gerade in Frage stellte. Hitlers Antisemitismus war zum einen von im katholischen Wien kursierender Propaganda wie der des Mönches Lanz von Liebesfels inspiriert, aber auch von Martin Luther, den Hitler als Riesen bezeichnete.[1] Nicht nur der moderne Rassismus, sondern stärker noch die Feindschaft der römisch-katholischen und protestantischen Kirchen gegen die "Christusmörder" verschmolzen im Antisemitismus der Nazis. An der religiösen Judenfeindschaft ist Darwin, wie die gesamte Naturwissenschaft der Moderne und die Aufklärung, gänzlich unschuldig. Am deutlichsten wurde die Verbindung zwischen Faschismus und (katholischer) Kirche im Vernichtungslager Jasenovac, wo katholische Priester zugleich der Ustascha angehörten und orthodoxe Serben, Juden und Roma ermordeten. Wesentliches Element des Nationalsozialismus und insbesondere des katholischen Faschismus der Ustascha waren Vorstellungen, die der Evolutionstheorie und damit der Naturwissenschaft der Moderne, in Todfeindschaft gegenüberstanden und gegenüberstehen.

Die Nazis vereinnahmten den "deutschen Darwin", Ernst Haeckel, der ihnen einen Nährboden geliefert hatte. Der Jenaer Zoologe war kein früher Nazi, aber Haeckels falsche Übertragung der Darwinschen Evolutionsbiologie auf gesellschaftliche Verhältnisse, nicht die Darwinsche Lehre selbst, bot den Nazis einen Anknüpfungspunkt. Charles Darwin war kein Sozialdarwinist und kein Rassist, sondern ein Humanist und Menschenfreund. Darwin ist unschuldig.

Dr. Utz Anhalt ist Redakteur der Sopos und lebt in Hannover. Von ihm ist erschienen (siehe auch unsere Bücherhseite): Tiere und Menschen als Exoten - Die Exotisierung des "Anderen" in der Gründungs- und Entwicklungsphase der Zoos. Dissertation 2007.

Anmerkungen:

[1] Hitlers Interesse an Luther bestand vor allem darin, dass Luther die Juden als den schlimmsten Feind der Christen nach dem Teufel bezeichnet und ihnen gegenüber Maßnahmen wie Tötung und Zwangsarbeit vorgeschlagen hatte.

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sopos 5/2009