von Marcus Hawel (sopos)
Wer sich heute der Meistererzählung einer in der Bundesrepublik seit ihrem Anbeginn »erfolgreich praktizierten Demokratie« widersetzt, kann schnell zum Spielverderber abgestempelt werden. Immerhin schadet er dem »normalisierten« »Standort Deutschland«, dessen symbolisches Kapital maßgeblich von seinem Ansehen in der Welt abhängt.
Aber etwas ist seltsam an dieser Meistererzählung. Sie lenkt ab, zumindest ignoriert sie die gegenwärtige Krise der rechtsstaatlichen Demokratie. Schon deshalb wird die Meistererzählung vom »demokratischen Erfolgsmodell« von den herrschenden Eliten gegen Kritik verteidigt: Sie ist nützliches Vehikel für den Umbau der Gesellschaft, d.h. den Abbau sozial- und rechtsstaatlicher Strukturen, ohne dabei der Hypothek nationalsozialistischer Vergangenheit ins Auge sehen zu müssen.[1]
Oskar Negt bemüht den Vergleich der Gegenwart mit der Krise der späten Römischen Republik: »Cicero spricht für seine Zeit von einer ›res publica amissa‹, also einer verloren gegangenen Republik. Zwar funktionierten die republikanischen Traditionen und Institutionen alle noch, und der Senatus Populusque Romanus verkörperte das Zentrum der Welt. Noch wurde im Senat die Politik Roms diskutiert, und dennoch hatten viele Menschen den Eindruck, dass sich in dieser Zeit eine andere Realität herausbildet. Ein Indiz: Wenn Pompeius oder Caesar in den Senat kamen, hat kein anderer mehr das Wort ergriffen. Die Rhetorik der Senatoren verschwand zunehmend aus dem politischen Geschehen, was Cicero sehr genau als Zweiteilung der politischen Wirklichkeit Roms registrierte – in eine offizielle Wirklichkeit und eine darunter, die sich schon nach ganz anderen Mustern und politischen Ritualen in Richtung Prinzipat organisierte und damit letztlich auf die Abschaffung der republikanischen Institutionen hinauslief.«[2]
Eine vergleichbare »Gefahr unterschwelliger Verschiebungen im demokratischen Gefüge«, wie Negt es nennt, existiert auch heute, so dass sich etwas Ähnliches mit dem demokratischen Rechts- und Sozialstaat als spezifische Ausgestaltungsform westlicher Demokratie wiederholen könnte. Die Virulenz einer »zweiten, unterschwelligen gesellschaftlichen Realitätsschicht«[3], in der sich die herrschenden Eliten von der Demokratie zusehends verabschieden und die Praxis sowie die Mentalität eines autoritären Staates annehmen, ist jedenfalls auch heute zu erkennen.
Der Kölner Staatsrechtler Otto Depenheuer, dessen Streitschrift Selbstbehauptung des Rechtsstaates vom Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble in Bezug auf die Sicherheitspolitik im Kampf gegen die Bedrohung durch den globalen Terrorismus als Lektüre empfohlen wird,[4] argumentiert zum Beispiel in der Tradition von Carl Schmitt und fordert ein so genanntes »Feindstrafrecht«, das jederzeit gegen Personen angewandt werden soll, die »die politische Existenzform der verfassten Gemeinschaft aktiv negier[en], die Verfassung des Staates gewaltsam verändern [wollen]«[5]. Als »Feinde« hätten diese »Unpersonen« ihre bürgerlichen Rechte verwirkt, da sie sich gegen die geltenden Rechtsnormen wenden: »Verfassungstheoretisch hat er [der Feind; MH] keinen Anspruch, nach Maßgabe der Rechtsordnung behandelt zu werden, die er bekämpft. Und er hat diesen Anspruch deswegen nicht, weil er sie bekämpft.«[6] Die Logik dieser Argumentation läuft auf den von Ernst Fraenkel so bezeichneten »Doppelstaat«[7] hinaus, der auf seinem Territorium Internierungslager oder Konzentrationslager kennt, in denen die Normen des Rechtsstaates außer Kraft gesetzt und die Insassen der staatlichen Willkür ausgesetzt sind (»Maßnahmenstaat«).
Nach derselben Logik haben die USA das Gefangenenlager Guantánamo eingerichtet. Depenheuer schreibt: »der Feind ist die Negation des Bürgers im status civilis, er steht als Mensch außerhalb des Gesellschaftsvertrages, aus ihm kann er keine Rechte für sich herleiten. Der Feind ist verfassungstheoretisch nicht Rechtsperson, die das geltende Recht prinzipiell achtet, sondern Gefahr, die um der Rechtsgeltung willen bekämpft werden muss.«[8] Die Bekämpfung des »Feindes« rechtfertige demnach Mittel der Rechtlosigkeit: »Phänomenologische Chiffre für die Rechtlosigkeit des Feindes und Maßgeblichkeit reiner Staatsräson steht ›Guantanamo‹ als ein Ort, an dem Recht solange suspendiert ist, wie die Gefahr andauert. Die Gefangenen haben hier nicht den Status von Rechtssubjekten, sie haben nur noch ihr ›nacktes Leben‹.«[9]
Selbst das »nackte Leben« steht bei Depenheuer, der wiederum konsequent dem Gedankengang von Carl Schmitt folgt, zur Disposition, d.h. unterliegt der Willkür eines rechtlich nicht mehr gebundenen Maßnahmenstaates: »›Feinde bestraft man nicht. Feinde ehrt und vernichtet man‹.«[10] Was der Rechtsgelehrte Depenheuer unter Ehrung und Vernichtung versteht, bleibt unmissverständlich: physische Liquidation. Zynisch nimmt sich dieser argumentative Angriff gegen die gebotene Unverletzlichkeit der menschlichen Würde gemäß Art. 1 GG, wenn Depenheuer die würdelose Behandlung des Feindes als Ausdruck der Anerkennung seiner Würde hinstellt: »Indem der Feind außerhalb des Rechts gestellt wird, liegt gar eine Anerkennung seiner Würde: der Terrorist wird als Überzeugungstäter ernst genommen und gerade deswegen als Gefahr für die staatlich verfasste Gemeinschaft bekämpft.«[11]
Immerhin räumt Depenheuer ein, dass das »Feindrecht als reines Gefahrenabwehrrecht« auf Prognosen beruhe, die sich auch als falsch erweisen können, so dass der Fall mitbedacht werden müsse, »dass der vermutete Feind keiner ist, die Gefahr, die von ihm auszugehen scheint, in Wahrheit nicht existiert«[12]. Insofern bestehe eben diese einzige Ausnahme im Hinblick auf die Rechtlosigkeit im Vergleich zur »rechtsstaatlichen Normallage«, dass der Staat »dem terrorverdächtigen Feind also jedenfalls ein subjektives Recht zugestehen [müsse], nämlich auf gerichtliche Klärung seines Status: als feindlicher Terrorist oder als bürgerlicher Verbrecher«[13]. Da mit aller Wahrscheinlichkeit aber bereits die maßnahmenstaatlichen Repressionen gegen den vermeintlichen »Feind« eingeleitet und diese gegebenenfalls bis zur physischen Vernichtung vollzogen wurden, bevor der »terrorverdächtige Feind« ein Gericht zur Klärung seines Rechtsstatus anrufen konnte, bleibt diesem dann nur noch die Möglichkeit der Rehabilitierung post mortem. Der Rechtsgelehrte Depenheuer würde dies entweder indirekt unter »Bürgeropfer«[14] oder direkt unter »Kollateralschaden«[15] verbuchen.
Nach Ansicht von Depenheuer, befinde sich der Staat durch die globale Bedrohung bereits in einem permanenten Ausnahmezustand, der das Kriegsrecht geltend macht und die »rechtsstaatliche Normalität« suspendiert, bzw. beide – »Normalität und Bedrohung verschmelzen: Normalität der Bedrohung ist bedrohte Normalität. Rechtssystematisch kann dieses Ineinandergreifen von Normal- und Ausnahmelage als gleichzeitige Geltung von Friedensrecht und Ausnahmerecht erfasst werden. Beide Rechtsregime gelten parallel nebeneinander.«[16] Mit anderen Worten, der Notstand soll nicht mehr in dem Sinne ausrufbar sein, dass er den Normalzustand außer Kraft setzt, sondern »die Ausnahme etabliert sich gleichsam latent neben dem Recht der Normallage und kann jederzeit Wirksamkeit entfalten«[17], ohne »von der einen großen Entscheidung über die Feststellung der Ausnahme«[18] gemäß Art. 115a GG formal abhängig zu sein. Das sei notwendig, da es sich im Kampf gegen den Terrorismus um eine asymmetrische Bedrohung und Kriegsführung handele (der Terrorismus verzichte z.B. auf eine Kriegserklärung und sei nicht zu verorten, befinde sich bereits im Landesinneren und begehe keinen feindlichen Grenzkonflikt) und demzufolge sich die für den herkömmlichen Verteidigungsfall vorgesehene Wehrverfassung als unbrauchbar erweise: »Gilt das Recht der Ausnahme hintergründig neben dem Recht der Normallage, kann auch die Entscheidung über die Ausnahme nicht mehr in der einen ›großen‹ zentralen, alle Rechtsbereiche betreffenden Entscheidung über den Ausnahmezustand fallen; sie vollzieht sich vielmehr im Einzelfall nach Maßgabe konkreter Bedrohungslagen.«[19]
Die Entscheidung über den Ausnahmezustand soll also, wenn es nach dem Rechtsgelehrten Depenheuer geht, im Sinne eines »präventiven Sicherheitsstaates« nicht mehr vom Bundestag mit Zustimmung des Bundesrates gemäß Art. 115a GG allgemein und generell erfolgen, sondern individualisiert, personenbezogen und im Einzelfall. Demgemäß sollen die »exekutiven Staatsorgane im jeweiligen terroristischen Gefahrenfall nach Gefahrenabwehrkriterien über die Art der Bedrohung und die Form der Gefahrenabwehr entscheiden: Störung in der Normallage oder Angriff auf die Normallage. Die Entscheidung über die militärische Antwort auf einen terroristischen Angriff beinhaltet juristisch die Qualifikation der Gefahr als Ernstfall.«[20] In der Fußnote heißt es lapidar: »Die Kriterien der Entscheidungsfindung und –kontrolle bedürfen in diesem Rahmen keiner näheren Darlegungen, hat doch das allgemeine Polizeirecht mit den Rechtsfiguren der Anscheins- und Putativgefahr handlungsleitende Kriterien entwickelt.« Dieser Einzelfall würde dann also von der Polizeigewalt entschieden werden. Damit erhielte nach Depenheuer die Polizei entscheidende Exekutivbefugnisse, könnte selbstständig Grundrechte außer Kraft setzen, verhaften und internieren, hätte gleichsam einen ähnlichen Spielraum wie die Geheime Staatspolizei (Gestapo) im »Dritten Reich«.
Depenheuer nennt das die »Selbstbehauptung des Rechtsstaates«, tatsächlich aber entspricht diese Argumentation antirechtsstaatlichen, gleichsam totalitären Geistes. Der Rechtsgelehrte redet wie Carl Schmitt zu seinen schlimmsten Zeiten als Parteigänger der Konservativen Revolution und geistiger Wegbereiter des Nationalsozialismus dem puren Dezisionismus das Wort: »Wo die Ausnahme beginnt, vermag die Regel der Normalität nicht mehr zu greifen. Die Tatbestandsmäßigkeit des positiven Rechts läuft leer, und die Souveränität der Tat tritt an ihre Stelle: ›Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet‹.«[21] Mit anderen Worten: Die Souveränität des Volkes, bzw. des Parlamentes, würde auf die Polizei übergehen. Zu klassifizieren wäre ein solcher Staat nicht mehr als rechtsstaatliche Demokratie, sondern als Polizei- oder »Sicherheitsstaat«.
Flankiert wird dieses Plädoyer mit einer radikalen und nihilistischen Kritik am Bundesverfassungsgericht, dem der Rechtsgelehrte Depenheuer »wirklichkeitsblinden und letztlich verantwortungslosen Verfassungsautismus«[22] vorwirft, weil es dezidiert an den rechtsstaatlichen Normen festhält und in Hinblick etwa auf den Abschuss von zu terroristischen Zwecken gekaperten Passagierflugzeugen eindeutige juristische Antworten (Verbot) gegeben hat. Deshalb werde das Bundesverfassungsgericht angesichts der terroristischen Bedrohung selbst zum Problem: »Diese klare juristische Antwort des Bundesverfassungsgerichts, nicht die theoretisch auch mögliche Nicht-Antwort des Rechtsstaats, ist das Problem.«[23] Das Bundesverfassungsgericht verschärfe mit seiner rechtsstaatlichen Rechtssprechung die »rechtliche Asymmetrie im Kampf gegen den Terror«, was gleichbedeutend sei mit »einer Einladung an Terroristen (...), ihre Terrortaten künftig in Deutschland mittels unschuldiger Geiseln zu planen und umzusetzen«[24]. »Blamabler« könne sich mithin der »Rechtstaat vor der Frage nach seiner Selbstbehauptungsbereitschaft nicht aus der Verantwortung stehlen.«[25]
In Depenheuers Kritik am Bundesverfassungsgericht gerät Art. 1 GG ins Zentrum seines Angriffes auf den Rechtstaat. Die fundamentalnormenrechtliche Unantastbarkeit der menschlichen Würde führe, so der Rechtsgelehrte, »zum absoluten Reflexions- und Handlungsstopp staatlicher Selbstbehauptung«[26]. Art 1 GG wird daher zur »Sollbruchstelle«[27] im Kampf um die konservative Deutungshoheit und Selbstbehauptung des Staates gegen die vom Bundesverfassungsgericht angeblich vorgenommene, lähmende »Judifizierung des Politischen«[28]. Dagegen bringt Depenheuer den Dezisionismus in Anschlag, d.h. er befürwortet den Ausbruch durch die legal nicht abgesicherte »Tat«, die darum aber legitim erscheine: »Diese Perversion des Rechtsdenkens darf als Verrat an den Ideen und Werten freiheitlicher Verfassungsstaatlichkeit bezeichnet werden; sollten zu deren Erhaltung die Bürger tatsächlich weder Willen noch Mut haben, dann werden die historischen Kämpfe für ihre verfassungsrechtliche Etablierung vergeblich gewesen sein.«[29]
Depenheuer schreckt auch nicht davor zurück, all jenen eine sinnlose Existenz zu bescheinigen, die Mut, d.h. Tatendrang und die von ihm eingeforderte Bereitschaft, sich für die Selbstbehauptung des Staates aufzuopfern, nicht aufbringen: »Wer sein leben (...) für nichts zu opfern bereit ist, sondern unter allen Umständen nur leben will, der hat buchstäblich nichts, wofür sich zu sterben lohnte; der ›läuft Gefahr, ein Niemand zu sein: Er hat nicht Charakter, sondern nur Wünsche, Bedürfnisse und Begierden‹.«[30] All jenen, die Depenheuers Opferbereitschaft zumindest abstrakt teilen, spricht der Rechtsgelehrte »Würde« zu und kehrt damit das begriffliche Schutzverhältnis in Art 1 GG diametral um, wonach dann dem Staat abstrakt Würde zukommt, dessen Sorge um die Unantastbarkeit zur ersten Bürgerpflicht geworden ist. Insofern erscheint nach Depenheuers Rabulistik plötzlich das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Luftsicherheitsgesetz als ein Verstoß gegen die Unantastbarkeit der Würde: »das Gericht nimmt den dem Tode geweihten unschuldigen Passagieren die letzte ihnen verbliebene Würde, sich für die Gemeinschaft in einer Situation äußerster und auswegloser Gefährdungslage aufzuopfern.«[31]
Gegen den vermeintlichen »Verfassungsautismus« des Bundesverfassungsgerichtes, der für den deutschen Staat ein Sicherheitsrisiko darstelle, müssten, so Depenheuer, »andere die Drecksarbeit der Selbstbehauptung rechtsstaatswidrig erledigen«[32]. In die Rechtfertigung dieser vermeintlich notwendigen »Drecksarbeit«, schließt der Rechtsgelehrte Depenheuer auch die von ihm so genannte »rechtstaatlich domestizierte[] Folter«[33] mit ein. Aber nicht nur Depenheuer rechtfertigt verfassungsrechtlich die Anwendung von Folter nach »Abwägung von Sicherheitsbedürfnissen und Freiheitsansprüchen«[34]; er ist nur einer der schrillsten von jenen, die in diesem Konzert mitsingen. Der Verfassungsrechtler in Göttingen und Richter am niedersächsischen Staatsgerichtshof Christian Starck rechtfertigt in seinem als renommiert geltenden Grundgesetzkommentar die Folter.[35] Ebenso der Heidelberger Staatsrechtler Winfried Brugger[36] sowie indirekt der Würzburger Staatsrechtler Horst Dreier;[37] der freilich nur abstrakt davon spricht, dass der Schutz der Menschenwürde den Rechtsgedanken rechtfertigender »Pflichtenkollision« in der Abwägung zwischen der Verletzung der Würde des Täters und der Opfer nicht a priori ausschließen dürfe. In der Fußnote 437 verweist dann aber Dreier auf eine Schrift seines Assistenten Fabian Wittreck[38], in der dieser wiederum eine »präventivpolizeiliche Folter« in bestimmten Situationen für gerechtfertigt hält. Dreier wurde von der SPD als Richter für das Bundesverfassungsgericht nominiert und sollte nach zwei Jahren dessen Präsident werden. Die CDU hatte sich dagegengestemmt, allerdings hauptsächlich wegen dessen Plädoyer für eine Lockerung des Embryonenschutzes in der Forschung. Diese noch wenigen, sehr wohl aber einflussreichen Juristen beziehen ihre Argumente aus den USA, wo man in der Debatte um die Legalisierung von Folter schon etwas weiter fortgeschritten ist – etwa von dem linksliberalen Anwalt und Professor in Harvard Alan M. Dershowitz[39] – und nennen es beschwichtigend »Rettungsfolter«, »Anwendung unkonventioneller Methoden« oder »robuste Befragungsmethoden«. Es bleibt aber, was es ist: verfassungs- und menschenrechtswidrige Folter.
In der liberalen Presse findet solcher Angriff auf das rechtsstaatliche Denken wichtigen Widerspruch. Der Kulturkorrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Heinrich Wefing schreibt in der Zeit: »Derlei Gedanken [die Rechtfertigung von Folter; MH] vermögen offenbar eine erstaunliche Sogkraft zu entwickeln. Aber sie führen zuverlässig nur in eine Richtung – in die Irre. Denn das Recht lebt nicht davon, dass es noch die letzte Extremsituation regelt. Es ist kein geschlossenes mathematisches System, das für jedes Problem eine Lösung parat haben muss. Das Recht lebt vielmehr von vernünftigen Maßgaben für das alltägliche Zusammenleben. Wichtiger als die juristisch perfekte Lösung für die raffiniert ersonnenen Szenarien mit den tickenden Bomben ist die Achtung vor den Grundprinzipien des Rechtsstaats. Und die bleiben eher gewahrt, wenn ein Einzelner, sollte der Extremfall doch einmal eintreten, das Recht bewusst bricht, als wenn der Rechtsbruch im Vorhinein legitimiert wird. ›Eine Gesellschaft‹, hat unlängst der Karlsruher Verfassungsrichter Udo Fi Fabio geschrieben, ›sollte sich nicht hysterisch in eine `Not-Wendezeit´ hineinreden, in der jedes Mittel recht scheint, um zu überleben.‹ Furcht ist der denkbar schlechteste Gesetzgeber. Und es spricht Bände über die deutsche Neigung zur Hysterie, dass hierzulande manche die Folter ohne Not zu legitimieren versuchen, nach sechzig Jahren Frieden und Wohlstand, beim ersten Vorschein einer neuen Bedrohung.«[40]
Selten sind sich viele so einig, dass hier der demokratische Rechtsstaat in seinem Wesensgehalt, das ist die Fundamentalnorm in Art. 1 des Grundgesetzes, wonach die Würde des Menschen unantastbar ist, angegriffen wird. Alle Normen des Staates und der Gesellschaft haben dieser Fundamentalnorm zu entsprechen; Wefing stellt deshalb korrekt fest: »Der Staat, der foltert, ist kein Rechtsstaat mehr.«[41]
Es ist beängstigend, dass der Bundesinnenminister Schäuble in dem Rechtsgelehrten Depenheuer einen Stichwortgeber gefunden hat. Minister Schäuble plädiert nicht nur dafür, Aussagen, die unter Folter zustande gekommen sind, strafrechtlich zu verwenden. Er steht für die gezielte Tötung von Terroristen, für den Abschuss von gekaperten Flugzeugen, die für einen Terroranschlag verwendet werden könnten, für Unterbindungsgewahrsam für »Gefährder«, Handy- und Internetverbot für potentielle Terroristen. In allen seinen provozierenden Vorschlägen setzt er sich für die Abschaffung der rechtsstaatlichen Norm der Unschuldsvermutung ein. Der Bundestagsabgeordnete Frank Hofmann (SPD) schreibt in der Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft deshalb völlig zutreffend: »Legt man diese Ansichten [des Rechtsgelehrten Depenheuer; MH] zu Grunde, werden manche von Schäubles Entgleisungen erklärbar. Der Tenor von Schäubles Aussagen ähnelt sich stets: Der Rechtstaat ist der Bedrohung des internationalen Terrorismus nicht mehr gewachsen. Schäuble möchte deshalb den Rechtsstaat mitsamt seinen Grundrechten und Verfahrensgarantien abbauen und schleifen!«[42]
Es passt insofern zu diesem Minister eine Äußerung, mit der er bereits 1996 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung dafür warb, weniger Demokratie zu wagen: Die Verfassung sei »immer weniger das Gehege, in dem sich demokratisch legitimierte Politik frei entfalten«[43] kann, sondern vielmehr die Kette, die den Gestaltungsspielraum von Politik lahm legt. Das Bundesverfassungsgericht sei daran schuld.
Es ist notwendig, Schäubles Sicherheitspolitik Alternativen argumentativ entgegenzusetzen und seine Ordnungspolitik in die rechtsstaatlichen Schranken zu verweisen. Dies gelänge aber umso besser, wenn man sich die überlieferten und im Verborgenen liegenden Konfliktlinien klarer macht, an die Schäuble und seine Mitstreiter bewusst oder unbewusst anknüpfen. Schäuble ist ein Parteigänger der »konservativen Revolution«[44], die bei ihm in Form eines Autoritarismus im rechtsstaatlichen Gewand in Erscheinung tritt. Darauf wurde der Politikwissenschaftler Jürgen Seifert bereits 1994 aufmerksam, als er sich mit Schäubles Buch Und der Zukunft zugewandt auseinandersetzte.[45] Seifert stellte fest, dass Schäuble den Soziologen Hans Freyer, der 1931 die »Revolution von rechts« als »Inhalt der Zeit«[46] gerechtfertigt hatte, zum Paten seines 1994 veröffentlichten Buches Und der Zukunft zugewandt gemacht hatte: »Zwar fällt bei Schäuble der Name Hans Freyer nicht; aber Freyers Formel ›Entschluss zur Zukunft‹, wird zum ›Mut zur Zukunft‹ und Freyer-Schüler Arnold Gehlen und der Jurist Ernst Forsthoff werden von Schäuble zitiert als Beleg für seine – in der Suche nach einer anderen Republik – aufbrechenden Klage: ›Wir haben zuwenig Staatsgesinnung.‹ Schäuble polemisiert gegen ›Verfassungspatriotismus‹ und setzt dagegen ›nationale Identität‹, ›Verantwortung für das Ganze‹ und ›Dienst an der Gemeinschaft‹.«[47]
Darüber hinaus konstatierte Seifert in der christdemokratischen Regierungspraxis, für deren Schäubles autoritärer Konservatismus pars pro toto steht, eine Apologie des Schmittschen autoritativen Dezisionismus, der sich über eine verfassungsrechtlich konforme, rechtsstaatliche und demokratische Verfahrenspraxis hinwegsetzt, sich selbstherrlich als tatkräftige und entscheidungswillige Exekutive inthronisiert, die über den Ausnahmezustand verfügt und damit sich nach Carl Schmitts politischer Theologie als der eigentliche Souverän begreift.
Für Seifert war bereits im Zuge des deutschen Einigungsprozesses nach Art. 23 GG die Hinwegsetzung über die Verfassungsnorm gemäß Art. 146 GG, also der Vollzug eines Anschlusses ohne gemeinsame Beratung und Schaffung einer gesamtdeutschen Verfassung, die abschließend der deutschen Bevölkerung zur Abstimmung vorgelegt wird, ein deutliches Zeichen für ein neuerliches Erstarken des Dezisionismus.[48] Im EU-Integrationsprozess kam dann dieser zu seinem vorläufigen Höhepunkt: »Seit Jahren polemisieren konservative Staatsrechtler und Politiker gegen Staatszielbestimmungen und setzen diese mit sozialen Grundrechten (die für sie vom Teufel sind) gleich. Wenn es aber darum geht, den Vertrag von Maastricht verfassungsrechtlich abzusichern und eine negative Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu verhindern, dann wird das Teufelswerk Staatszielbestimmung wieder geheiligt. Neben der umstrittenen Verbesserung der Position der Länder gegenüber dem Bund ist die Staatszielbestimmung zu Europa im neuen Art. 23 die einzig relevante Veränderung des Grundgesetzes.«[49]
Man wird Schäuble allerdings nicht als absoluten Gegner der Demokratie bezeichnen können. Was allerdings Schäuble unter »Demokratie« versteht, ist beschränkt, »dass Bürgerinnen und Bürger alle vier Jahre einmal zur Wahlurne gehen dürfen«[50] und ansonsten soll ihnen die Kontrolle der herrschenden Eliten, die größtmögliche Handlungs- und Entscheidungsfreiheit genießen sollen, weitgehend entzogen sein. Insofern ist Schäubles autoritäres Ordnungsdenken eine modifizierte Form der »konservativen Revolution«. Seifert fasst die Modifizierung programmatisch zusammen: »Die Rückbesinnung Schäubles auf Denker aus dem Kreis der ›konservativen Revolution‹ versucht, die machtpolitische und die staatstheoretische Westanlehnung auseinander zu dividieren. Schäuble plädiert für Westanlehnung und Europa, aber zugleich für Autoritäten, für Dienst an der Gemeinschaft und Staat, für Entscheidung und für weniger Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Mitwirkung gesellschaftlicher Kräfte. Dagegen steht das Konzept, das an dem festhält, was entscheidend zur politischen Entwicklung der Bundesrepublik beigetragen hat: die Unabdingbarkeit von Demokratie, Grundrechten und Rechtsstaatlichkeit sowie der Versuch, gegenüber dem Übermaß an Staatlichkeit das zu entwickeln, was heute als ein Mehr an ›Zivilgesellschaft‹ bezeichnet wird.«[51]
Nach den terroristischen Anschlägen vom 11. September 2001 in den USA hat der Dezisionismus des Konservatismus, wie ihn Schäuble und auch der Bundesverteidigungsminister Franz Josef Jung repräsentieren, eine neue Qualität bekommen. Nunmehr nutzen Schäuble und Jung die Bedrohung durch den globalen Terrorismus aus, um Sicherheitsängste zu schüren, so dass ein gesellschaftliches Klima der Bereitschaft entsteht, rechtsstaatliche und demokratische Standards zugunsten von vermeintlich mehr Sicherheit zu reduzieren. Auf diese Weise lässt sich das autoritäre Ordnungsdenken der konservativen Revolution durchsetzen und zugleich seinen antidemokratischen Charakter verschleiern, indem der Fokus auf »Sicherheit« statt auf »Ordnung« gelegt ist. Faktisch läuft Sicherheit zwar auch auf Ordnung hinaus, nur lässt sich auf diese Weise wie der Rechtsgelehrte Depenheuer verklausuliert von der »Selbstbehauptung des Rechtsstaates« sprechen, wo es doch um dessen Zerstörung und Ersetzung durch den Dezisionismus geht.
An Minister Jung lässt sich die fortgeschrittene Entwicklung des Dezisionismus am deutlichsten aufzeigen. Er hatte im September 2007 in einem Interview für den Focus verlautbaren lassen, er werde ein von Terroristen entführtes Flugzeug, das womöglich für einen terroristischen Anschlag missbraucht werde, abschießen lassen, trotz klaren Urteilsspruchs des Bundesverfassungsgerichts, das einen solchen Abschussbefehl für verfassungswidrig erklärte: »Wenn es kein anderes Mittel gibt, würde ich den Abschussbefehl geben, um unsere Bürger zu schützen. Das ist nach meinem Verständnis eine wichtige Staatsaufgabe.«[52] Schäuble hatte einen Tag zuvor in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung die Angststimmung dermaßen angeheizt, in dem er, ohne einen konkreten Beweis zu liefern, von der Wahrscheinlichkeit eines atomaren Anschlags durch Terroristen in Deutschland sprach.[53] Jungs Interview im Focus konnte dann in dieser gezielten Stimmung placiert werden und seine Wirkung entfalten.
Da es Schäuble und Jung offensichtlich mehr um die autoritäre Ordnung als um Sicherheit geht und sie die terroristische Gefahr instrumentalisieren, müssten sie immanent auch an ihren Bezügen zur »konservativen Revolution« gestellt werden,[54] um der Öffentlichkeit zu erhellen, welch große Gefahr für die rechtsstaatliche Demokratie von ihnen ausgeht.
Es wäre aber verfehlt, davon auszugehen, dass man nur die Minister Schäuble und Jung zum Rücktritt zwingen müsste, um die Prinzipien des demokratischen Rechtsstaates zu retten. Denn ihr Denken markiert eine grundlegende ideologische Neuorientierung breiter Teile der gesellschaftlichen Eliten auf staatspolitischem Gebiet. Der antidemokratische Geist, der den Kern der neoliberalen Ideologie ausmacht, hat breite Teile der gesellschaftlichen und staatlichen Institutionen ergriffen.[55]
Die gegenwärtigen gesellschaftlichen Entwicklungen geben Grund zu der Annahme, dass sich das bestehende demokratische Rechtssystem für die politisch und ökonomisch Herrschenden zunehmend als formelle Schranke, als unbequeme Fessel ihrer Gewaltausübung erwiesen hat, so dass die rechtsstaatlichen Normen samt der damit verbundenen politischen Grundrechte der Menschen von den Herrschenden missachtet oder sogar niedergerissen werden. »Immer dann, wenn die demokratische Legalität bei der Aufrechterhaltung antagonistischer Gesellschaftsstrukturen zur Fessel wird, kommt die Stunde der Theorien von Carl Schmitt.«[56] An die Stelle des verbindlichen Rechtssystems tritt dann zunehmend Willkür und das Recht der herrschenden Klasse, gleichsam das ökonomische Faustrecht des Stärkeren. Insofern ist es zutreffend, von einer schleichenden Suspendierung des demokratischen Rechtsstaates zu sprechen bei gleichzeitig zunehmender rechtlicher Verankerung des Wirtschaftsliberalismus – auch im EU-Vertrag. Die sukzessive Verwässerung der sozialen und politischen Grundrechte führt in den autoritären Staat, der die kapitalistische neoliberale Wirtschaftsordnung gegen sozial-emanzipative Interessen und Bedürfnisse der Lohnabhängigen oder sozial Abgehängten verteidigt und sich dabei an den Wirtschaftsliberalismus anpasst. Das ist kein Widerspruch. Oskar Negt hat bereits in den 1980er Jahren geschrieben: »Wirtschaftsliberalismus und autoritärer Staat schließen sich nicht aus, sondern bedingen einander.«[57]
Die Morbidität des demokratischen Rechtsstaats ist deutlich zu spüren. Es wird aber auch von kritischen Stimmen an die Grundlagen eines Rechts- und Sozialstaat erinnert und darüber nachgedacht, wie man die »vergessene Freiheit« zurückerlangen bzw. den Rechtsstaat sichern kann.[58]
Es wird höchste Zeit, dass eine gesellschaftliche und politische Opposition den rechtsstaatlichen Institution, insbesondere dem Bundesverfassungsgericht den Rücken stärkt, die Normen des Grundgesetzes sich aneignet und die Verfassung wieder belebt, d.h. der neoliberalen Hegemonie das Rückrad bricht.
Die Analyse der Entwicklung von Gesellschaftssystemen zeige, so der Marburger Politik- und Rechtswissenschaftler Wolfgang Abendroth, »dass es viel wahrscheinlicher ist, dass die Demokratie nicht von ›unten‹, sondern von ›oben‹, durch die Organisation des Staates selbst, gefährdet oder aufgelöst wird«[59]. Auch Theodor W. Adorno hatte diese wahrscheinlichere Option im Blick, als er in seinem Essay Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit? das »Nachleben des Nationalsozialismus in der Demokratie« als gefährlicher für die Demokratie hinstellte als das Aufkommen einer neofaschistischen Bewegung.[60] Die gegenwärtigen, nach Johannes Agnoli als »Involution« zu bezeichnenden politischen Transformationsprozesse zeigen, dass die Gefahr eines autoritären Staates, der »von oben« eingeführt wird, virulent ist. Agnoli nannte dies eine »Involutionstendenz zu einem autoritären Staat rechtsstaatlichen Typus«[61].
Die herrschenden Eliten leugnen diese Erosionskrise des demokratischen und rechtsstaatlichen Gefüges. Sie warten stattdessen mit Meistererzählungen von der erfolgreich praktizierten Demokratie auf, aus denen ein auffälliges Legitimationsbedürfnis zum Zwecke ihres eigenen Machterhaltes sich aufdrängt.
Der liberale Bürgerrechtler Burkhard Hirsch brachte im Mai 2007 in der Süddeutschen Zeitung auf den Punkt, was angesichts der Erosionskrise des demokratischen Rechtsstaates mehr und mehr auf die politische Tagesordnung gelangen müsste: »Die Zeit freundlicher Kritik und ständiger Mahnung, bei der Terrorismusbekämpfung Augenmaß zu wahren, geht zu Ende. Nun ist Widerstand geboten. Unter der neuen ›Sicherheitsarchitektur‹, die der Innenminister Schäuble plant, verbirgt sich die Verwandlung der Bundesrepublik in einen Überwachungsstaat.«[62]
[1] Wie umfangreich diese Hypothek auf der politischen Kultur der Nachkriegsgesellschaft lastet und sich auf die Handlungsbereiche von Politik, Öffentlichkeit, Justiz, Wissenschaft und Kultur auswirkten und bis heute auswirken, lässt sich eindrucksvoll diesem jüngst erschienenden Sammelband entnehmen: Erfolgsgeschichte Bundesrepublik? Die Nachkriegsgesellschaft im langen Schatten des Nationalsozialismus, hrsg. v. Stephan Alexander Glienke, Volker Paulmann, Joachim Perels, Göttingen 2008; siehe auch Joachim Perels: Entsorgung der NS-Herrschaft? Konfliktlinien im Umgang mit dem Hitler-Regime, Hannover 2004; ders.: »Der Mythos von der Vergangenheitsbewältigung. Die rechtliche Aufarbeitung von Hitlers Verbrechen ist überwiegend gescheitert oder folgte sogar der Logik des NS-Rechts«, in: Die Zeit vom 26.1.2006, S. 51.
[2] Oskar Negt: »Soziale Fragmentierung, Realitätsverlust und neue politische Urteilskraft«, in: Sozialismus, 12/2007, S. 22-27; S. 23f; siehe auch ders.: Der politische Mensch, Göttingen 2008 (im Erscheinen).
[3] Ebd.
[4] Vgl. Gunter Hofmann: »Schäubles Nachtlektüre«, in: Die Zeit Nr.33 vom 9.8.2007, S.7. – »[Schäubles] Einflüsterer ist ein Professor Depenheuer, der in seinem Büchlein zur ›Selbstbehauptung des Rechtsstaates‹ die theoretischen Grundlagen für Schäubles Überzeugungen und die daraus resultierende Politik legt.«, Frank Hofmann: »Innenminister Schäubles Umgang mit dem Rechtsstaat«, in: spw – Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft, 3/2008, S. 47-49; S.48.
[5] Vgl. Otto Depenheuer: Selbstbehauptung des Rechtsstaates, Paderborn, München, Wien 2007, S. 55ff.
[6] Ebd., S. 62.
[7] Vgl. Ernst Fraenkel: Der Doppelstaat. Recht und Justiz im »Dritten Reich«, Frankfurt am Main 1974.
[8] Depenheuer: Selbstbehauptung des Rechtsstaates, a.a.O., S. 63.
[9] Ebd.
[10] Ebd., S. 64.
[11] Ebd., S. 63.
[12] Ebd., S. 64.
[13] Ebd., S. 65.
[14] »Im drohenden ›clash of civilizations‹ muss sich die freiheitlich und rechtsstaatlich verfasste Staatengemeinschaft Rechenschaft darüber geben, ob und zu welchen Opfern sie für die Verteidigung ihrer Form des politischen Lebens bereit ist.« – Ebd., S. 103; vgl. auch S. 103: »Das Opfer des einzelnen stärkt den Zusammenhalt der Überlebenden, die nunmehr ihrerseits das Bemühen schuldig sind, sich des Opfers würdig zu erweisen, indem sie sein Vermächtnis wahren.«. Zu Bereitschaft und Angedenken des »Bürgeropfers« fehle, so Depenheuer, der »Spaß- und Wohlstandsgesellschaft« die nötige »wertorientierte Ernsthaftigkeit«. So besehen, geriert sich als der eigentliche Feind des Rechtsgelehrten Depenheuer die hedonistische »Spaßgesellschaft«, die bekanntermaßen Konservativen besonders verhasst ist, weil in ihr Nationalpatriotismus, preußische Tugenden und Elitarismus auf kein günstiges Klima stoßen und dementsprechend nur schlecht gedeihen. Der Terrorismus erscheint dem Rechtsgelehrten Depenheuer wie auch dem Minister Schäuble als nützliches Vehikel, mit der »rechtsstaatlichen Normalität«, unter der die »Spaßgesellschaft« überhaupt erst entstehen konnte, auch diese gleich mit zu entsorgen. Unter dem Vorwand, wie der Titel der Publikation bereits angibt, dass der Rechtsstaat sich gegen die Bedrohung des Terrorismus selbstbehaupten müsse, reißt der Autor Depenheuer selbigen argumentativ ein und ersetzt ihn durch den permanenten Ausnahmezustand, der mit staatsautoritärer Willkür und womöglich mit Diktatur gleichzusetzen ist. Die Instrumentalisierung des Terrors kommt – moralisch bewertet – dem Terror sehr nahe, gibt sich wie Trittbrettfahrerei und sollte, sofern diesem rechts- und verfassungsfeindlichen Denken auch ein entsprechendes dezisionistisches Handeln folgt, strafrechtlich genau so geahndet werden.
[15] »Polizeiliche Maßnahmen dürfen sich grundsätzlich nur gegen Störer richten, militärische Maßnahmen können sich gegen alle potentiell gefährlichen Ziele richten. Polizeirechtliche Verhältnismäßigkeit wird im Ernstfall durch kriegsrechtliche Angemessenheitsüberlegungen abgelöst. So dürfen Nichtstörer polizeirechtlich nicht in Anspruch genommen werden, wenn sie selbst dadurch einer ›erheblichen Gefährdung‹ ausgesetzt sind; der Tod unbeteiligter Zivilisten als Folge eines militärischen Angriffs kann hingegen kriegsrechtlich als Kollateralschaden gerechtfertigt sein, wenn der Grundsatz der Proportionalität gewahrt ist: nur wenn der Kollateralschaden deutlich außer Verhältnis zum militärischen Nutzen steht, ist er verboten.« – Ebd., S. 46.
[16] Ebd., S. 51.
[17] Ebd.
[18] Ebd., S. 50.
[19] Ebd., S. 52.
[20] Ebd., S. 53f.
[21] Ebd., S. 40.
[22] Ebd., S. 29.
[23] Ebd., S. 32.
[24] Ebd., S. 25f.
[25] Ebd., S. 33.
[26] Ebd., S. 81.
[27] Ebd., S. 97.
[28] Ebd., S. 81; vgl. Carl Schmitt: Verfassungsrechtliche Aufsätze aus den Jahren 1924 – 1954. Materialien zu einer Verfassungslehre, Berlin 1958, S. 100.
[29] Depenheuer: Selbstbehauptung des Rechtsstaates, a.a.O., S. 98.
[30] Ebd., S. 99f.
[31] Ebd., S. 100.
[32] Ebd., S. 33.
[33] Ebd., S. 72.
[34] Ebd.
[35] Vgl. Hermann von Mangoldt, Friedrich Klein, Christian Starck (Hg.): Kommentar zum Grundgesetz, 5. Auflage, München 2005.
[36] Vgl. Quelle Internet.
[37] Vgl. Horst Dreier (Hg.): Grundgesetz. Kommentar, Bd. 1., 2. Aufl., Tübingen 2004, Art. 1.
[38] Vgl. Fabian Wittreck: »Menschenwürde und Folterverbot«, in: Die öffentliche Verwaltung (DöV), Heft 21, Jg. 2003, S. 873-882.
[39] Alan M. Dershowitz: Why Terrorism Works. Understanding the Threat, Responding to the Challenge, Yale University Press 2002.
[40] Vgl. Heinrich Wefing: »Jenseits der Schmerzgrenze. Lässt sich Folter rechtfertigen? Immer mehr Juristen versuchen es – in Deutschland genauso wie in Amerika. Ohne Not geben sie Prinzipien des Rechtsstaats auf«, in: Die Zeit, Nr. 9 vom 21.2.2008.
[41] Ebd.
[42] Frank Hofmann: »Innenminister Schäubles Umgang mit dem Rechtsstaat«, a.a.O.
[43] Wolfgang Schäuble: »Weniger Demokratie wagen?«, in: FAZ vom 13.9.1996.
[44] Zur Geisteshaltung der »konservativen Revolution« bei Carl Schmitt siehe Jürgen Seifert: »›Durch totalen Krieg zum totalen Frieden‹. Carl Schmitt als Theoretiker der Gegenrevolution«, in: ders.: Politik zwischen Destruktion und Gestaltung. Studien zur Veränderung von Politik, Hannover 1997, S. 21-30.
[45] Vgl. Jürgen Seifert: »Konservative Ethik des Politischen. Von Hans Freyer zu Wolfgang Schäuble«, in: ders.: Politik zwischen Destruktion und Gestaltung, a.a.O., S. 31-42; vgl. Wolfgang Schäuble: Und der Zukunft zugewandt, Berlin 1994.
[46] Hans Freyer: Revolution von rechts, Jena 1931, S. 72.
[47] Seifert: »Konservative Ethik des Politischen«, a.a.O., S. 35.
[48] Vgl. Jürgen Seifert: »Die gescheiterte Erneuerung des Grundgesetzes«, in: ders.: Politik zwischen Destruktion und Gestaltung, a.a.O., S. 121-128.
[49] Ebd., S. 125.
[50] Ebd., S. 127.
[51] Seifert: »Konservative Ethik des Politischen«, a.a.O., S. 42.
[52] Focus-Interview mit Franz Josef Jung: »Ich würde den Befehl geben«, in: Focus vom 17.9.2007.
[53] Wolfgang Schäuble: »Wir sind und bleiben bedroht«, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, vom 16.9.2007.
[54] Vgl. Stefan Breuer: Anatomie der Konservativen Revolution, 2. Aufl., Darmstadt 1995.
[55] Vgl. Christoph Butterwegge, Bettina Lösch und Ralf Ptak: Kritik des Neoliberalismus, Wiesbaden 2007.
[56] Seifert: »›Durch totalen Krieg zum totalen Frieden‹«, a.a.O., S. 30.
[57] Oskar Negt: Lebendige Arbeit, enteignete Zeit. Politische und kulturelle Dimension des Kampfes um die Arbeitszeit, Frankfurt am Main 1984, S. 87.
[58] Vgl. z.B. Peter-Alexis Albrecht: Die vergessene Freiheit. Strafrechtsprinzipien in der europäischen Sicherheitsdebatte, Berlin 2006; Institut für Kriminalwissenschaft und Rechtsphilosophie (Hg.): Jenseits des rechtsstaatlichen Strafrechts, Frankfurter Kriminalwissenschaft, Studien, Bd. 100.
[59] Wolfgang Abendroth: »Der Notstand der Demokratie«, in ders.: Arbeiterklasse, Staat und Verfassung. Materialien zur Verfassungsgeschichte und Verfassungstheorie der Bundesrepublik, hrsg. und eingeleitet v. Joachim Perels, Köln, Frankfurt am Main 1975, S. 205.
[60] Vgl. Theodor W. Adorno: »Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit?«, in ders.: GS, Bd. 10.2: Kulturkritik und Gesellschaft, Frankfurt am Main 1977, S. 555f.
[61] Vgl. Johannes Agnoli: Die Transformation der Demokratie, in: ders., Peter Brückner: Die Transformation der Demokratie, Frankfurt am Main 1986, S. 10.
[62] Burkhard Hirsch, SZ vom 5.5.2007.
Dr. Marcus Hawel ist Mitherausgeber der Sopos.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der Zeitschrift Kritische Justiz (KJ), 1/2009, S. 64-73.
Zum Anhören und Senden in Freien Radios: MP3 zum Download.
Siehe auch von Marcus Hawel: "Die alte Stadtmauer verteidigen", in: Neues Deutschland vom 22.5.2009.
https://sopos.org/aufsaetze/4a196b478e4b7/1.phtml
sopos 5/2009