Zur normalen Fassung

Die Revolte der prekarisierten Jugend in Griechenland

Der Polizist Epaminondas Korkoneas hat nicht nur einen Schüler erschossen, gleichzeitig hat sein Projektil auch die Vitrine des "modernen Hellas" zersplittern lassen

von Gregor Kritidis (sopos)

"Beschießt uns nicht weiter mit Tränengas, wir weinen schon von selbst" (Freunde von Alexis)

"Den Banken Geld, der Jugend Kugeln, es ist die Stunde gekommen, wo unsere Tage beginnen"
(Slogan bei den Demonstrationen der SchülerInnen und StudentInnen)

"Die gewöhnlichen Kinder
werden gewöhnlich geboren
wachsen gewöhnlich auf
träumen gewöhnlich
verlieben sich gewöhnlich
und sterben gewöhnlich
O, Mama
sag mir was geschieht mit jenen Kindern
die, auch wenn sie gewöhnlich geboren werden
nicht gewöhnlich aufwachsen
nicht gewöhnlich träumen
sich nicht gewöhnlich verlieben
sag mir ob sie gewöhnlich sterben"
(Trypes, Löcher im Paradies, 1995)

Ohne zu es zu wissen brachte der Todesschütze Korkoneas eine tiefere Wahrheit zum Ausdruck: Der Beamte einer Sondereinheit, der den 15jährigen Schüler Alexandros Grigoropoulos erschossen hatte, ließ eine schriftliche Erklärung verbreiten, der dem Opfer ein sozial auffälliges Verhalten unterstellte und behauptete, dieser sei von der Schule verwiesen worden. Ein Wort des Bedauerns fand Korkoneas nicht.[1] Nichts von seinen Behauptungen trifft freilich zu: Grigoropoulos war nur zufällig mit einem Freund am Tatort, er hat keine Beziehungen zu irgendwelchen politischen Gruppen, schon gar nicht zu anarchistischen. Warum der Todesschütze überhaupt seine Waffe gezogen hat, um - nach eigenen Angaben - drei Warnschüsse abzugeben, ist bisher ungeklärt. Ebenso ist unklar, wie ein Warnschuß in die Luft zu einem Querschläger werden kann.[2] Alle der gut 20 Zeugenaussagen von Anwohnern und von Nikos R., der Grigoropoulos begleitete, sagen aus, Korkoneas habe aus 20 Metern den Schüler niedergeschossen. Das Video, das ein Anwohner aufgenommen hat, zeigt, wie die beiden Polizisten nach den Schüssen in aller Ruhe zu ihrem Dienstwagen zurückgehen. Auf eine unübersichtliche Situation, gar auf eine der vermeintlichen Notwehr, gibt es keinerlei Hinweise.

Der Proteststurm, den die Erklärung Korkoneas' auslöste, läßt sich in der Aussage zusammenfassen, nun sei Alexis Grigoropoulos zum zweiten Mal erschossen worden. Die "dreiste" und "provokative" Stellungnahme des Polizisten (so die linksliberale Tageszeitung To Ethnos) hätte jedoch nicht treffender zum Ausdruck bringen können, mit welcher Ignoranz und Realitätsverweigerung Regierung und Behörden auf die gesellschaftlichen Verwerfungen des heutigen Griechenland reagieren: Wer sich nicht konform verhält, und sei es nur durch den Aufenthalt im "falschen" Stadtteil, offenbart ein abnormes Verhalten, ist ein potentieller Chaot und Staatsfeind.[3] Gegen ihn muß die Staatsmacht mit aller Härte vorgehen, um die Normalität zu sichern.

Bild: Polizisten vor Vouli.Polizisten vor Vouli (Quelle: Prin. Wochenzeitung der Unabhängigen Linken)

Diese Forderung nach Normalität war freilich immer fragwürdig, mittlerweile sind jedoch die gesellschaftlichen Verhältnisse, auf die sie sich bezog, längst Geschichte. Den Jugendlichen von heute ist die Möglichkeit, sich durch Bildung einen Platz in der Gesellschaft zu erobern, längst genommen worden. Die Mehrheit der griechischen SchülerInnen befindet sich in einer Tretmühle zwischen Schule und privaten Nachhilfeschulen, für die manche Eltern bis zu 500 Euro im Monat aufbringen. Der Ausdruck "Papagallia" bringt die Anforderungen dieses Bildungssystems auf den Begriff: Papagallo ist der Papagei, der alles auswendig lernt, um es hinterher wiederzugeben. Daß sich viele Eltern für die Ausbildung ihrer Kinder verschulden, ebnet diesen jedoch immer weniger den Weg in eine auskömmliche Zukunft. Selbst wer die Universität, die im Rahmen des Bologna-Prozesses immer mehr den Schulen angeglichen wird, durchläuft, findet oftmals nur Aushilfe-Jobs. Mittlerweile hat sich der Begriff der "700-Euro-Generation" verbreitet. Es ist daher auch nicht ein veraltetes Bildungssystem, das Schüler und Studierende auf die Barrikaden treibt, wie Christiane Schlötzer in der Süddeutschen Zeitung mutmaßt,[4] sondern im Gegenteil dessen zunehmende "Modernisierung" unter den europäischen Maßgaben.

Diese Entwicklung ist in ihrer Grundstruktur keineswegs spezifisch griechisch; das Phänomen der Prekarisierung ist ein Kennzeichen des globalen Kapitalismus. Die strukturelle Arbeitslosigkeit ist die Knute, mit der überall die Rechte der lohnabhängigen Mehrheit der Bevölkerung demontiert werden und systemkonformes Verhalten erzwungen wird. Dies ist ein Grund dafür, warum die riots in Griechenland weltweit Besorgnis in den Oberschichten ausgelöst haben.[5] Denn obwohl sich die Weltökonomie erst am Beginn einer langen Depressionsphase befindet, ist die soziale Krise längst da. Es ist nicht der "griechische Sonderweg", der sich in der Revolte zeigt. Vielmehr handelt es sich bei der Rebellion um einen Ausdruck der griechischen Form der neoliberalen "Modernisierung".

Die Heftigkeit, mit der die griechischen Jugendlichen auf den Tod von Alexis Grigoropoulos reagiert haben, speist sich aus spezifisch griechischen Traditionen. Der dem des deutschen umgangssprachlichen "Bulle" entsprechende griechische Ausdruck "Batsos" bedeutet soviel wie "Schläger". Die türkische Wurzel des Wortes verweist nicht nur auf die jahrhundertelange Erfahrung der Fremdherrschaft, sondern auch auf den Klassencharakter des Staates: Es sind die Schläger einer Obrigkeit, die keine Legitimität beanspruchen kann, sondern die Privilegien einer schmalen Oberschicht gegen die Mehrheit der Bevölkerung sichern muß. Willkürliche Gewalt staatlicher Organe hat in Griechenland eine lange Tradition.[6]

Das autoritäre Nachkriegsregime fußte auf dem Terror der faschistischen Sicherheitsbatallione (Tagmata Asfalias) gegen die Linke, die im Bürgerkrieg von 1946 bis 1949 aufgrund der britischen-amerikanischen Intervention eine traumatische Niederlage erlitten hatte. Der Slogan anarchistischer Gruppen "Wir sind kein Gesindel, Gesindel sind die Batsi-Asfalites" verweist auf die strukturellen und personellen Kontinuitäten der Sicherheitsorgane zu den faschistische Kollaborateuren.[7] Der Versuch einer Demokratisierung des Nachkriegsregimes auf parlamentarischem Wege in den 60er Jahren scheiterte am Putsch der Obristen, die sich der Rückendeckung durch die USA und Westeuropas sicher sein konnten.[8] Die Wahlerfolge der linksliberalen Zentrumsunion fußten freilich auf den außerparlamentarischen Kämpfen der sogenannte Iouliana 1965, die sich ebenso wie jede demokratisch-soziale Bewegung zuvor umfangreichen polizeistaatlichen Verfolgungen ausgesetzt sah.[9] Vassilis Vassilikos hat in seinem von Kostas Gavras verfilmten Roman "Z" über die Ermordung des linken Parlamentsabgeordneten Grigoris Lambrakis den Geist jener Jahre treffend eingefangen.[10]

Die Junta der Obristen von 1967 bis 1974 stellt eine der dunkelsten Perioden der neueren griechischen Geschichte dar. Das Regime konnte sich nur durch exzessiven Polizeiterror gegen alle innenpolitischen Gegner behaupten. Ein Großteil der griechischen Kultur fiel der Zensur zum Opfer und wurde durch Marschmusik und einen dumpfen Antikommunismus ersetzt, der sich gegen jegliche soziale oder politische Abweichung richtete.[11]

Das Ende der Diktatur läutete der Aufstand der Studenten der Polytechnischen Hochschule ein, der schnell auf die gesamte Hauptstadt übergriff und von den Obristen mit Panzern blutig niedergeschlagen wurde. Zur Erinnerung an dieses Ereignis ziehen jedes Jahr am 17. November tausende Menschen von der Polytechnischen Hochschule zur US-Botschaft. Es ist auch ein Erbe dieser Erfahrungen exzessiver staatlicher Gewalt, daß die Polizei die Universitätsgelände außer bei unmittelbarer Verfolgung von schweren Straftaten nicht betreten darf.

Dieses universitäre Asyl ("panepistimiako asylo") war insbesondere in den letzten Jahren stets umkämpft, wurde es doch im Falle von Auseinandersetzungen bei Demonstrationen dazu genutzt, vor der Polizei Zuflucht zu suchen. Doch solange die Erfahrungen mit der Junta tief im kollektiven Gedächtnis verankert sind, wird es kaum eine Abschaffung dieses Rechtes geben. Die Ohnmacht, mit der die Regierung auf die Unruhen nach dem 5. Dezember reagiert hat, war der Unmöglichkeit geschuldet, die Revolte ohne Blutvergießen zu unterdrücken. Eine offensive Repression hätte die Unruhen weiter eskalieren lassen und den unmittelberen Zerfall des politischen Systems eingeleitet. Keine griechische Regierung hätte den exzessiven Einsatz der Sondereinheiten der Polizei (der MAT) oder gar der Armee gegen die eigene Bevölkerung riskieren können, ohne ihr eigenes Ende und eine Systemkrise heraufzubeschwören. Dennoch kam es zu einem selten dagewesenen Polizeieinsatz. In wenigen Tagen nach dem Todesschuß wurden vier Tonnen (!) Tränengas und Blendgranaten gegen die revoltierende griechische Jugend eingesetzt.

KarikaturKarikatur von Jannis Dermentzoglou: 'Bei tausenden Jugendlichen sieht er nur rohe Gewalt...' - 'Wenn der König nicht blind wäre, würde er sehen, daß er nackt ist'. (Quelle: Prin. Wochenzeitung der Unabhängigen Linken)

Die in bundesdeutschen Medien vertretene These, die griechische Polizei hätte den "Anarchisten" nur konsequent entgegentreten müssen, um die Revolte zu verhindern, ist daher abwegig.[12] Generell ist diese These ohnehin falsch, von einer nachgiebigen Polizei kann in Griechenland keine Rede sein. Das Gegenteil ist der Fall. In den letzten Jahren hat es eine ganze Reihe von Toten durch die immer hemmungsloser operierende Polizei gegeben.[13] Äußerst militante Zusammenstöße zwischen der MAT und protestierenden Arbeitern, Schülern, Studenten oder Bauern gehören mittlerweile wieder zur politischen Kultur Griechenlands. Einheiten der MAT sind 1995 sogar einmal gegen protestierenden Rentner mit Schlagstöcken vorgegangen. Der damalige Innenminister Papathemelis rechtfertigte dieses Vorgehen seinerzeit mit der grotesken Behauptung, die Rentner hätten eine Polizeikette durchbrechen wollen, und machte sich damit zum Gespött der öffentlichen Meinung. Unter dem Eindruck der Revolte verurteilen nun auch Teile des Establishments wie der Senat der Panteion-Universität die "Willkür der Polizeiorgane" und fordern eine "Demokratisierung der staatlichen Institutionen" und eine "gesellschaftliche Kontrolle" der Polizei.

Gegen die zunehmende Prekarisierung hat sich in Griechenland ein breiter Widerstand entwickelt. Seit Mitte der 90er Jahre waren die Schulen und höheren Bildungsanstalten immer wieder Schauplatz heftiger Auseinandersetzungen. "Mit der MAT und Gewalt gibt es keine Bildung" - dieser Slogan trifft im Kern die Methoden, mit denen die staatliche "Reformen", etwa die Privatisierung der Hochschulbildung, durchgesetzt werden sollten. Die Regierungen - und das gilt nicht nur für die gegenwärtige konservative Regierung Karamanlis, sondern ebenso für die PASOK-Regierungen - reagierten auf die Proteste an Schulen und Hochschulen stets mit Diffamierungen und polizeilicher Repression. Selbst gegen Schüler, die ihre Schulen besetzt hatten, wurde mit teilweise außergesetzlichen Mitteln vorgegangen. Häufig spielen bei derartigen Auseinandersetzungen organisierte parastaatliche faschistische Banden wie die "Chrisi Avgi" eine Rolle, die als "aufgebrachte Bürger" einen zweifelhaften Ruhm erlangt haben. Der innerhalb der Linken verbreitete Schlachtruf "Und jetzt ein Slogan, der uns alle vereint: Batsi (Bullen), Schweine, Mörder" hat in diesen Erfahrungen mit den staatlichen Sicherheitsorganen seine Wurzel.

Diese Entwicklungen haben in der westeuropäischen Öffentlichkeit kaum Aufmerksamkeit gefunden, handelt es sich doch um die Umsetzung der europäischen Bildungsziele.[14] Exemplarisch dafür ist der Fall des deutschen Studenten Timo B., der im letzten Jahr am Rande eines Konzerts auf dem Campus der besetzten Universität von Thessaloniki unter Mißachtung rechtsstaatlicher Standards verhaftet und für viereinhalb Monate eingesperrt wurde. Die Verhaftung erfolgte auf Basis willkürlicher Behauptungen von Angehörigen der MAT. Timo B. wurde Zeuge mehrere Gefängnisrevolten, bis er schließlich gegen Kaution auf freien Fuß gesetzt wurde.[15] In den bundesdeutschen Medien ist über diesen Skandal praktisch nicht berichtet worden, ganz im Gegensatz zum Fall Marco Weiss, der mit dem Vorwurf der versuchten Vergewaltigung in der Türkei inhaftiert war. Bis heute beschäftigen sich die Gazetten mit dem Fall Marco W., während der Fall Timo B. nicht zu existieren scheint.

In diesem Desinteresse wurzeln die Fehlinformationen und Fehldeutungen, welche die Berichterstattung im Großteil der bundesdeutschen Medien kennzeichnet. Da ist - wie bei Gerd Höhler, der verschiedene Medien mit Berichten aus Griechenland beliefert - von "Anarchisten", "Autonomen" und "Randalierern" die Rede, ohne daß überhaupt die Frage auftaucht, worin die Wut auf die Polizei wurzelt.[16] Dabei hätte allein der zahlenmäßige Umfang der Protestierenden und die Heftigkeit der spontanen Proteste selbst in Provinzstädten wie Ioannina, Mytilini oder Kosani Anlaß geben müssen, die Urheber der Revolte nicht nur unter den "gnostoi agnostoi" (den "Bekannten - Unbekannten", so wird die anarchistische Szene in Griechenland bezeichnet) zu suchen.[17] Da wird der an die Polytechnische Hochschule grenzende Stadtteil Exarchia als rechtsfreie Zone bezeichnet,[18] während in der griechische Presse von einem "kathestos stratokratias" (wörtlich: Regime Militärherrschaft) die Rede ist.[19] Daß eine lokale Bürgerinitiative seit längerem den Abzug der Sondereinheiten der Polizei fordert, weil diese für die ständige Unruhe im Stadtteil verantwortlich gemacht wird, hat bisher keine Erwähnung gefunden. Die Tatsache, daß es zuerst Jugendliche auf Korfu waren, die eine Polizeiwache attackierten, hätte ebenso zu genauerer Recherche Anlaß geben können, wie der Umstand, daß sich protestierende Schüler vor Polizeiwachen in zentrumsfernen Stadtteilen versammelten und es auch dort zu Ausschreitungen kam. Im Deutschlandfunk wurde noch Tage später bedenkenlos kolportiert, das Opfer sei mit einer Gruppe Autonomer unterwegs gewesen und damit die Version des Todesschützen übernommen. Dieser wurde dagegen vom DF von einem Angehörigen einer Sondereinheit zu einem Hilfspolizisten degradiert.[20] In der FAZ war fälschlicherweise vom tragischen Tod "eines randalierenden Jugendlichen" die Rede; "Der Vorfall", so Michael Martens über die tödlichen Schüsse auf Alexis Grigoropoulos, "bot nur den Anlaß für die Gewalt, indem er der durch Fernsehbilder angestachelten Lust am Randalieren und vor allem dem herbeigeredeten Zorn gegen ‚das System' einen Märtyrer spendierte".[21] Einen derartigen Zynismus hatte sich nicht einmal die konservative Kathimerini erlaubt, auf die sich die FAZ in ihren Einschätzungen gerne stützt. Daß die Regierung Karamanlis polizeilicher Willkür bis hin zum Einsatz von Schußwaffen bedenkenlos Tür und Tor geöffnet hat,[22] sodaß die wichtigste linksliberale Tageszeitung Elevtherotypia in Bezug auf die tödliche Polizeikugel von einem "statistisch zu erwartenden Ereignis" sprach,[23] wurde nicht zur Kenntnis genommen. Die These von einer schlecht ausgebildeten Polizei ist daher mehr als schief; vielmehr ist die Polizei durchaus "professionell" der Logik der Eskalation der Regierung gefolgt. Eine objektivere Berichterstattung war dagegen durchaus möglich, wie etwa der Beitrag von Werner von Gent in der taz[24] oder ein Interview mit den Leitern der Goethe-Institute in Athen und Saloniki auf tagesschau.de zeigen.[25]

Die Kehrseite der Prekarisierung, die mit der Politik der "Modernisierung" verbunden ist, bildet die Selbstbedienungspolitik der griechischen Oberschicht. Aufgrund einer Kette von Skandalen, in die neben ranghohen Regierungsmitgliedern die orthodoxe Kirche verwickelt ist, galt das Kabinett Karamanlis als Regierung auf Abruf.[26] Bedeutsamer ist freilich der Fall "Siemens Hellas": Mit bis zu 100 Millionen Euro sollen seit den 90er Jahren die griechischen Regierungsparteien - sowohl die PASOK als auch die Nea Dimokratia - geschmiert worden sein.[27] Die These von dem spezifisch griechischen Charakter der Korruption, wie sie nun in den deutschen Medien Verbreitung gefunden hat, ist daher zwar richtig, blendet aber die Verwicklung globaler Konzerne - Vodafon wäre ein weiterer Fall - vollkommen aus. Die griechische Oberschicht und ihre politischen Vertreter agieren gerade nicht unabhängig von "außenpolitischen Faktor", wie die relative Abhängigkeit Griechenlands von internationalen Interessengruppen bezeichnet wird.

Zweifellos hat die politische Klasse Griechenlands ihre Legitimität bei der prekarisierten Jugend wie in der Bevölkerung weitgehend eingebüßt. Aber selbst die Linksparteien, traditionell von der Regierungsbildung weitgehend ausgegrenzt, sind kaum in der Lage, eine weitergehende Perspektive zu eröffnen.[28] Das hängt nicht allein mit der Krise der Linken im weitesten Sinne zusammen, sondern mit der Aushöhlung der demokratischen Partizipationsmöglichkeiten schlechthin. Wie in allen anderen Industrieländern ist beispielsweise mit der Entwicklung einer privaten Medienindustrie das gesellschaftspolitische Deutungsmonopol auf national und international agierende Konzerne übergegangen. Die Möglichkeiten demokratischer Willensbildung sind in allen gesellschaftlichen Bereichen dadurch in zunehmenden Maße zugunsten neoliberal-kapitalistischer Imperative eingeschränkt worden. Es ist kein Zufall, daß verschiedenen politische Gruppen in Griechenland nun versuchen, durch die Besetzung von Radiostationen und Rathäusern Gegenöffentlichkeit herzustellen und der unterschlagenen sozialen Wirklichkeit Geltung zu verschaffen.[29]

Medienvertreter und Politiker haben versucht, aus dem Polizeiopfer einen Anarchisten zu machen; der Umstand, daß Alexis Grigoropoulos' Mutter ein Juweliergeschäft hat und vom Vater getrennt lebt, wurde herangezogen, der Revolte ihren sozialen Charakter abzusprechen und die "Anarchisten" zu einem Phänomen überdrüssiger Kinder aus Mittelschicht-Familien umzudeuten. Schon Mitte der 90er Jahre kursierten in der griechischen Öffentlichkeit derartige Thesen. Ironisierend unterschieb eine anarchistische Gruppe ihre Flugzettel daher mit "Kinder aus kaputten Familien". Nun sind alle Versuche, die gesellschaftlichen Widersprüche zuzudecken, gescheitert: Es sind keine Migranten-Kinder wie in Frankreich oder fehlgeleitete subkulturelle Minderheiten, sondern ganz normale Jugendliche aus der Arbeiter- und Mittelschicht, die dagegen rebellieren, daß man ihnen die Zukunft geraubt hat. Weitere Manipulationen werden kaum erfolgreich sein; die Anweisung von Bildungsminister Stylianidis, die Lehrer sollten nun den Druck aus dem Lehrbetrieb nehmen und zur Entspannung mit ihren Schulklassen spazieren oder ins Museum gehen,[30] hat die Welle von Schul- und Hochschulbesetzungen nicht stoppen können. Vielleicht ist es der Anfang einer Widereroberung des öffentlichen Raumes, ohne den eine demokratische Gesellschaft nicht möglich ist.

"Die ersten Toten, Dünger der Freiheit" - diese Zeile aus einem von Mikis Theodorakis vertonten Gedicht von Alekos Panagoulis klingt beim ersten Hinhören brutal, reflektiert aber eine griechische Erfahrung - und bewahrt die Hoffnung, daß die Toten nicht umsonst gestorben sind.

Anmerkungen:

[1] Im folgenden bezeichnete Korkoneas' Anwalt Alexandros Kougias die Zeugen als "angebliche Augenzeugen" und stellte Grigoropoulos Freund Nikos R. in die Nähe von Hooligans. Elevtherotypia v. 16.12.2008.

[2] An der tödlichen Kugel sind Spuren von Zement oder Außenputz gefunden worden. Einer der diensthabenden Gerichtsmediziner hat allerdings das gerichtsmedizinische Gutachten indirekt in Frage gestellt, da er nicht zur Obduktion hinzugezogen worden sei. To Ethnos v. 16.12.2008.

[3] Ministerpräsident Karamanlis bezeichnete den Todesschuß auf den 15-Jährigen als "tragisches Ereignis", die dadurch ausgelöste Zerstörung von Banken und Geschäften dagegen als "rohe Gewalt". Prin v. 14.12.2008.

[4] SZ v. 11.12.2008.

[5] Vgl. Steffen Vogel, Die Wut einer enttäuschten Generation. Telepolis, 15.12.2008. Hans Olaf Henkel merkte in einer Diskussion im Deutschlandfunk im Hinblick auf die griechischen Ereignisse an, man dürfe auf keinen Fall das erfolgreiche "Modell Deutschland" schlechtreden. DF v. 17.12.2008.

[6] Die historisch-sozialstrukturellen Hintergründ dieser spezifischen Traditonen sind von Nikos Kotzias treffend analysiert worden: Die Linke im politischen System Griechenlands und ihre Krise. In: Z. Zeitschrift für marxistische Erneuerung. Nr. 9. März 1992.

[7] Vgl. hierzu und im folgenden: Erik Eberhard, Revolution und Konterrevolution in Griechenland. Wien 2005.

[8] Stephen Rousseas, Militärputsch in Griechenland. Oder: Im Hintergrund der CIA. Reinbek bei Hamburg 1968.

[9] Fontas Ladis, Iouliana 1965. 100 meres pou synklonisan tin ellada. Athina 1985. (Die Juli-Ereignisse 1965. 100 Tage, die Griechenland erschütterten).

[10] Vassilis Vassilikos, Z. (1968). Köln 1986. Z (gr.: Zi) heißt "er lebt".

[11] Den Widerstand gegen die Diktatur und den Versuch einer umfassenden Demokratisierung nach 1974 schildert eindrücklich die italienische Journalistin Oriana Fallaci, die Lebensgefährtin des 1976 von Geheimdienstkreisen ermordeten Papadopoulos-Attentäters Alekos Panagoulis: Ein Mann. Frankfurt/Main 1985.

[12] Die FAZ etwa behauptete, in Griechenland werde der Polizei "Versagen" vorgeworfen. FAZ v. 15.12.2008. Das trifft allerdings nur auf die Rechtspresse zu.

[13] In der Prin v. 14.12.2008 ist von acht Toten durch Polizeigewalt seit 1996 die Rede. Eine Erklärung der Vollversammlung der besetzten Theaterschule in Saloniki listet fünf Tote für den gleichen Zeitraum auf. Vgl. die Website der FAU. Lediglich der 17jährige Student Marko Bulativic wird in beiden Quellen genannt. Die in der Ägäis zu Tode gekommenen Migranten sind dabei noch nicht mitgezählt.

[14] Eine der wenigen Ausnahmen bilden das Internet-Magazin telepolis.

[15] Vgl. http://jetzt.sueddeutsche.de/texte/anzeigen/393539 Der Fall war bisher vor allem von der Berliner Gruppe "Unistreik International" und Stipendiaten der Böckler-Stiftung bekannt gemacht worden.

[16] Vgl. z.B. die Berichterstattung in der HAZ, die durch eine gegenüber Fakten unempfindliche Vorurteilsstruktur gekennzeichnet ist.

[17] Eine weitere Bezeichnung ist "koukoulofori" (Kapuzenträger). In Griechenland gibt es bisher für Demonstrationen kein Vermummungsverbot; es würde sich wohl auch kaum jemand daran halten.

[18] Der Stadtteil Exarchia, behauptete die FAZ, sei ein "Staat im Staate" geworden, indem Drogenhändler und Anarchisten die Szenerie beherrschten. Damit übernahm die FAZ lediglich Behauptungen einer Kampagne der Kathimerini, deren Wahheitsgehalt zweifelhafter Natur ist. Kathimerini v. 19.10.2008.

[19] To Ethnos v. 12.12.2008. In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, daß die Presselandschaft in Griechenland - ähnlich wie das gesamte Leben in Griechenland - politisch immer noch stark polarisiert ist. Zu dieser Analyse wurden daher u.a. die Elevterotypia (Freie Presse), To Ethnos (Die Nation), die Kathimerini (Die Tägliche), die Apogevmatini (Die Nachmittägliche) sowie die Wochenzeitung Prin (Zuvor) herangezogen, auch wenn nicht unbedingt alle Organe zitiert werden.

[20] DF v. 13.12.2008.

[21] FAZ v. 11.12.2008. In einem Leserbrief stellte der in Athen lebende Heinrich Hall diese und andere Verdrehungen richtig. FAZ v. 15.12.2008. In der FAZ darf sich der Vorsitzende des Athener Handelsverbandes auch unkommentiert darüber beklagen, seit 35 Jahren gäbe es kein Mittel gegen die Randalierer. Wer rechnen kann, wird feststellen, daß sich hier jemand zum Terrorismus der Junta zurücksehnt. FAZ v. 11.12.2008.

[22] Prin v. 13.5.2007.

[23] Elevtherotypia v. 11.12.2008.

[24] "Aufstand der Jugend. Exarchia ist überall." taz v. 10.12.2008.

[25] www.Tagesschau.de/ausland/griechenland .... Auch der Kommentar von Ulrich Pick ist ein Beispiel für einen die Tatsachen nicht ignorierende Berichterstattung. Vgl. www.tagesschau.de/kommentar/...

[26] Über diese Skandale, in deren Zentrum Grundstücksspekulationen und vermutlich mafiose Aktivitäten des Klosters Vatopedio stehen, ist in bundesdeutschen Medien praktisch nicht berichtet worden.

[27] Alekos Anagnostakis, Kefalaio, Antagonismos kai Siemens-Gate. (Kapital, Wettbewerb und Siemens-Gate). Prin v. 27.7.2008.

[28] Die Linkskoalition Synaspismos hat mit der Öffnung zur Antiglobalisierungsbewegung zumindest versucht, die Probleme der Prekarisierung ins Zentrum der Diskussion zu rücken. Vgl. Julian Marioulas, Die Kommunisten und die radikale Linke in Griechenland. In: Z. Zeitschrift für marxistische Erneuerung. Nr. 75. 9/2008.

[29] Darunter sind sowohl zentrale Gebäude wie der Sitz des griechischen Gewerkschaftsbundes GSEE in Athen als auch Zentren in der Peripherie wie die Handelskammer in Serres. Radiosender Flash v. 17.12.2008.

[30] Elevtherotypia v. 12.12.2008.

Dr. Gregor Kritidis ist Politikwissenschaftler und Mitherausgeber von www.sopos.org

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sopos 12/2008