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Die Krise des kapitalistischen Systems

Oder: Zurück zu Ricardo, vorwärts zu Marx

von Gregor Kritidis (sopos)

"Glaubst du an den lieben Gott?
Oder an Guevara?
Ich glaube an die Deutsche Bank
denn die zahlt aus in bar."
(Marius Müller Westernhagen, Mit Pfefferminz bin ich dein Prinz)

"It's Capitalism, stupid!"
(Karl Chemnitz)

"Ich will den Kapitalismus lieben, ich will und schaff' es nicht,
und das wird so weiter gehen, bis einer von uns zusammen bricht".
(Funny van Dannen, Kapitalismus)


Die aufmerksame Zeitgenossin fühlt sich gegenwärtig an den Herrn auf der ‚Titanic' erinnert, der die Kapelle auffordert, doch endlich einmal etwas mit Tiefgang zu spielen: Angesichts von Pleiten gigantischen Ausmaßes, panikartigen Reaktionen an den Börsen und umfangreichen Staatseingriffen fällt dem politischen, wirtschaftlichen wie journalistischen Establishment wenig Geistreiches ein. So konstatierte Albrecht Scheuermann in der HAZ, die Frage, was Geld eigentlich sei, dränge sich geradezu auf. Eine Antwort blieb er dem Publikum freilich ebenso schuldig wie der Papst, der verkündete, was ohnehin jeder beobachten kann: Geld kann verschwinden, nur das Wort Gottes sei "eine solide Wirklichkeit".[1] Ob das Wort Gottes der Vatikanbank bei ihren Aktivitäten auf den internationalen Geldmärkten helfen wird? Manch einer versucht es mit Chuzpe: So behauptete der liberale "Steuerexperte" Hermann Otto Solms, der Staat habe versagt, weil er seinen Aufsichtspflichten über das Marktgeschehen nicht nachgekommen sei.[2] Muß man daran erinnern, daß seit der Gründung von Attac und der Konstituierung der Antiglobalisierungsbewegung im Zuge der Asienkrise die Forderung nach einer Regulierung der Finanzmärkte erhoben worden ist? Daß Oskar Lafontaine genau aus diesem Grund als Finanzminister aus dem Amt gedrängt worden ist, weil er die "Akteure" auf den Finanzmärkten einer stärkeren Kontrolle unterwerfen wollte? In den Medien ist Lafontaine für seine Vorhaben, die Umverteilung des Reichtums durch Finanzmarktgeschäfte einzudämmen, demontiert worden.[3]

Immerhin, die herrschende Ideologie ist genauso einer Kernschmelze ausgesetzt wie das internationale Finanzsystem. Es grassiert eine allgemeine Ratlosigkeit und hektische Aktivität, während das Schreckgespenst der großen Krise von 1929 umgeht. Das Publikum reibt sich verwundert die Augen, wenn Finanzminister Steinbrück verkündet, die Stabilität und das Funktionieren des Finanzsystems sei ein "öffentliches Gut". Warum aber werden die Banken dann nicht gleich vergesellschaftet? Und ist das chronisch unterfinanzierte Bildungssystem nicht auch für das Funktionieren einer modernen Gesellschaft unverzichtbar?

Was im guten alten Europa das Establishment unter Schock setzt, löst in den USA Paranoia aus: Die Marktkräfte, denen man doch das Geschehen so viele Jahre überlassen hat, riss Giganten wie die Lehman-Brothers in den Abgrund und machte ein sofortiges Eingreifen des Staates notwendig. Ausgerechnet George Bush wurde unter dem Druck der Ereignisse zur Sünde wider den heiligen Geist und zu "kommunistischen" Maßnahmen genötigt. Das hatte bisher nur einer seiner Vorgänger gewagt: Franklin D. Roosevelt, der mit seinem "New Deal" nicht nur der Herausforderung der "Great Depression", sondern vor allem auch einer um sich greifenden revolutionären Unruhe entgegenwirken mußte.[4] Staatseingriffe und staatliche Planung sind jedoch keinesfalls sozialistisch, bestenfalls sind sie das Begleitprogramm einer sozialistischen Transformation, wie Paul Sering in seinem Bestseller der Nachkriegszeit, "Jenseits des Kapitalismus" hervorgehoben hat.[5]

Die Erklärungsversuche bleiben hilflos und müssen es auch bleiben, war zuvor doch die Privatisierung öffentlichen Eigentums und die Entfesselung der Marktkräfte allgemeines Credo. Wie sollen die Journalisten, Politiker oder Banker etwas zur Erklärung der gegenwärtigen Situation beisteuern können, wenn nicht einmal die vorherrschende Ökonomiewissenschaft über die analytischen Mittel dazu verfügt? Denn neben einer Theoretisierung von Glaubenssätzen - etwa den des Gleichgewichts des Marktes - hat die neoliberale Volkswirtschaftslehre nichts anzubieten.[6]

Um überhaupt ein grundsätzliches Verständnis von der gegenwärtigen Krise gewinnen zu können, lohnt ein Blick in die klassischen Werke der Wirtschaftstheorie. Die Frage nach dem Wert des Geldes etwa führt zurück zur Werttheorie des englischen Nationalökonoms David Ricardo. Ricardo wird zwar in jedem Ökonomie-Lehrbuch über den internationalen Handel wegen seiner Theorie der "komparativen Kostenvorteile" zitiert. Ansonsten aber gilt er als überholt.[7] Dabei ist er einer der wenigen bürgerlichen Wissenschaftler, der sich mit ernsthaftem Interesse mit den Grundfragen der Wirtschaft auseinandergesetzt hat. Es war die wichtigste Erkenntnis Ricardos, daß der mit Geld vermittelte Warentausch darauf beruht, beliebige Gebrauchswerte miteinander in ein bestimmtes Verhältnis zu setzen. Ricardo übernahm bei seiner Werttheorie von Adam Smith die Unterscheidung zwischen "worth" und "value", zwischen Tauschwert und Gebrauchswert. Was auf dem Markt getauscht wird, seien zwar Gebrauchswerte, aber diese würden nach ihrem Tauschwert ins Verhältnis gesetzt: "Der Wert einer Ware oder die Quantität einer anderen Ware, gegen die sie ausgetauscht wird, hängt ab von der verhältnismäßigen Arbeit, die zu ihrer Produktion notwendig ist, nicht aber von dem höheren oder geringeren Entgelt, das für diese Arbeit gezahlt wird".[8] Der Ausdruck "verhältnismäßige Arbeit" verweist dabei auf einen wichtigen Aspekt: Die Arbeit muß unter durchschnittlichen Produktionsbedingungen (Einsatz von Werkzeugen, Maschinen, sonstigen Arbeitsmitteln, natürliche Vorkommen) verausgabt werden. In waldreichen Gebieten wird sich daher eher eine holzverarbeitende Industrie ansiedeln als anderswo - der Reichtum der Natur fließt also in den Produktionsprozeß ein, aber er bleibt durch Arbeit vermittelt.[9] Erhöht ein einzelner Produzent seine Produktivität, steigt die Durchschnittsproduktivität und es verändern sich die Austausch- respektive Marktverhältnisse. Maschinen selbst seien aber nicht wertbildend, so Ricardos Erkenntnis: Wenn mit einer Maschine, für deren Bau 100 Stunden Arbeit verausgabt worden sind, 100.000 Fässer produziert werden, so wäre in jedem Faß 1/1.000 des Wertes der Maschine vergegenständlicht.

Daß der Tauschwert in einer dritten Ware, dem Goldgeld, seinen Ausdruck fand, war eine praktische Konsequenz des sich entwickelnden Handels: Man brauchte ein vielseitig verwendbares Tauschmittel. Aber auch Edelmetalle haben keinen "Wert" an sich, wie Ricardo feststellte, sondern sind ebenso Produkte menschlicher Arbeit. Die spanischen Herrscher mußten das feststellen, als das in Lateinamerika geraubte Gold und Silber die europäischen Edelmetallwährungen inflationierte, während die produktiven Kräfte Spaniens hinter die anderer europäischer Länder zurückfielen.

Schon aus der Werttheorie Ricardos ergibt sich, daß das Gerede vom Übergreifen der gegenwärtigen "Finanz"krise auf die "Realwirtschaft" gegenstandslos ist. Im Geld drückt sich ein gesellschaftliches Verhältnis aus, das genauso real ist wie ein Kilo Tomaten auf dem Wochenmarkt oder ein überzogenes Girokonto.

Es war Karl Marx, der die Werttheorie Ricardos aufgriff, systematisierte und weiterentwickelte. Das "Kapital" beginnt daher auch mit einer Analyse des "Doppelcharakters der Ware", nämlich gleichzeitig Gebrauchs- und Tauschwert zu sein. Geld, genauer: der Preis sei der Ausdruck einer Wertrelation, mithin eines gesellschaftlichen Verhältnis'. Marx prägte auch den Begriff der "durchschnittlich gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit", die zur Produktion einer Ware benötigt wird. Und er spottete darüber, daß die bürgerlichen Ökonomen den Kapitalismus wie eine reine Tausch- und nicht wie eine Kreditökonomie behandelten. Der Clou der Marxschen Theorie ist jedoch die Mehrwerttheorie, die er in die Auseinandersetzungen in der Arbeiterbewegung einbrachte.[10]

Der Lohnarbeiter, seiner wirtschaftlichen Existenzmittel beraubt, sei gezwungen, seine Arbeitskraft auf dem Markt zu verkaufen. Diese Arbeitskraft habe - wie jede andere Ware - einen Tausch- und einen Gebrauchswert. In den Tauschwert - dessen Ausdruck der Lohn sei - gingen die Mittel, die zur Wiederherstellung des Arbeitsvermögens notwendig seien, ein. Die Arbeitskraft, über die nach Abschluß des Arbeitsvertrages der Kapitalist verfüge, könne aber mehr als nur den eigenen Wert (re-)produzieren, im folgenden von Marx verwendeten Beispiel das doppelte: "Der Umstand, daß die tägliche Erhaltung der Arbeitskraft nur einen halben Arbeitstag kostet, obgleich die Arbeitskraft einen ganzen Tag wirken, arbeiten kann, daß daher der Wert, den ihr Gebrauch während eines Tages schafft, doppelt so groß ist wie ihr eigener Tageswert, ist ein besonderes Glück für den Käufer (den Kapitalisten), aber durchaus kein Unrecht gegen den Verkäufer".[11]

Daß sich der Kapitalist diesen von Marx so bezeichneten "Mehrwert" aneignet, davon wollte die bürgerliche Ökonomietheorie freilich nichts wissen, und daher wurde auch die Arbeitswertlehre Ricardos verworfen. Denn die Mehrwerttheorie hatte eine Reihe von Implikationen, die allen bürgerlichen Gleichgewichtstheoretikern ein Graus sind: Betrachtet man nämlich nicht das Einzelkapital, sondern das Kapital als Gesamtheit, so wird klar, daß die Gesamtlohnarbeiterschaft nicht in der Lage ist, als Nachfrager für die gesamte Produktion in Erscheinung zu treten. Solange die Produktion weiter ausgedehnt wird, stellt das kein Problem dar, weil die Erweiterung der Produktionskapazitäten Nachfrage nach weiteren Maschinen schafft. Diese Akkumulation von Kapital (in Form von Produktionsstätten) muß aber notwendigerweise in eine Krise führen, denn man könne "nicht ewig Maschinen produzieren, ohne irgendwann einmal mit ihnen Güter des Endverbrauches herzustellen."[12] Die Produktion von Mehrwert respektive Profit, so Marx, trete daher periodisch mit sich selbst in Widerspruch und mache sich in allgemeinen Wirtschaftskrisen Luft, in denen eine Vernichtung von Kapital erfolge. Die Lösung der Krise, so Marx im Kommunistischen Manifest, basiere jedoch auf der Vorbereitung einer noch größeren Krise. Die Krisendynamik verschärfe sich im historischen Verlauf durch den Umstand, daß eine immer größere Masse akkumulierten Kapitals in Form von Produktionsmitteln einer verhältnismäßig kleiner werdenden Zahl von Arbeitern gegenüberstehe, d.h. die Mehrwert respektive Profitrate sich verringere. Diese These vom tendenziellen Fall der durchschnittlichen Profitrate war und ist unter marxistischen Ökonomen äußerst umstritten, drückt aber im Kern nichts anderes aus als das steigende Verhältnis von "toter" oder "geronnener" zur lebendigen Arbeit oder anders ausgedrückt: ein Steigen der Arbeitsproduktivität.

Unumstritten war und ist dagegen die expansive Tendenz des Kapitalismus: Die Krise vor dem ersten Weltkrieg kulminierte in einem gewaltsamen Kampf um Absatzmärkte, der von den damaligen Marxisten lange vorhergesehen worden war. Der Krieg erwies sich als produktivste Phase der kapitalistischen Entwicklung, wurde doch Kapital in Massen vernichtet: Das Kriegsmaterial wurde zerstört und ging nicht wieder in den ökonomischen Kreislauf ein.

Die grundlegenden Widersprüche ließen sich dadurch jedoch nicht lösen, im Gegenteil: Die Weltwirtschaftskrise der 30er Jahre machte in allen kapitalistischen Ländern umfangreiche Staatseingriffe erforderlich. Der Staatsapparat wurde genutzt, durch öffentliche Großprojekte zusätzliche Nachfrage zu schaffen, die öffentliche Verschuldung wurde zum Hebel der Akkumulation. Die passende Theorie dazu lieferte der britische Ökonom John Meynard Keynes, aber auch im faschistischen Deutschland wurde eine Politik der Staatsintervention als Krisenlösung verfolgt. Doch weder Autobahnen noch Staudämme trugen zur Überwindung der Krise bei, sondern erneut der Krieg. "Eine wichtige Voraussetzung für den Boom nach dem Krieg war die Vernichtung und Abnutzung von Kapital. Die Verwüstung von Produktionsanlagen, Städten und ganzen Regionen in Europa und der Kapitalverschleiß in den USA ermöglichten dem Kapitalismus eine neue Runde wirtschaftlichen Wachstums."[13] Mit dem Korea-Krieg setzte eine Entwicklung ein, das Niveau der Rüstungsproduktion auf Dauer zu halten. Der Rüstungswettlauf im Kalten Krieg bildete die entscheidende Grundlage des Nachkriegsbooms, bis das System - unter anderem als Folge des Vietnamkriegs - erneut in eine Krisenphase eintrat.

Seitdem befindet sich das kapitalistische System aufgrund der strukturellen Überakkumulation in einer stagnativen Phase, allen neoliberalen Versuchen zum Trotz, die Leine, an der die Akkumulation hängt, zu verlängern. Die Senkung der Masseneinkommen - in Deutschland mit dem Hebel der Agenda 2010 - , die Erschließung neuer Märkte durch die Privatisierung öffentlicher Güter, der als Standortverlagerung bezeichnete Kapitalexport, die Erhöhung der privaten Verschuldung, die Beschleunigung des Kapitalumschlags - das und vieles mehr hat nicht dazu geführt, eine neue Boomphase einzuleiten. Die dem zugrunde liegenden strukturellen Probleme sind lange bekannt und breit diskutiert worden.

Es wäre daher vermessen, die Ursache der gegenwärtigen Krise allein auf den Finanzmärkten zu suchen. Das Gegenteil ist genauso richtig: Die Erfindung immer neuer Finanzprodukte war ebenso wie der Krieg gegen den Terror im Irak und anderswo geradezu erforderlich, um die Akkumulation in der "Realwirtschaft" aufrecht zu erhalten.[14] Mit den vielen faulen Kreditleichen, die jetzt bei den Banken im Keller liegen, sind ja durchaus ganz reale Häuser gebaut und - wie das hierzulande so gern betont wird - Arbeitsplätze gesichert worden. Daher handelt es sich auch nicht um eine "amerikanische" Krise. Die USA stehen als kapitalistische Zentralmacht zwar im Mittelpunkt des Geschehens, aber durch ihre Kredit-, Finanz- und Kriegspolitik wurden auch die Exporte deutscher Unternehmen ermöglicht. Daß jetzt alle an den Lasten beteiligt werden, liegt in der Logik der (kapitalistischen) Entwicklung.

Die Krisenbekämpfung, wie sie jetzt auch von der Bundesregierung betrieben wird, geht an den Krisenursachen vorbei. Die Behauptung, man müsse nur durch staatliche Garantien das verlorene Vertrauen der Akteure an den Finanzmärkten wiederherstellen, nimmt sich wie Pfeifen im dunklen Walde aus. Tatsächlich wird durch die "Flutung" der Finanzmärkte mit Liquidität das Problem verschoben: Denn - dazu muß man nicht einmal Marx gelesen haben - ohne reale Gegenwerte führt das zu Inflation. Das ist für Schuldner - und der Staat verschuldet sich durch die geplanten Interventionen zusätzlich - durchaus nicht unpraktisch, werden doch die Schulden mit entwertet. Für Sparer und Lohnempfänger bedeutet das eine Entwertung ihres Vermögens bzw. Einkommens. Mit anderen Worten: Die Folgen der Krise werden verschoben, die sozialen Konflikte werden sich drastisch verschärfen, insbesondere wenn in einer Depression die Arbeitslosigkeit steigt.

Das "Rettungspaket" der Großen Koalition für die Banken hat ohnehin mehr psychologische als wirtschaftliche Bedeutung. Und auch die Debatte über ein sozial-ökologisches Konjunkturprogramm ist mehr rhetorisch als programmatisch gemeint. Wie die Krisenlösung der wirtschaftlichen und politischen Eliten tatsächlich aussehen wird und wie sie sich darauf vorbereiten, macht indirekt ein Interview des Spiegel mit Innenminister Wolfgang Schäuble deutlich:

Spiegel: "Herr Schäuble, das Schlüsselwort dieser Tage heißt Vertrauen. Wem vertrauen Sie noch. Ihrer Frau?"

Schäuble: "Voll und Ganz".

Spiegel: "Dem lieben Gott?"

Schäuble: "Dem auch, sehr sogar."

Spiegel: "Der Deutschen Bank?"

Schäuble: "Da wird es schon schwieriger, aber doch, ich vertraue sogar der Deutschen Bank, zumindest in dem Maße, wie ich der Funktionsfähigkeit unseres Bankensystems und unserer Finanzmärkte insgesamt vertraue. Ich bin ein großer Anhänger der Lehre von Karl Popper, wonach die offene Gesellschaft sich gerade dadurch auszeichnet, daß sie aus Fehlentwicklungen, die es immer wieder gibt, lernen kann."[15]

Mit anderen Worten: Selbst der Bundesinnenminister, sicher der klügste Kopf in der großen Koalition, traut dem Funktionieren des Systems nicht mehr über den Weg. Leider hat der Spiegel vergessen, eine entscheidende Frage zu stellen: Ob der Herr Innenminister auch der Einsatzfähigkeit der Bundeswehr, der Polizei und den Geheimdiensten bei inneren Konflikten, etwa Streikbewegungen größeren Ausmaßes, vertraut? Im Falle des Notstandes schlägt die Stunde der Exekutive - das ist seit dem Schrecken, den die Novemberrevolution den Eliten in Deutschland versetzt hat, das Credo der politischen Rechten. Carl Schmitt, der Vordenker der faschistischen Krisenlösung, hat diese Position brillant theoretisiert. Die Schmitt-Renaissance, an der auch Wolfgang Schäuble teilhat, belegt die Lebendigkeit dieses autoritär-obrigkeitsstaatliche Denkens ebenso wie die beinahe-Zustimmung der SPD zu Einsätzen der Bundeswehr im Inneren.[16]

Die Alternative dazu wäre neben einer Wiederherstellung der Besteuerung der Vermögenden eine Demokratisierung der Märkte. Die FAZ hat erst kürzlich auf Artikel 15 GG hingewiesen, der ermöglicht, Produktionsmittel gegen Entschädigung zu Vergesellschaften.[17] Eine Überführung der Banken in Gemeineigentum wäre ein erster Schritt für eine demokratische Lösung der Krise. Die Leitung der Banken müßte jedoch neben Vertretern des Bundestages und der Landtage auch Delegierte der Bankbelegschaften und aller Wirtschaftszweige umfassen. Das macht freilich nur dann Sinn, wenn auch alle Schlüsselindustrien vergesellschaftet werden, weil sonst die Vertreter der Konzerne die Kreditvergabe dominieren würden. Die Vorschläge des französischen Präsidenten Sarkozy gehen bereits dahin, mit staatlichen Beteiligungen "feindliche Übernahmen" zu verhindern. Warum aber sollten die Belegschaften nicht selbst die Sache in die Hand nehmen und zu einer Übernahme schreiten? Ohne eine internationale Koordinierung, d.h. ohne parallele Entwicklungen in allen wichtigen Industrieländern, wäre das allerdings nicht realisierbar.

Das ist zugegebenermaßen eine irreale Vorstellung. Vielleicht so irreal wie der Gedanke der Verstaatlichung von Großbanken noch vor wenigen Wochen gewesen ist.

Anmerkungen:

[1] HAZ v. 7.10.2008.

[2] HAZ v. 8.10.2008. Dem entspricht die Position der FDP insgesamt. Vgl. auch den Beitrag von Hans Barbier, Vorsitzender der Heinz-Erhard-Stiftung, in der FAZ v. 10.10.2008.

[3] Vgl. Michael Krätke, Neoklassik als Weltreligion? In: Loccumer Initiative Kritischer WissenschaftlerInnen (Hrsg.), Die Illusion der neuen Freiheit. Realitätsverleugnung durch Wissenschaft. Kritische Interventionen Bd. 3. Hannover 1999. S. 101.

[4] Vgl. z.B. Robert McElvaine, The Great Depression. America 1929-1941.

[5] Paul Sering (d.i. Richard Löwenthal), Jenseits des Kapitalismus. Regensburg 1946. Das sich Löwenthal vom freiheitlichen Sozialismus zum rechten Flügel der SPD bewegt hat, tut dieser hervorrragenden Analyse keinen Abbruch.

[6] Krätke spricht in diesem Zusammenhang von einer "Weltreligion". Ebd.

[7] Vgl. z.B. die Kritik des frischgebackenen Nobelpreisträgers Paul Krugman an Ricardo: Krugman/Maurice Obstfeld, International Economics. Theory and Policy. New York 1994. S. 64. Krugman und Obstfeld unterstellen das, was Ricardo überhaupt erst herzuleiten versucht: Die Existenz von Geld als Ausdruck von Tauschverhältnissen.

[8] David Ricardo, Über die Grundsätze der politischen Ökonomie und der Besteuerung, Berlin 1979, S.9. (erschienen 1817) Man würde sich wünschen, jeder Gewerkschafter hätte sich diese Erkenntnis einmal zu eigen gemacht.

[9] Dieser entscheidende Aspekt wird von Krugman nicht zur Kenntnis genommen.

[10] Vgl. seine Schrift Lohn, Preis und Profit. In: Marx/Engels, Werke. Band 16. S. 101ff.

[11] Karl Marx. Das Kapital. Zur Kritik der politischen Ökonomie. Band I. S. 208. Man sieht an diesem Zitat, daß es Marx nicht um moralische Verdikte, sondern um ein theoretisches Begreifen von Ausbeutung ging.

[12] Erich Gerlach, Die Berliner Konjunkturdebatte des Bundestages. Die Investitionskonjunktur soll in die Rüstungskonjunktur übergeleitet werden. Sozialistische Politik 11/1955, S.3f.

[13] Tobias ten Brink, VordenkerInnen der globalisierungskritischen Bewegung. Pierre Bourdieu, Susan George, Antonio Negri. Köln 2004. S. 104.

[14] "Allein die direkten Kosten des Bush-Krieges übersteigen heute schon diejenigen des Vietnam- und des Korea-Krieges zusammen genommen. Michael Krätke, 6.000.000.000.000 US-Dollar. Freitag v. 28.3.2008.

[15] Spiegel v. 6.10.2008.

[16] Schon Lenin wußte, daß der Staat im Kern aus einer Formation bewaffneter Kräfte besteht. Schäuble versucht immerhin noch, der Sache den Anschein von Legalität zu geben.

[17] Von Produktionsmitteln war dabei nur in Anführungszeichen die Rede, marxistische Begriffe fasst man aus naheliegenden Gründen nur mit Kneifzangen an. FAZ v. 10.10.2008.

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sopos 11/2008