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Privileg, Recht oder Verpflichtung?

Fallstricke des rechtsbasierten Entwicklungsansatzes

von Srilatha Batliwala

In den letzten fünfzig Jahren der Entwicklungsgeschichte kam es immer wieder zur Entstellung und Verzerrung eigentlich guter Ideen und innovativer Praktiken, indem diese aus ihrem politischen und historischen Kontext gerissen und in Formeln übertragen und dann "gemainstreamt" wurden. Gute Ideen - hervorgegangen aus spezifischen Herausforderungen - wurden so in universal anwendbare Allheilmittel verwandelt und die Idee ihrer kulturellen Spezifik, ihres politischen Inhalts beraubt. Im Folgenden geht es darum, die Methoden und die Motive dieser Strategien zu hinterfragen.

Das jüngste Beispiel dieses Phänomens ist der Versuch, "rechtsbasierte Ansätze zur Entwicklung" voranzubringen, bei denen viele Entwicklungsagenturen - private, bilaterale und andere - die führenden Akteurinnen sind. Sie preisen allen ihren Entwicklungs-‚PartnerInnen' den normalerweise vagen und unterschiedlich interpretierten rechtsbasierten Ansatz wie Sauerbier an. "Der rechtsbasierte Ansatz zur Entwicklung ist ein konzeptioneller Rahmen für den Prozess der menschlichen Entwicklung, der normativ auf den internationalen Menschenrechtsstandards basiert und operativ darauf gerichtet ist, Menschenrechte zu befördern und zu schützen (...). Der rechtsbasierte Ansatz integriert grundlegend die Normen, Standards und Prinzipien des internationalen Menschenrechtssystems in die Pläne, Politiken und Prozesse von Entwicklung (...). Ein rechtsbasierter Entwicklungsansatz beinhaltet die folgenden Elemente: Eine direkte Verbindung zu Rechten, Verantwortlichkeit, Empowerment, Partizipation, Nichtdiskriminierung und die Beachtung verletzlicher Personengruppen."[1] So breit und allgemein definiert das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte das, was fortan in keinem Antrag fehlen darf, ohne allerdings vorher einige der problematischen Punkte, die im Kern des Menschenrechtskonzeptes selbst liegen, zu lösen.

Eurozentristisches Modell

In einer überzeugenden Kritik an den Grundzügen der Menschenrechte argumentiert Makau Mutua[2], dass diese vornehmlich durch eine europäisch-rousseausche Perspektive des Individuums geprägt sind, das sowohl Objekt wie Subjekt von Rechten ist. Darüber hinaus seien die Menschenrechte zunehmend zum Ziel und Instrument eines modernen Zivilisierungsprojektes für die nicht-westliche Welt geworden. Mutua führt an, dass sich die philosophischen Wurzeln des aktuellen Menschenrechtsparadigmas nicht aus einer multikulturellen Debatte entwickelt haben, in der herausdestilliert wurde, was von den höchsten Werten und ethischen Bezügen der Gesellschaften weltweit tatsächlich universal ist. Denn auch außerhalb des Westens haben reichhaltige Quellen existiert, die universelle Rechte hätten rahmen können, wie z.B. der Veerashaiva-Kampf im 13. Jahrhundert in Indien mit dem integralen Bestandteil der Geschlechtergleichheit.

Ein weiteres Problem im rechtsbasierten Ansatz ist die Frage und Bedeutung kollektiver oder lokaler Verantwortlichkeiten. Selbst westlich beeinflusste VertreterInnen des Rechtsansatzes befürchten, dass der Begriff der Verantwortung von herrschenden Kräften genutzt wird, um die Unterordnung unterdrückter Gruppen festzuschreiben, wie z.B. den Frauen in Indien, die eher an ihre Verantwortung als an ihre Rechte erinnert werden. Die Rechts-Community spricht von RechtehalterInnen und VerantwortungsträgerInnen. Zumindest in der Theorie erkennt der rechtsbasierte Entwicklungsansatz die bedeutende Rolle von informellen Vermittlungsstrukturen und Verantwortungsträgern wie lokalen Gemeinschaften oder Clans an.

Für die meisten armen und unterdrückten Gruppen sind die lokalen Strukturen, in denen sie ihr Leben, ihre Ressourcen und ihre Rechte aushandeln, die entscheidende Ebene. Viele Kulturen messen kollektiven Pflichten und Verantwortlichkeiten einen höheren Stellenwert zu als individuellen oder kollektiven Rechten. Dies ist für die Implementierung von rechtsbasierten Entwicklungsansätzen sehr bedeutend, die im Gegensatz dazu in der Praxis dahin tendieren, staatliche Autoritäten als die primären Verantwortungsträger zum Schutz von Rechten anzusehen und individuelle BürgerInnen als RechtsträgerInnen hervorheben. Rechtsbasierte Strategien und deren Bewertung sind bislang noch zu wenig entwickelt, um zu erfassen, wie und wo die meisten Menschen - insbesondere Frauen sowie unterdrückte und marginalisierte Gruppen - eine Bestätigung oder Verweigerung ihrer Rechte erfahren: in der Familie, im Clan oder in der Kaste.

Die Hierarchie von Rechten ist ein weiteres problematisches Feld. Die Rechte einiger Menschen - wie das Recht indigener Gemeinschaften auf ihre traditionellen Gebiete (z.B. die vom Staudammbau Betroffenen im Narmada-Tal in Indien) - stoßen offensichtlich manchmal auf ebenso gültige Rechte auf Erwerbsarbeit und Ernährungssicherheit anderer Gruppen (wie dürregeplagte BäuerInnen und LandarbeiterInnen in Kutch und Saurasthra). Ich möchte hier nicht in die Debatte einsteigen, wer letztendlich verantwortlich ist oder davon profitiert, diese Rechte gegeneinander auszuspielen. Ich versuche lediglich zu zeigen, dass es im Kern der Menschenrechte, und damit auch bei den rechtsbasierten Entwicklungsansätzen, eine große Anzahl ungelöster Probleme gibt.

Existenzsicherung durch Grundrechte

Der Diskurs über den rechtsbasierten Entwicklungsansatz hat sich mit all seinen ungelösten konzeptionellen und strategischen Problemen aus diesem umstrittenen Terrain entwickelt. Dabei sind rechtsbasierte Strategien selbst um einiges älter als der Diskurs über sie. Man könnte etwa argumentieren, dass alle anti-kolonialen Kämpfe rechtsbasierte Entwicklungsansätze waren. Oder dass eine große Anzahl der Kämpfe von marginalisierten Gruppen in den letzten fünfzig Jahren in unserem Land, wie die Bewegung der Dalits, BäuerInnen, ArbeiterInnen oder Frauen, auch rechtsbasierte Kämpfe um die gleiche Verteilung der Früchte der Entwicklung waren. Die Unterscheidung zwischen dem Diskurs der rechtsbasierten Entwicklung und den eigentlichen rechtsbasierten Bewegungen für Gleichheit, Entwicklung, Selbstbestimmung und Partizipation, die ohne Zweifel viel älter sind, ist äußerst wichtig.

Das Grundprinzip des rechtsbasierten Diskurses war, Entwicklung aus dem Reich des Privilegs herauszuholen und zu einem Recht zu machen, das "juristisch durchgesetzt", eingeklagt und geltend gemacht werden kann. Das Element der freiwilligen Befriedigung von menschlichen Grundbedürfnissen durch gütige Staaten sollte ersetzt werden durch die juristische Verpflichtung des Regimes, die Grundrechte der BürgerInnen festzuschreiben. Letztendlich wurde der rechtsbasierte Ansatz durch verschiedene internationale Nichtregierungsorganisationen entwickelt, um Menschenrechte und Entwicklung zu verknüpfen und die Lücke zwischen Armut und Rechten zu schließen.

Vertreter des Ansatzes argumentieren, dass Armutsminderung und das Recht auf ein angemessenes Einkommen, Gesundheit, Bildung, Frieden, Sicherheit und die Regierungsteilnahme keine Frage von Privilegien, Mildtätigkeit oder Entwicklungszielen sein sollten, sondern ein Grundrecht aller Menschen. Nach Auffassung einiger AnwältInnen des Rechtsansatzes wurde dieser entwickelt, um Menschen die Erfüllung ihrer Grundbedürfnisse durch die Forderung nach Grundrechten zu ermöglichen. Obwohl soziale und ökonomische Rechte offensichtlich im Zentrum des Ansatzes stehen, gilt dieser normalerweise als weitaus umfassender mit einem ganzheitlichen Verständnis von menschlichem Wohlergehen. Aber der rechtsbasierte Ansatz wurde so breit definiert, dass er fast seine Nützlichkeit verloren hat, da nahezu alle Verantwortlichen für sich in Anspruch nehmen, dass Rechte in ihren Politiken und Aktivitäten enthalten sind.

Der Ansatz bietet einige nützliche Möglichkeiten für diejenigen, die versuchen, Staaten oder andere machtvolle Institutionen zu mehr Verantwortung zu verpflichten, um gerechte und effektive Entwicklungsprogramme und fortschrittliche Gesetzgebungen zu verankern. Es ist aber schwierig, Gemeinschaften mit traditionalen Sozialstrukturen, deren Autoritätssysteme nicht durch formale Gesetze kontrolliert werden, zur Verantwortung zu ziehen. Ein Beispiel für dieses Defizit ist die Erarbeitung von geschlechtssensiblen Schulbüchern, während gleichzeitig die Schulabbruchquote von Mädchen unvermindert hoch bleibt. Das Recht auf Bildung für alle wird durch indisches Recht und die Politik zwar garantiert, aber de facto durch sich überschneidende Institutionen wie Familie, Kaste oder ökonomischen Status reguliert.

Mit anderen Worten, der rechtsbasierte Ansatz, wie er derzeit von Gebern artikuliert wird, nimmt weder eine angemessene oder explizite Analyse sozialer Macht vor, noch stellt er Strategien zur Verschiebung von Machtverhältnissen ins Zentrum, obgleich seine Prinzipien ohne Zweifel eine solche Analyse wertschätzen. Es bleibt also unklar, inwiefern der rechtsbasierte Ansatz seinen Vorgängern, dem bewusstseinsbildenden Ansatz, dem Empowermentansatz, dem Organisationsansatz, überlegen ist? Der einzige Vorteil scheint zu sein, dass viele NGOs, die in der Armutsbekämpfung oder der nachhaltigen Entwicklung arbeiten und nicht explizit eine Machtanalyse in ihren Ansätzen vornehmen, nun dazu angehalten sind, diese Machtverhältnisse zu thematisieren.

Rhetorik oder Praxis?

Der Rhetorik wird eine größere Bedeutung zugemessen als der Praxis. Die Sprache des Rechtsansatzes - wie beispielsweise "Anspruchhalter", "Verantwortliche", "Geltendmachung" oder "Verletzung" - großzügig in Anträgen und Fortschrittsberichten zu verteilen, ist entscheidend für die Mobilisierung von Ressourcen bei Gebern. Ältere Ansätze werden oft auf diese neue Rechtsrhetorik hin umgeschrieben. Und nicht zuletzt weisen Geber eindrucksvolle Empowermentstrategien und -bewegungen ab, weil sie ihre Arbeit nicht in die Rechtssprache verpacken.

Die Erfahrungen von Basisaktivisten in Indien und in anderen Teilen der Welt zeigen, dass in vielen kulturellen Kontexten die Sprache des Rechtsansatzes problematisch ist. Aus meiner eigenen Erfahrung heraus ziehen arme Frauen oft eine auf Verhandlung abzielende Terminologie und Instrumente vor, weil sie in ihrer Realität beständig mit der Verhandlung und Neuverhandlung ihrer Macht beschäftigt sind. Sie votieren öfter für Überzeugung und Konsensfindung als für Konfrontation. Sie überlegen sehr sorgsam, wann sie Sprache und Strategien von "Anrecht", "Forderung" und "Durchsetzung" einsetzen - oft erst wenn sie eine kritische Masse der Mobilisierung und der bewussten Politisierung erreicht haben. Denn die Begriffe an sich signalisieren die Bereitschaft zur Konfrontation. Frauen haben sich schon immer sehr sorgsam von der Verhandlung zur Konfrontation bewegt, weil sie im Falle einer Niederlage den Druck zu spüren bekommen, der von staatlichen und nicht-staatlichen AkteurInnen in lokalen Machtverhältnissen ausgeht.

Wer bewahrt Handlungsfähigkeit?

In vielen kulturellen Kontexten, wie z.B. in Gujarat in Indien kommen Frauen häufig mit der Verwendung des Diskurses von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit besser zurecht als mit Diskursen von Rechten und ihrer Geltendmachung. Diese kulturell spezifischen Modi der Realisierung von formal verbrieften Rechten und ihr Transfer in sozial sanktionierte Normen und Praktiken sind extrem machtvolle Modi der Veränderung. Die aggressive Rechtsrhetorik schreckt eine Reihe von in Wirklichkeit rechtsbasierten Bewegungen ab.

Letztlich, und vielleicht am allerwichtigsten ist, dass die kulturell spezifischen Alternativen zum rechtsbasierten Ansatz denjenigen einen wesentlich höheren Grad an Handlungsfähigkeit im Veränderungsprozess zugestehen, die am stärksten an den Rand gedrängt werden. Der Rechtsansatz überträgt oft die Handlungskompetenz an RechtsanwältInnen, NGO-LeiterInnen und gewählte RepräsentantInnen, deren Rechenschaft gegenüber den Marginalisierten schwach ist. Und Rechte gehen unzweifelhaft ‚schief', wenn diejenigen, für die am meisten auf dem Spiel steht, abhängig werden von externen AkteurInnen, um ihre Anliegen geltend zu machen. Wege der Inanspruchnahme, die darauf basieren, Gerechtigkeit und die Übernahme von Verantwortung zu fordern, nutzen nicht immer das formale System von Entschädigung, sondern sind oft weniger sichtbar. Sie bedeuten mehr Verhandlungen und sprechen eine Reihe von Machtstrukturen an, aber führen nicht notwendiger Weise zu schnellen und handfesten Ergebnissen. Die meisten von ihnen nutzen lokale Formen des Engagements und der Artikulation und sind nicht mit den Anwälten des Rechtsansatzes vertraut.

Es gibt einen dringenden Bedarf, insbesondere unter Entwicklungshilfeagenturen, das Verständnis von Rechten und dem rechtsbasierten Ansatz zu erweitern, zu vertiefen und - insbesondere auf der Ebene von Aktionsstrategien - zu differenzieren. Es ist Zeit, sich von Formeln und Rhetorik wegzubewegen, die auf elitärer Artikulation sowie auf formaler Governance und Entschädigungssystemen beruhen. Wir müssen besser zuhören, wie Menschen ihre Ziele und Strategien in Kämpfen artikulieren. Wir dürfen nicht unsere eigenen Mantren über richtige oder falsche Ansätze schaffen. Vielmehr müssen wir einen größeren Respekt entwickeln für die Breite des Repertoires an Mitteln, wie sie von marginalisierten Gruppen angewandt werden, um ihre eigene Handlungsfähigkeit und Artikulation auszuüben. Letztendlich resultieren sie in der Realisierung von nachhaltigen Rechten.

Anmerkungen:

[1] UN - United Nations (2003): Office of the High Commissioner for Human Rights: Guidelines for the Rights-based Approach to Development, New York.

[2] Mutua, Makau (2002): Human Rights: A Political and Cultural Critique, Philadelphia.

Srilatha Batliwala ist feministische Sozialwissenschaftlerin und arbeitet als Civil Society Research Fellow am Hauser Center for Nonprofit Organizations in Harvard.
Helen Schwenken hat den englischen Originalbeitrag für die Peripherie 27, 2007 übersetzt.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der Zeitschrift informationszentrum 3. welt (iz3w), Nr. 307.

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https://sopos.org/aufsaetze/48d41dbaeeb8f/1.phtml

sopos 9/2008