Zur normalen Fassung

Naturrecht auf soziale Geborgenheit und menschliche Würde

Versuch einer konzentrischen Umkreisung und konstellativen Annäherung

von Marcus Hawel (sopos)

"So ist's auch mit allem Guten und Großen
Es verkümmert rasch in dieser Welt.
Denn mit leerem Magen und mit bloßen
Füßen ist man nicht auf Größe eingestellt.
Man will nicht das Gute, sondern Geld
Und man ist von Kleinmut angehaucht.
Aber wenn der Gute etwas Geld hat
Hat er, was er doch zum Gutsein braucht."
Bertolt Brecht
(aus: Lied von der belebenden Wirkung des Geldes)

Nur die Reichen können sich einen schmalen neoliberalen Nachtwächterstaat leisten und ihre Anerkennung gegenüber einem Rechts- und Sozialstaat verweigern, heißt es. Aber es käme auch für sie zum Nachteil. Sich den naturrechtlichen Zusammenhang der verfassungsrechtlich verankerten menschlichen Würde sowie des Rechts- und Sozialstaatsgebots zu vergegenwärtigen, das heißt den Gründergeist des Grundgesetztes wiederzubeleben, wäre indes allgemein dringend zu empfehlen.

Verfassungen sind in der Regel bündig gehalten und bedürfen nicht selten eines erläuternden Kommentars, der das Geschäft von Staatsrechtlern, Verfassungsjuristen, Rechtsphilosophen und Politikwissenschaftlern ist - und weil es für eine offene demokratische Gesellschaft fatal wäre, nur diesen Spezialisten den Diskurs zu überlassen, ist es selbstverständlich auch das Geschäft aller, jedenfalls derer, die sich für den politischen Prozeß interessieren. Die öffentliche Auseinandersetzung ist geradezu eine unabdingbare Voraussetzung dafür, daß eine politische Verfassung lebendig ist, das heißt nicht vom gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang isoliert wird. Je näher die Verfassungswirklichkeit an der Verfassungsnorm ist, desto eher kann gesagt werden: Wir leben in einem Staat mit demokratischen Institutionen und Demokraten.

Der Begriff der Würde

Der Begriff der Würde kommt zum ersten Mal ins abendländische Bewußtsein durch den italienischen Renaissance-Philosophen und Humanisten Giovanni Pico della Mirandola. In De hominis dignitate (Über die Würde des Menschen), veröffentlicht 1496, führt er aus, warum der Mensch eine besondere Würde habe: Gott habe den Menschen in den Mittelpunkt gestellt und ihm im Gegensatz zu den Pflanzen oder Tieren den freien Willen gegeben, sich für oder gegen das Göttliche zu entscheiden. Er kann sich entweder dem Triebhaften oder dem Sittlichen hingeben.

Das Alltagsbewußtsein scheint daraus ein Verständnis abgeleitet zu haben, dem etwas Elitäres anhaftet. Es versteht unter Würde gleichsam den Charakter von Persönlichkeitswerten eines Menschen, die ihm etwa durch ein Amt oder als Würdenträger zukommen. Nur Wenige haben demnach Würde in sich verwirklicht. Die Masse der Alltagsbewußten habe es nicht. Solch exklusives Verständnis von Würde verträgt sich nicht mit unseren modernen Prinzipien, wonach jedem Menschen unabhängig seiner sozialen, ethnischen oder religiösen Herkunft gleichermaßen Würde zukommt, die laut unserem Grundgesetz, Artikel eins unantastbar ist.

Wenn aber nur ein kleiner Kreis von vornehmen Menschen Würde tatsächlich verwirklichen könnte, dann schützte Artikel eins nur das süße Leben der Reichen und Vornehmen, aber das Leben des Rests schützte er nicht. Ist vielleicht etwas dran an diesem Einwand? Machen nicht tagtäglich die allermeisten Menschen die fortwährende Erfahrung, daß ihr Leben einen Preis hat? Kant sagt, Würde hat keinen Preis. Wenn ihr Leben aber doch einen Preis hat, dann muß es würdelos sein.

Der Kantianer Friedrich Schiller schreibt in seiner Abhandlung Über Anmut und Würde aus dem Jahre 1793, daß die Würde des Menschen der Ausdruck einer erhabenen Gesinnung sei. Erhabenheit bedeutet aber nicht Arroganz oder Überheblichkeit, sondern: Sich haben, Bei-sich-Sein, oder mit Ernst Bloch ausgedrückt: Aufrechter Gang. Dem Wesen nach steckt in der Würde des Menschen für Schiller die Geistesfreiheit, vermöge einer moralischen Kraft die menschlichen Triebe zu beherrschen. Das unterscheidet dem Vermögen nach nicht den Menschen vom Menschen, sondern den Menschen vom Tier.

Nunmehr rückt bei Schiller die Bildung ins Zentrum und damit das Tier aus dem Blickfeld. Für Schiller ist Bildung ein dialektischer Begriff; er umfaßt zum einen die ästhetische Erziehung des Menschen im Sinne einer moralischen Verinnerlichung von Werten, die den Menschen in seiner Erscheinung vom Stande des Tieres unterscheidbar machen. Zum anderen bedeutet Bildung aber auch die Gestaltung des gesellschaftlichen Ganzen, d.h. einer Gesellschaft, in der der Mensch überhaupt erst den "gestirnten Himmel" über sich und das "moralische Gesetz" (Kant) in sich fähig wird wahrzunehmen, um tugendhaft zu sein.

Naturrecht und Würde

Der Gedanke, vermöge einer moralischen Kraft die menschlichen Triebe zu beherrschen, führt ohne Umschweife zur Naturrechtsphilosophie. Bei Thomas Hobbes ist der Mensch im Naturzustand dem Menschen ein Wolf (homo homini lupus).[1] Die Menschen befinden sich in einem Krieg aller gegen alle (bellum omnium contra omnes), weil für alle nicht alles gleichermaßen vorhanden ist, mithin ein materieller Mangelzustand die Habgier entfacht. Hobbes möchte, daß die Menschen aus diesem Naturzustand heraustreten und entwirft deshalb einen Gesellschafts- und Herrschaftsvertrag, der unter der Maßgabe des Schutzes aller vor Willkür, Gewalt und Not zu einem friedlichen Umgang, das heißt zum Verzicht auf Gewalt verpflichtet (protego ergo obligo). Der Leviathan, wie Hobbes diesen Staat nennt, schützt und verpflichtet. Kann aber dieser Staat keinen Schutz mehr gewährleisten, sind die Bürger auch nicht mehr dazu verpflichtet, das Gewaltmonopol anzuerkennen. In einem solchen Fall treten die Menschen wieder in den Naturzustand ein, und das bellum omnium contra omnes kehrt zurück: Jeder regelt seine Belange nach eigenen Kräften.

Für Hegel ist völlig klar, daß es zu einer Rückkehr in den Naturzustand niemals kommen darf. Schon allein deshalb sei es wichtig, daß der Staat nicht zu autoritär ist und womöglich Widerstand gegen ihn provoziert. Der bürgerliche Staat müsse sich von einer (vernünftigen) Autorität zu einer Autorität der Vernunft wandeln, weil mechanische, von oben aufgesetzte Herrschaft konfrontativ ist und nicht allgemein anerkannt werden kann. Herrschaft aber beruht auf Anerkennung. Das setzt Demokratie voraus, die Würde erst sicherstellen kann.

Rechtsstaat und Würde

Nicht bloß Demokratie, sondern konkret ein Rechts- und Sozialstaat garantieren die Einhaltung der menschlichen Würde.

Die rassistische Diskriminierung, der Massenmord an den Juden und auch die Verfolgung anderer Gruppen, etwa der Sinti und Roma, der Homosexuellen oder der Kommunisten während des Nationalsozialismus sind der Grund, warum unser Grundgesetz mit den Grundrechten beginnt, die alle eine explizit antifaschistische Stoßrichtung haben. Es beginnt mit der Fundamentalnorm: "Die Würde des Menschen ist unantastbar." Sämtliche Grundrechte haben einen postulativen Charakter, das heißt die Würde des Menschen soll nicht angetastet werden.

Schon dieser erste Artikel enthält, obwohl "nur" von der Würde die Rede ist, das Rechtstaatsgebot, das erst in der zweiten Fundamentalnorm (Artikel 20) konkretisiert wird. Die erste und die letzte Fundamentalnorm bilden somit einen Bogen im Sinne einer konkretisierenden Kreisbewegung, die an Hegels Dialektik erinnert: Am Ende ist man wieder am Anfang, und dieser Anfang ist reicher als der vorherige, weil in ihm nunmehr das Ende enthalten, genauso wie im Ende der Anfang aufgehoben ist.

Sozialstaat und Würde

Auch die Politische Ökonomie entscheidet darüber, inwieweit es möglich ist, ein würdevolles Leben zu führen. Karl Marx hat den von Kant aufgestellten kategorischen Imperativ, wonach man den Menschen niemals allein als bloßes Mittel, sondern immer zugleich auch als Zweck behandeln solle und wodurch erst sicher gestellt ist, daß die Würde des Menschen - die nach Kant keinen Preis hat - nicht angetastet wird, von seiner moralischen Ebene auf einen materialistischen Boden, das bedeutet "vom Kopf auf die Füße" gestellt: Es seien "alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist"[2]. Gesellschaftliche Verhältnisse, die den Menschen also zu einem bloßen Mittel, zur Ware Arbeitskraft, degradieren, tasten die Würde des Menschen an und sind nunmehr mit Marx und Kant als sittenwidrig zu bezeichnen. In diesem Sinne müßten solche Verhältnisse gemäß unserem Grundgesetz eigentlich auch als verfassungswidrig eingestuft werden.

Das Sozialstaatsgebot in Artikel 20 unseres Grundgesetzes steckt deshalb wie auch das Rechtsstaatsgebot bereits in Artikel eins. Es soll Abhilfe schaffen und die allgemeine Unantastbarkeit der menschlichen Würde seitens des Staates und des Kapitals garantieren. Inwieweit dies schon durch einen Sozialstaat oder erst in einem demokratischen, rechtstaatlichen Sozialismus wirklich garantiert wäre, soll hier unerörtert bleiben. Es soll aber darauf hingewiesen sein, daß das Grundgesetz mit Artikel eins auch einem utopischen Impuls folgt, mithin über das Bestehende hinausweist in Richtung einer zukünftigen Freiheit, die es erst noch zu verwirklichen gilt. Dies war das Thema von Wolfgang Abendroth oder auch von Jürgen Seifert gewesen, der in seinem Buch Kampf um Verfassungspositionen sehr hilfreiche Konkretisierungen ausgearbeitet hat.

Sozialstaat und Naturrecht

Der Politikwissenschaftler Ernst Fraenkel verweist auf die explizit naturrechtliche Verankerung des Sozialstaatsgebots, das in die Prinzipen des westlichen Verfassungswesens Eingang gefunden hat. Im ausgehenden 19. Jahrhundert und im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts hat die deutsche Arbeiterbewegung dafür gesorgt, daß der Gedanke der "sozialen Geborgenheit" - etwa durch das Postulat der Vollbeschäftigung und des Schutzes der Arbeitsstelle gegen willkürliche Entlassungen; durch die Institutionalisierung der Vorsorge im Krankheitsfall oder bei Unfällen, die zum Arbeitsausfall oder bei Invalidität sogar zur Arbeitsunfähigkeit führen usw. - zum Standard, das heißt zur regulativen Idee "westlicher Demokratien" werden konnte.[3] - Zunächst allerdings regte sich in anderen westlichen Ländern gegen diese regulative Idee auch Widerstand. In den USA z.B. wurde der Gedanke der sozialen Absicherung als "unamerikanisch" empfunden, weil dort sich die Idealisierung des Laisser-faire-Liberalismus - die Fortsetzung des bellum omnium contra omnes mit bürgerlichen Mitteln - in der Kultur festgesetzt hatte.

In seinem Vortrag "Deutschland und die westlichen Demokratien" zur Feier anläßlich des einjährigen Bestehens des Otto-Suhr-Instituts an der Humboldt Universität zu Berlin im Jahre 1960 sagte Fraenkel: "Wenn die Erkenntnis auch keineswegs generell durchgedrungen ist, so ist man sich doch in überraschend vielen glänzenden zeitgeschichtlichen und politologischen Publikationen des Auslands darüber einig, daß das Deutschland des ausgehenden 19. und des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts einen bedeutsamen und bleibenden Beitrag zu der Entwicklung des Staats- und Gesellschaftstyps beigesteuert hat, den man als ›westliche Demokratie‹ zu bezeichnen pflegt: den Gedanken der sozialen Geborgenheit. Es ist mehr als eine rhetorische Frage, ob die diesem Gedanken zugrunde liegenden Prinzipien in der Gegenwart nicht bereits die Gültigkeit von Sätzen des Naturrechts beanspruchen können."[4]

Zwischen 1933 und 1945, im "Dritten Reich", ist das Prinzip der "sozialen Geborgenheit" nicht abgebrochen, sehr wohl aber als Ideologie der "Volksgemeinschaft" pervertiert worden und hatte im Besonderen für die von der "Volksgemeinschaft" Ausgeschlossenen nichts anderes als die Hölle vorgesehen. Nach 1945 wird unter der Maßgabe der Gleichheit aller Menschen an die "soziale Geborgenheit" wieder angeknüpft und ebenso eine normative Lehre aus der soeben von den Alliierten niedergeschlagenen Barbarei gezogen, die sich vor allem in den beiden Fundamentalnormen des Grundgesetzes manifestiert. In Artikel eins heißt es deshalb: "Die Würde des Menschen ist unantastbar."

Der neu gegründete westdeutsche Staat verpflichtete sich als Rechts- und Sozialstaat gegenüber allen Menschen auf seinem Hoheitsgebiet ein würdevolles Leben, das heißt menschen- und bürgerrechtliche sowie soziale Absicherung zu gewährleisten. Diese geht zwar nicht soweit, daß jedem ein Recht auf eine Wohnung oder eine Arbeitsstelle garantiert wird - sehr wohl aber, daß bei Arbeitslosigkeit eine Grundsicherung verhindert, daß der Betroffene zu nach bürgerlichem Recht kriminellem Handeln gezwungen wäre, um zu überleben. Naturrechtsphilosophisch ausgedrückt: Es wird verhindert, daß jemand vereinzelt in den Naturzustand zurückfällt und moralisch nicht mehr an den Gesellschaftsvertrag gebunden wäre.

Naturrecht auf Widerstand gegen die Antastbarkeit der menschlichen Würde

Als sie noch respektierliche Journalistin war, schrieb Ulrike Marie Meinhof als Chefredakteurin der konkret im Jahr 1962 einen Aufsatz über Die Würde des Menschen. Darin erinnert sie, daß die Väter des Grundgesetzes, gezeichnet vom Scheitern der Weimarer Republik sowie von zwölf Jahren nationalsozialistischer Barbarei den Anspruch hatten, "völkerrechtlich, ethisch, moralisch, historisch, staatsrechtlich und menschlich die Basis einer durch keine Barbarei zerstörbaren Welt zu entwerfen"[5]. Meinhof führt zwei "Haupterkenntnisse" an, aus denen Konsequenzen für die Organisation von Staat und Gesellschaft gezogen wurden: Zum einen, daß die Würde des Menschen einzig und allein in einer Demokratie gesichert werde; zum anderen, daß Kriege unmenschlich seien und Demokratie zerstören, deshalb abgeschafft gehören. Was Meinhof an dieser Stelle nicht reflektierte, ist eine dritte Haupterkenntnis: Daß neben Diktatur und Krieg auch der Kapitalismus durch Ausbeutung und Verdinglichung die Würde des Menschen antastet.

Anfang der 1960er Jahre stand die Notstandsgesetzgebung im Zentrum des politischen Widerstands. Die Erfahrung der durch die Opposition nicht verhinderten Wiederbewaffnung im Jahre 1956 war noch nicht verblaßt. Beides: Wiederbewaffnung und Notstandsgesetzgebung bilden einen Zusammenhang. Sie sind dem Charakter nach eine traditionelle Resouveränisierung des Staates nach innen und außen - gemäß der Lehre von Carl Schmitt, wonach Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand (Notstand oder Krieg) verfügt.

Gegen diesen traditionellen, auf Carl Schmitt zurückgehenden Souveränitätsbegriff wurde 1948 das Grundgesetz in Stellung gebracht. In seiner ursprünglichen Fassung war es freiheitlich, antimilitärisch, antifaschistisch und wenigstens gegenüber dem Kapitalismus skeptisch. "Diese Grundpfeiler der Verfassung waren nicht nur eine Rechtskonstruktion, sondern zugleich ein politisches Programm. Dem innenpolitischen Gegner und dem außenpolitischen Kontrahenten sollte grundsätzlich, das hieß jetzt: grundgesetzlich - gewaltlos einerseits und mit vollem Rechtsschutz andererseits begegnet werden."[6]

Die Ergänzung des Grundgesetztes um den sogenannten Wehrartikel aus dem Jahr 1956, die die Wiederbewaffnung möglich machte, war das Resultat eines mehrjährigen Gärungsprozesses. Konrad Adenauer hatte bereits 1949 den westlichen Alliierten einen deutschen Verteidigungsbeitrag angeboten. Gustav Heinemann trat ein Jahr darauf aus Protest von seinem Amt als Bundesinnenminister zurück. Aufhalten konnte der überzeugte Pazifist Heinemann die Wiederbewaffnung, mit der der Prozeß der "militärpolitischen Normalisierung"[7] in Fahrt kam, auch mit der Gründung der "Notgemeinschaft für den Frieden Europas" nicht. Die Politik der Bundesregierung wich in zunehmendem Maße vom Geist des Grundgesetzes ab, so daß, um die Gesetzmäßigkeit des regierungsverantwortlichen Handelns wiederherzustellen, das Grundgesetz an die gewandelte Verfassungswirklichkeit angepaßt werden sollte. In Meinhofs klareren Worten: "Da man aber nicht erwog, die Politik zu ändern (...), wurde - konsequenterweise -, um die Legalität exekutiven Handelns zu erhalten, das Grundgesetz geändert, durch eine Erweiterung seines Inhalts, eine Verstümmelung seines Geistes."[8]

Anfang der 1960er Jahre kam eine weitere Konsequenz des restaurativen Ansinnens hinzu: die Absicht der Notstandsgesetzgebung. In der SPD regten sich, nachdem die Parteiführung auf eine Zustimmung zum Nato-Beitritt einschwenkte, die ersten Bundestagsabgeordneten (Adolf Arndt und Friedrich Schäfer), die, so Meinhof, "konstruktiv in die Notstandsdiskussion [einstiegen]"[9]. Nachdem schließlich die Mehrheit der SPD auf den Notstand eingeschwenkt war, wurde Wolfgang Abendroth als der wichtigste intellektuelle Gegner der Notstandsgesetzgebung aus der Partei ausgeschlossen. Meinhof zieht den bis heute geltenden Schluß: "Die Erkenntnis: Nur Demokratie sichert Menschenwürde, nur Waffenlosigkeit Friede - wäre damit aufgehoben (...). Von der Freiheit bliebe nur jene, für die Regierung zu sein, nicht gegen sie, jedenfalls nicht in Massen, nicht in harten Auseinandersetzungen, nicht in Streiks und Demonstrationen. (...) Oppositionelle Massen können in Zukunft wieder zusammengeschossen werden (...), und der Krieg braucht nicht mit den Mitteln kluger Politik verhindert zu werden, er würde einfach - gemäß dem dann neuen Selbstverständnis der Bundesrepublik, vororganisiert, für den ›Fall eines Notstands‹."[10]

Die 68er-Bewegung wurde in Deutschland zu einem großen Teil von der außerparlamentarischen Opposition, die sich gegen die Notstandsgesetze wirkmächtig formiert hatte, getragen. Man kann rückblickend immer noch ungetrübt erkennen, daß die APO für den Erhalt und die Konkretisierung der Demokratie, das heißt im Grunde gegen die Antastbarkeit der menschlichen Würde gekämpft hat. Als nach dem Attentat auf Rudi Dutschke in West-Berlin am 11. April 1968 eine Welle von Unruhen durch die Bundesrepublik ging, sagte Gustav Heinemann als Bundesjustizminister der Großen Koalition in einer Ansprache, das Grundgesetz enthalte das "Angebot", der Würde des Menschen volle Geltung zu verschaffen. Man müsse Kritik ernstnehmen, auch wenn sie aus der jungen Generation komme.[11]

Zwei der drei Hauptmechanismen, die die Würde des Menschen antasten, sind mit der Wiederbewaffnung und der Notstandsgesetzgebung wieder in Kraft gesetzt worden. Der dritte Hauptmechanismus war niemals außer Kraft, lediglich als "Rheinischer Kapitalismus" eingehegt.

Sukzessive Zerstörung des Sozialstaats

Die Bundesrepublik galt in den 1980er Jahren als ein sozialpolitisches Musterland, in dem hohe Löhne bezahlt werden, es eine breite Mittelschicht und einen breiten, intakten Wohlfahrtsstaat gab. Inzwischen ist Deutschland längst nicht mehr ein Vorzeigeland hinsichtlich sozialer Errungenschaften. Skandinavische Länder haben es den Rang abgelaufen.

In Deutschland muß sich die Verfassungswirklichkeit der Verfassungsnorm wieder deutlich annähern. Dies bedeutet etwa konkret die Zurücknahme der Agenda 2010 und im besonderen der Hartz IV-Gesetzgebung. In der Folge dieser Gesetze haben lediglich noch 60 Prozent der Arbeitenden in Deutschland einen Tarifvertrag und bereits jeder Dritte hat nicht einmal mehr einen sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplatz. Die Angst vor einem sozialen Abstieg greift um sich wie die Pest. Angst macht zuerst gefügig und dann unberechenbar; sie zersetzt den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Die Bereitschaft zu Mehrarbeit, Überstunden, Senkung der Löhne, der Verzicht auf Absicherung erhöhen den Grad der Ausbeutung immens. Bereits vier Millionen Menschen arbeiten im Niedriglohnsektor: in Minijobs, in Zeitarbeit oder Scheinselbständigkeit und werden durch das sogenannte Hartz IV (Arbeitslosengeld II) aufgestockt.

Wenn heute der Sozialstaat in Deutschland zerstört wird, scheint man sich wenig darüber im Klaren zu sein, daß dies den Gesellschaftsvertrag beträchtlich in Gefahr bringt und den Naturzustand für numerisch bedeutende Schichten virulent machen könnte. Mit anderen Worten: Staat und Gesellschaft sind mit dem Abbau der sozialen Fürsorge im Verschwinden begriffen. Denn man wird nicht erwarten können, daß Menschen, die nicht genug zum Leben haben, einfach schweigen, stumm verelenden und passiv sterben. Sie werden sich irgendwann schon holen, was sie zum Leben benötigen. Da man sie mit Gewalt daran hindern wird, haben sie um so mehr - in Anlehnung an ein Argument von Herbert Marcuse - ein Naturrecht auf Widerstand.

Widerstand ist dann die einzige Quelle von Würde, die dem bedrängten Subjekt noch bleibt, wenn diesem die materiellen Voraussetzungen für menschliche Würde seitens des Staates und der kapitalistischen Ökonomie - sei es durch politischen Terror oder durch soziale Verelendung - zerstört wurden. Die Gründungsväter wußten über diesen Zusammenhang sehr genau bescheid. In Artikel 20 GG ist das Sozial- und Rechtsstaatsgebot mit dem Recht auf Widerstand verankert, das in dem Augenblick zum Tragen kommt, wenn die freiheitlichen Grundwerte des Rechts- und Sozialstaats beseitigt werden.

Der Beitrag wurde auf Radio Flora (Hannover) im Rahmen der Sendung "Sopos On Air" am 4.3.2008 gesendet und kann als MP3 heruntergeladen werden.

Anmerkungen:

[1] Der Naturzustand ist bei Hobbes zwar nicht mit Natur gleichzusetzen. Dennoch hat Hobbes noch nicht richtig erkennen können, daß die Aggressionen, die den Bürgerkrieg in Gang bringen, im wesentlichen aus der Ökonomie motiviert sind. Er hat, ohne es richtig zu merken, vergesellschaftete Natur im Blick. Aber das ist hier nicht das Entscheidende. Hier geht es um die historische und philosophische Rekonstruktion der Begrifflichkeit des Naturrechts, aus der sich die gewordene Faktizität dieser Norm erklärt. Wichtig und für heute fruchtbar ist nicht die Konsequenz von Hobbes in Bezug auf einen autoritären Staat, sondern das Recht auf Widerstand des Einzelnen - die Freiheit des Naturzustandes - wenn die Gesellschaft und der Staat von ihrer Seite aus nicht mehr imstande oder nicht mehr gewillt sind, den Gesellschafts- und Herrschaftsvertrag einzuhalten, die nach dem Prinzip protego ergo obligo (ich schütze dich, also verpflichte ich dich) organisiert sind.

[2] MEW 1, S. 385.

[3] Es soll nicht verschwiegen werden, daß die Reformen der Wirtschafts- und Sozialstruktur unter Bismarck hauptsächlich deshalb zustande kamen, weil Bismarck die Tendenzen zur Eigeninitiative in der Arbeiterbewegung fürchtete. Der Gedanke der "sozialen Geborgenheit" wurde von Bismarck in seiner Sozialgesetzgebung aufgegriffen, bestimmt nicht, weil Bismarck ein besonders sozialer Mensch gewesen ist, sondern weil er gesehen hat, daß er damit der Arbeiterbewegung das Wasser abgraben kann.

[4] Ernst Fraenkel: "Deutschland und die westlichen Demokratien", in: ders.: Deutschland und die westlichen Demokratien, 4. Aufl., Stuttgart 1968, S. 32-47; S. 33.

[5] Ulrike Meinhof: "Die Würde des Menschen", in: konkret 10/1962; wiederabgedruckt in dies.: Die Würde des Menschen ist antastbar. Aufsätze und Polemiken. Mit einem Nachwort von Klaus Wagenbach, Berlin 1986, S. 27-30; S. 27.

[6] Meinhof, a.a.O., S. 28.

[7] Siehe Marcus Hawel: Die normalisierte Nation. Vergangenheitsbewältigung und Außenpolitik in Deutschland. Mit einem Vorwort von Moshe Zuckermann, Hannover 2007.

[8] Meinhof, a.a.O.

[9] Meinhof, a.a.O., S. 29.

[10] Meinhof, a.a.O., S. 30.

[11] Vgl. Archiv der Gegenwart, 26.4.1968, S. 13886.

Zur normalen Fassung


https://sopos.org/aufsaetze/47f04ae978b3b/1.phtml

sopos 3/2008