von Lene Kempe
Der Anfang Dezember in Lissabon einberufene EU-Afrika-Gipfel erregte viel Aufsehen, nicht zuletzt, weil dort eine "entwicklungsbezogene und partnerschaftliche Handelspolitik" in den medialen Vordergrund geschoben wurde. De Facto tritt die EU auf der internationalen Bühne immer häufiger als aggressive Globalisierungsakteurin in Erscheinung, die vor allem ihre eigenen neoliberalen Interessen verfolgt. So verhandelt die Europäische Kommission in Brüssel derzeit in enormem Tempo und weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit mit mehreren Staaten über umfassende Freihandelsverträge. Dies geschieht im Rahmen eines "ambitionierten Aktionsprogramms"[1], das der Europäische Handelskommissar Peter Mandelson bereits im Oktober 2006 offiziell vorstellte. Die Strategie trägt den Titel "Ein wettbewerbsfähiges Europa in einer Globalen Welt. Ein Beitrag zur EU-Strategie für Wachstum und Beschäftigung"[2], kurz auch Global Europe-Strategie genannt.
Die darin formulierte handelspolitische Agenda soll Europa den Zielen von Wachstum und Beschäftigung näher bringen. Das Global Europe-Papier versteht sich dabei ausdrücklich als Beitrag zur umfassenden Lissabon-Strategie der EU. Den internen und den globalen Herausforderungen soll mit einer schlüssigen Gesamtstrategie begegnen werden, um Europas "Chancen in einer globalisierten Wirtschaft" zu wahren. Zu diesem Zweck wird die ohnehin verstärkte Hinwendung der EU zu einem handelspolitischen Bilateralismus nun auch programmatisch festgeschrieben.
Die Idee ist einfach: Eine neue Generation bilateraler Freihandels- und Investitionsabkommen zwischen der Union und wirtschaftlich wichtigen Schlüsselpartnern soll die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen transnationalen Unternehmen stärken. Zwar erklärt die Kommission ausdrücklich, sie sehe sich auch zukünftig der WTO und ihrem handelspolitischen Multilateralismus verpflichtet. Bilaterale Verträge werden jedoch als notwendige Ergänzung zur Sicherung dieser Zielvorgaben angesehen.
Diese Tendenz ist keineswegs neu. Faktisch versucht Europa schon seit langem eine ganze Reihe ehrgeiziger "WTO plus-Ziele", die laut Kommission "noch nicht reif sind für multilaterale Gespräche", im Rahmen bilateraler oder regionaler Abkommen im Alleingang voranzutreiben. Dies geschieht auch und gerade mit Blick auf den wirtschaftlichen Konkurrenten USA. Beispiele hierfür sind etwa die bereits geschlossenen Abkommen der EU mit Chile, Mexiko oder den ASEAN-Staaten, in denen diesen Ländern teils sehr weit reichende Zugeständnisse abgerungen wurden.
So werden handelspolitische Ziele vorangetrieben, die weit über die WTO-Agenda hinausreichen. Diese Ziele sind in dem neuen Strategiepapier der Kommission klar formuliert: Es geht der EU um den umfassenden Abbau aller nichttarifären Handelshemmnisse (also Hemmnisse jenseits von Zöllen und Steuern, wie etwa Produkt- und Umweltnormen), den ungehinderten Zugang zu Energie und Rohstoffen, den verschärften Schutz geistiger Eigentumsrechte, die beschleunigte Öffnung von Dienstleistungsmärkten, die Liberalisierung öffentlicher Beschaffungsmärkte sowie ungehinderte Niederlassungsfreiheit. Damit kommen auch die so genannten Singapur-Themen wieder auf den Tisch (Investitionen, Wettbewerb, öffentliches Beschaffungswesen und Handelserleichterungen), die innerhalb der WTO 2003 gescheitert waren.
Vorangetrieben wurde die Global Europe-Strategie vor allem von der EU-Kommission in Brüssel. Dies geschah im Rahmen intensiver Lobbyarbeit und kontinuierlicher Kooperation von Kommission und Industrie. Von Anfang an wurden große europäische Konzerne und Wirtschaftsverbände konsultiert, wenn es um konkrete Inhalte ging. Textentwürfe wurden der Industrie zur Kommentierung geschickt und Wirtschaftsverbände wie BusinessEurope oder der Bundesverband der Deutschen Industrie zu Gesprächen geladen. Die nationalen Regierungen, allen voran die deutsche, haben die Strategie im November 2006 ohne großes Aufsehen abgesegnet. Ohne demokratische Beteiligung und effektive Kontrolle, etwa durch Parlamente oder Akteure der Zivilgesellschaft, werden diese Prozesse derzeit rasant vorangetrieben.
Die von EU-Kommission und Industrie festgelegten Zielvorgaben werden derzeit im Rahmen unterschiedlicher bilateraler und regionaler Prozesse verhandelt. Hierfür hat die Kommission unter anderem weitreichende Mandate für Verhandlungen mit wirtschaftlichen "Schlüsselländern" ausgearbeitet. Im Blickpunkt stehen die Schwellenländer, die als Märkte der Zukunft gelten. Als ökonomische Auswahlkriterien galten das wirtschaftliche Potential, also Größe und Wachstum der Länder, sowie das Ausmaß bestehender Handelsbarrieren gegenüber der EU. Aber auch Freihandelsabkommen oder laufende Verhandlungen mit "Wettbewerbern der EU"- vor allem mit den USA - waren für die Wahl der neuen Partner ausschlaggebend.
In diesem Sinne begann die EU Ende Juni Verhandlungen mit Indien und im Mai mit Südkorea. Letztere scheinen sich bislang jedoch schwierig zu gestalten. So hat sich Südkorea beispielsweise in der fünften Verhandlungsrunde im November nicht bereit erklärt, auf nichttarifäre Handelshemmnisse im Automobilbereich gänzlich zu verzichten - eine zentrale Forderung der EU. Dennoch soll der Vertrag Mitte 2008 unter Dach und Fach sein. Auch für sieben der insgesamt zehn ASEAN-Staaten werden derzeit von einem gemeinsamen Ausschuß genaue Modalitäten und ein Ablaufplan für die voraussichtlich Anfang 2008 beginnenden Verhandlungen erarbeitet. Hier könnte es bei einzelnen Verträgen bleiben, da die EU Verhandlungen mit Burma umgehen will. Auch die wirtschaftlich schwachen Staaten Laos und Kambodscha sind bislang ausgenommen.
Weitere Verhandlungsmandate der EU liegen für die zentralamerikanischen Länder und die Anden-Staaten vor. Neben diesen neu angestoßenen Prozessen steht eine Aktualisierung der China-, Rußland- und Ukraine-Abkommen auf dem Programm. Und auch im Rahmen der Ende 2008 abzuschließenden "Economic Partnership Agreements" (EPAs) mit den AKP-Staaten (Afrika, Karibik und Pazifik) sowie im euromediterranen Prozeß versucht die EU ihre neue Außenhandelsagenda voran zutreiben.
Die EU-Agenda hat für die betreffenden Staaten weit reichende Folgen. Mit den Bereichen Investitionsliberalisierung, Niederlassungsfreiheit und öffentliches Beschaffungswesen etwa, hat Europa in den bilateralen Abkommen im Alleingang Themen revitalisiert, die im Rahmen der WTO gerade am Widerstand der Entwicklungsländer gescheitert waren.
Für den Bereich der Investitionen wurde im November 2006 eigens eine Minimum Platform on Investment for EU FTAs (MPoI) verabschiedet. Dieses Rahmenprogramm soll allen zukünftigen Free Trade Agreements (FTAs) beigefügt werden und stellt einen Minimalkonsens zwischen den Mitgliedsstaaten der EU über den Inhalt solcher Investitionsabkommen dar. Während Fragen des Investitionsschutzes scheinbar weitestgehend dem Wirkungsbereich von bilateralen Investitionsabkommen (BITs) zwischen einzelnen EU-Ländern und Drittstaaten überlassen bleiben, forciert die MPoI in erster Linie den freien Marktzugang für europäische Unternehmen in den jeweiligen Partnerstaaten. Mit den Klauseln zur so genannten Nichtdiskriminierung, Inländerbehandlung und Meistbegünstigung werden europäischen Investoren umfassende Marktzugangsrechte eingeräumt - ohne daß diese eigenständig einen Vertrag mit den jeweiligen Staaten abschließen müßten.
Die Gestaltungsmöglichkeiten nationaler Wirtschaftspolitiken werden dadurch maßgeblich eingeschränkt. Vorgaben hinsichtlich der Einhaltung von sozialen und ökologischen Standards, wie sie etwa die ILO-Kernarbeitsnormen darstellen, werden lediglich in der Form einer "non lowering of standards"-Klausel angesprochen. Diese verpflichtet die Vertragsstaaten, Direktinvestitionen nicht dadurch zu fördern, daß sie ihre sozialen und Umweltstandards senken. Damit wird primär der rechtliche und faktische Status Quo festgeschrieben. Eine Verschärfung nationaler Gesetzgebungen zur Verbesserung von teils höchst prekären Arbeits- und Lebensbedingungen sowie Umweltstandards wird nicht gefördert. Überdies werden hier zwar die jeweiligen Staaten, nicht aber die Konzerne in die Pflicht genommen, obwohl letztere die eigentlich entscheidenden Akteure bei der Durchsetzung sozialer und ökologischer Standards sind.
Europa wittert in erster Linie ein enormes wirtschaftliches Potential für seine Unternehmen und setzt deshalb bei entwicklungsstrategischen, sozialen und ökologischen Fragen lieber auf deren "good will". So auch im Bereich der öffentlichen Auftragsvergabe, die vom Autobahnbau bis zur Gebäudesanierung reicht. Schließlich wird die Größe der Beschaffungsmärkte schon heute etwa auf 80 Milliarden US-Dollar in Indien, auf 40 Milliarden US-Dollar in Brasilien und auf jeweils 25 Milliarden US-Dollar in China und Rußland geschätzt. Um - wie es die Kommission formuliert - "Anreize" zur Marktöffnung zu schaffen, wird im Global Europe-Papier laut über gezielte Zugangsbeschränkungen für Teile des EU-Beschaffungsmarktes nachgedacht, wenn auch als allerletztes Mittel. Angesichts der Größe und bisherigen Offenheit des EU-Marktes dürften derartige Drohungen eine nicht unerhebliche Wirkung entfalten.
Europa - so scheint es - wird sich mehr und mehr der eigenen Verwundbarkeit bewußt. Die weit reichende Liberalisierungsagenda der Lissabon-Strategie hat den europäischen Markt nicht nur noch offener, sondern auch krisenanfälliger gemacht. Und so liest sich die neue Strategie der Kommission gleichsam wie eine Hinwendung zu einer offen aggressiven Handelspolitik, die in erster Linie europäische Wettbewerbsvorteile sichern will. Damit verbunden ist eine höchst selektive und rein nach ökonomischen Kriterien funktionierende Wahl der zukünftigen "Verhandlungspartner". Kleine und arme Länder drohen damit endgültig ins Abseits zu geraten. Denn die "Partner" Europas sollen vor allem eines bieten: wirtschaftliches Potential für EU-Unternehmen.
[1] Europäische Gemeinschaft, 1995-2007.
[2] Kommission der Europäischen Gemeinschaft: Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuß und den Ausschuß der Regionen: Ein wettbewerbsfähiges Europa in einer Globalisierten Welt. Ein Beitrag zur EU-Strategie für Wachstum und Beschäftigung. Brüssel, den 4. Oktober 2006.
Lene Kempe lebt in Marburg und studiert Politikwissenschaft.
Dieser Beitrag erschienen zuerst in der Zeitschrift informationszentrum 3. welt (iz3w), Nr. 304.
https://sopos.org/aufsaetze/47cdf28c5b9eb/1.phtml
sopos 3/2008