Peter Konwitschny
im Gespräch mit Tatjana Freytag und Marcus Hawel[x]
»Die Geschichte schläft nicht. Auch wenn wir uns mit Unsinn zu viel beschäftigen und an wesentliche Dinge nicht rangehen, geht die Geschichte weiter, und sie sucht sich dann ganz sicher die schlimmste Möglichkeit.«
Peter Konwitschny
Marcus Hawel: Peter Konwitschny, Sie sagen, es geht im Theater darum, das Leiden an den falschen politischen Zuständen beredt werden zu lassen. Die Aufgabe der Kunst sei es zu verdeutlichen, dass die Welt besser werden soll. Kann denn Theater als eine Form informeller Politik für die institutionelle Politik ein Korrektiv sein?
Peter Konwitschny: Wenn man den Begriff der Politik an dem Ideal der Polis misst, dann hat das Theater eine politische Funktion. Die institutionalisierte Politik ist inzwischen – möglicherweise auch schon immer – sehr weit abgerückt von den Idealen der Polis. Informelle Politik wird immer dann zu einem Korrektiv für die institutionalisierte Politik, wenn viele Menschen sich ihrer Bedeutung oder Notwendigkeit bewusst werden und sich der informellen Politik annehmen.
Tatjana Freytag: Worin besteht Ihrer Ansicht nach die Aufgabe von Theater?
P.K.: Die Aufgabe von Theater ist modellhaft bei den alten Griechen zu erkennen.
M.H.: Sie besteht in der Einübung von politischen und sozialen Tugenden.
P.K.: Ja, darin. Es ist ein kollektiver Vorgang, der z.B. nicht durch das Fernsehen ersetzt werden kann, wo bei der Ausstrahlung von Filmen Zuschauer nicht anwesend sind und die gedrehten Szenen manchmal bis zu einem Jahr auseinander liegen und anschließend zusammengeschnitten werden. Der Film ist zwar auch für Zuschauer gemacht, aber es kann keine Kommunikation untereinander zu Stande kommen. Das Fernsehen gibt Impulse, bekommt aber keine zurück. Im Theater ist das anders. Dort ist eine Diskussion zwischen Bühne und Zuschauerraum, dort werden wesentliche Fragen des Lebens in der Gemeinschaft diskutiert. Das Material dafür sind die Stücke, und es gibt einen Impuls hin zum Publikum und vom Publikum wieder zurück auf die Bühne.
T.F.: Mit anderen Worten, es findet eine Art kollektive Selbstvergewisserung statt.
P.K.: Ganz genau.
M.H.: Theater ist damit ein kleiner Kosmos, der ein bisschen geschlossen, stilisiert und modellhaft ist, aber so funktioniert wie ein größeres politisches Gemeinwesen.
P.K.: Theater war einmal entscheidend an der Nahtstelle von Stamm zu Staat geworden. Das war eine neue Organisationsform. Im Stamm kannten sich alle Menschen persönlich. Der Staat begann dort, wo sich nicht mehr alle persönlich kannten, weil es zu viele Menschen auf einem Raum wurden. Man musste neue Kommunikationsformen finden. Damit sich überhaupt so ein neues Gebilde wie ein Staat bilden und festigen konnte, war diese Kommunikation z.B. im Theater wichtig. Man musste einige Gesetzlichkeiten finden, die nötig waren. Funktionieren können diese aber nur, wenn jeder Einzelne sie verinnerlicht. Bei diesem Prozess ist das Theater einfach sehr geeignet aufgrund der Katharsis, die es leisten kann. Wenn es stark ist, dann verlässt man das Theater als ein anderer.
Im Theater wird richtiges Verhalten – was immer das auch im Einzelnen sei – eingeübt, indem es von Menschen auf der Bühne vorgemacht wird, mit denen ich mich identifiziere. Ganz selbstverständlich und wie bei einem Kind oder einem kleinen Tier geschieht das: Man sieht etwas und macht es nach. Die Mimesis geht durch meine Kontrollmechanismen hindurch, wenn die Darstellung gut ist. Gerade in der Oper hat man wegen der Musik weniger Möglichkeiten, die mimetischen Impulse zu kontrollieren.
M.H.: Aber Theater sollte nicht manipulativ sein.
P.K.: Nein. Fernsehen ist manipulativ, weil es keinen Austausch von Impulsen zwischen Produzent und Zuschauer gibt. Das Theater ist dagegen eher listig. – Wenn es gut ist, regt es zum selbstständigen Denken in die richtige Richtung an. Deshalb finde ich es für unsere zivilisatorischen Reglements wichtig, Theater zu erhalten.
T.F.: Statt dessen wird es betriebswirtschaftlich zurechtgezurrt, ...
P.K.: Ja, wie Oskar Negt sagt, nach Nutzen und Ertrag zu einem betriebswirtschaftlichen Ding gemacht. Das ist ein Irrsinn.
Was kann Theater noch leisten, wenn es nur eine Zufluchtstätte ist?
M.H.: Aber selbst, wenn Theater von der betriebswirtschaftlichen Logik ausgenommen werden würde, ist das Umfeld darum von der betriebswirtschaftlichen Logik mehr und mehr affiziert. Was kann da Theater noch leisten, wenn es nur eine Zufluchtstätte ist, mit Negts Worten eine »Insel der Reflexion« und der Katharsis, während außerhalb dieser aber eine betriebswirtschaftlich logifizierte Wüste herrscht, in der wir leben und arbeiten müssen?
P.K.: Bei dem Gedanken, dass alles schon zu spät sein könnte, sage ich immer etwas ironisch: Das Theater und besonders die Oper können uns retten. Im ganz großen Stile! Wenn ich etwas zu sagen hätte, würde ich einfach anordnen, dass jeder ins Theater und eben auch in die Oper gehen muss. Nicht einfach so, sondern mit Vorbereitung. Insbesondere verantwortliche Leute, d.h. diejenigen, die besondere Verantwortung tragen, müssten sich meiner »Operndiktatur« unterwerfen. Dann könnten wir das Schlimmste noch verhindern.
T.F.: Was ist das Besondere an der Oper, was sie in den Stand versetzt, das Schlimmste zu verhindern?
P.K.: Zuerst einmal die Musik, das Singen. Vor 200 oder 300 Jahren war das Singen im Alltag noch verbreitet gewesen. Bei der Arbeit und während der Freizeit besaß das Singen eine wichtige psychologische Bedeutung. Man war singend in der Welt und damit in einem inneren und äußerlichen Dialog, gleichsam sich selbst therapierend. Das ist heute sehr reduziert, domestiziert und technisiert worden. Wenn man heute auf der Straße singen würde, dann würde man vielleicht nicht lange warten müssen, bis jemand mit einer »weißen Jacke« kommt. Ich denke, dass das Singen grundsätzlich nur noch in der Oper angesagt ist, weil es sonst tabuisiert ist. Es erinnert schon sehr stark daran, wie wichtig dieses Element der Mitteilung ist. Man kann Gesang nicht völlig in Worte übersetzen; da bleibt ein Rest, dem man sich intuitiv und mimetisch, d.h. auch kathartisch nähert.
M.H.: Das hört sich an, als wenn es nur auf die Form ankommt, dass der Inhalt dabei egal wäre. Es wird eben gesungen. Aber was gesungen wird, die Inhalte, die durch den Gesang transportiert werden, haben eine Wirkung, die man auch gezielt einsetzen kann. Zum Beispiel kann man sich durch Gesang mimetisch in eine Volksgemeinschaft einstimmen. Nur die Reflexion könnte das doch verhindern.
P.K.: Trotzdem. Ich würde sagen, dass es erst einmal unabhängig von einem Inhalt ist. Es ist eine Seinsweise der Oper, dass gesungen und musiziert wird. Im Musikalischen ist die Muse nicht weit entfernt. – Die Oper hat noch andere Möglichkeiten. Sie hebt die Entfremdung auf. Damit ist sie gegenläufig zum herrschenden Trend. Und selbstverständlich, die Inhalte sind genauso wichtig. Ich denke aber, dass es kein schlechtes Stück gibt. Jedes Stück hat uns eine wichtige politische Botschaft mitzuteilen. Was diese Behauptung vielleicht für manche schwer nachvollziehbar macht, ist die zeitliche Kluft, die in den meisten Fällen zwischen uns und den Werken liegt. Die Rezeptionsgeschichte, insbesondere die des 19. Jahrhunderts, verstellt und die Werke. Viele Gegenstände sind für uns deswegen schlecht erkennbar, ...
T.F.: ... weil sie ihren Zeitkern der Wahrheit verloren haben.
P.K.: Das betrifft geistige Dinge, alles mögliche. Man muss sich darüber im Klaren sein, dass es so ist. Man kann deshalb die Opern nicht mehr so inszenieren, wie sie im 19. Jahrhundert geschrieben und aufgeführt wurden.
M.H.: Das bürgerliche Theater war dem eigenen Anspruch nach eine moralische Anstalt. Jedenfalls hat es Lessing so formuliert. Auf der Bühne sind sowohl in der Oper als auch im Theater Stoffe dargestellt worden, in denen es darum ging, ein standesgemäßes Verhalten vorzuführen – zum Beispiel in Bezug auf die Liebe: Darf jemand aus dem bürgerlichen Stand eine Tochter aus dem Adel lieben und heiraten? Auf der Bühne werden die üblichen damit verbundenen Konflikte gezeigt. Also Habitusformen sind auf der Bühne vorexerziert worden mit der Absicht, dass das Publikum in bestimmter, d.h. bürgerlicher Weise erzogen wird. Mit anderen Worten, das Theater und die Oper hatten auch eine erzieherische Aufgabe gehabt, die dazu diente dem Bürgertum Selbstbewusstsein zu vermitteln. Kann man sagen, dass Theater heute diese Funktion noch hat, oder hat es heute eine andere?
P.K.: Ich würde sagen, in abgewandelter Form hat es diese Funktion auch heute noch. Ich hatte das Glück, Heiner Müller persönlich kennenzulernen. Zuerst denkt man, er ist Zyniker, gerade Westleute denken das, die ihn und sein Umfeld nicht wirklich kennenlernen konnten. Für mich sind Heiner Müller und natürlich Brecht die größten Moralisten unserer Zeit.
M.H.: Von Brecht wird gesagt, dass er einen moralischen Zeigefinger hatte.
P.K.: Nein, das würde ich nicht sagen. Ich halte das nur für eine Abwehrreaktion. Die Brisanz, die von Brecht ausgeht, wird auf diese Weise entschärft. Wo soll der Zeigefinger sein? Nehmen wir z.B. das Stück Die Mutter von Brecht – angelehnt an den gleichnamigen Roman von Maxim Gorki – Ende der zwanziger Jahre geschrieben. Darin geht es um die Trockenlegung eines Sumpfes. Der Fabrikherr, der seine Fabrik auf dem trocken zu legenden Sumpf erweitern will und damit sein Geld machen möchte, will die Trockenlegung damit finanzieren, dass er den Arbeitern eine Kopeke von ihrem Lohn abzieht. Während dessen politisieren sich aber die Arbeiter. Der ungerechte Gedanke des Fabrikanten, der die Fabrik besitzt und seine Kosten auf die Arbeiter abwälzen will, führt zur Politisierung der Arbeiter und zum politischen Kampf. Das ist wirklich dialektisch: Die Mutter, die ihrem Sohn Pawel zunächst verbietet, sich mit Politik zu beschäftigen, wird dann die politischste Figur überhaupt, weil sie mit einer Kopeke weniger, die ihr Sohn nach Hause bringt, nicht mehr imstande ist, die tägliche Suppe zu kochen. Sie kann in die Suppe so gut wie gar nichts mehr hinein tun. Sie kann gleich Wasser in die Teller einschenken. Ohne, dass sie es will, wird die Mutter sehr politisch. Das finde ich erstens in der Sache richtig, und zweitens ist das nicht zeigefingerhaft. Das ist allerhöchstens eine Interpretationsfrage. Man muss es selbstverständlich inszenieren, ohne Zeigefinger, vielmehr mit dem in der in der Sache liegenden Humor, der allerdings bei Gorki nicht so deutlich zu erkennen ist wie bei Brecht. Das ist aber verständlich, weil Gorki viel näher an der Not dran war, und weil Brecht der größte Dramatiker des letzten Jahrhunderts ist. Ich finde es gerechtfertigt, politisch und d.h. eben auch moralisch zu sein.
Selbstverständlich meinen Lessing und Schiller das Politische, wenn sie von Moral reden.
T.F.: Man kann das Politische auch nivellieren, indem man moralisch wird.
P.K.: Ja, das auch. Aber selbstverständlich meinen Lessing und Schiller das Politische, wenn sie von Moral reden. Sie zeigen, was für ein Unrecht es ist, wenn gesagt wird, weil man von dieser Schicht oder Klasse sei und jener aus einer anderen, dürfe man sich nicht lieben und heiraten. In Kabale und Liebe thematisiert Schiller die Verhinderung von Liebe aufgrund der Klassenschranken. Lessing, Büchner und Wagner, Mozart und Nono haben alle etwas gemeinsam, das einem Hauptnenner entspricht: Sie behaupten das Leben und ergreifen Partei für die Opfer. Bei Tristan und Isolde ist eben nicht gemeint, dass wer zu viel liebt, untergeht. Nicht, dass man nicht zu viel oder zu intensiv lieben dürfe, sondern Tristan und Isolde will uns sagen: Wer lieben will, und das heißt, wer leben will, der muss sich von diesen idiotischen Verbindlichkeiten freimachen, damit er auch Raum und Zeit hat zu leben. Der darf eben nicht bloß funktionieren und immer nur das, was man ihm gesagt hat, tun. Das ist ganz subversiv. Das ist genauso subversiv wie Woyzeck oder Kabale und Liebe.
M.H.: Ich möchte noch einmal auf Brecht und Die Mutter zurückkommen. Brecht ist auch daran interessiert, diese Veränderungsprozesse, die in einer Person wie der Mutter vor sich gehen, auf eine Weise darzustellen, dass deutlich wird, wie wenig das mit dieser konkreten Person zu tun hat, sondern mit Umständen: sozialen Verhältnissen, die sich wandeln. Brecht verdeutlicht diese politisierenden Prozesse exemplarisch an der Mutter, aber genauso kann es auch dem Handwerksgesellen oder sonstwem ergehen. Brecht verdeutlicht dies z.B., indem die Schauspieler aus ihren Rollen heraustreten, so dass man erfährt, dass der Schauspieler nur eine Rolle spielt; genausogut könnte jemand anderes in diese Rolle hineinschlüpfen und weiterspielen. Mit diesen und noch diversen anderen Effekten, die Brecht Verfremdungseffekte nennt, lenkt er die Aufmerksamkeit des Publikums auf die Reflexion, weil die übliche oder besser traditionelle Reibungslosigkeit von Theater, die Atmosphäre erzeugte, mit welcher das Publikum im Bann gehalten wurde, gestört wird. Man könnte in diesem Sinne vielleicht Brechtsches Theater in Abgrenzung zum herkömmlichen Aristotelischen, d.h. traditionellen Theater als kritisches Theater bezeichnen. Aber dieser Verfremdungseffekt scheint in der heutigen Zeit seine kritische Wirkmächtigkeit verloren zu haben. Stattdessen scheint er zunehmend Belustigung und nur Belustigung hervorzurufen, so dass er genau das, was er möglich machen sollte: kritische Reflexion – nunmehr verhindert.
P.K.: Ich würde diesbezüglich gerne unterscheiden zwischen Methode und Technik. Es wird viel klarer an dem Punkt, dass eine Bühne hell und die Farbe grau sein muss. Das hat Brecht einmal gesagt. Es muss hell sein auf der Bühne. Die Methode wäre, dass Licht in die Verhältnisse kommen muss. Die Technik wäre, dass die Bühne demzufolge hell sein muss. Die Methode ist meiner Ansicht nach nicht gebunden an eine bestimmte Zeit oder eine bestimmte Form, die vorliegt. Wohl aber die Technik. Um die Jahrhundertwende des 19. Jahrhunderts war das Theater immer diffuser, nebulöser, dunkler, düsterer geworden – da war kein Licht mehr auf der Bühne. Damit wurde eine Atmosphäre erzeugt, die das ganze Geschehen entpolitisiert hat, so dass man mit seinem Geist auch nicht mehr dahinter oder dazwischen gelangen konnte ...
Die Bühne muss grundsätzlich hell sein...
M.H.: ... weil die Sinne einen überwältigten ...
P.K.: ... und zwar in asozialer Weise. Deswegen hat Brecht gesagt, dass man es anders machen soll: Die Bühne muss grundsätzlich hell sein, und wenn wir eine dunkle Szene zeigen wollen, dann muss eben in dieser Helligkeit jemand mit einer brennenden Kerze über die Bühne gehen. Dann weiß der Zuschauer, das geschieht eigentlich im Dunkeln. Aus dieser Methode haben aber Dümmlinge eine mechanische Technik gemacht und haben in den 50er und 60er Jahren verlangt, dass die Bühne immer hell sein muss. Genau dieser Effekt, den Sie beschreiben, dass sich kein Mensch mehr von den Verfremdungen zur Reflexion anleiten lässt, ist hier entstanden. Da ist kein Licht mehr in die Verhältnisse gebracht worden. Es ist mechanisiert oder verdinglicht worden. Für mich als Regisseur ist deshalb die Frage interessant, mit welchen Techniken ich auf der Bühne Licht in die Verhältnisse bringen kann. Es kann manchmal sehr gut sein, die Bühne zu diesem Zweck ganz dunkel zu lassen. Das ist dann aber nicht mechanisch. Und das Aus-der-Rolle-treten ist ebenso vom Kontext abhängig. Die Gefahr besteht darin, dass es zur Masche, gleichsam zu einem rein technischen Vorgang werden kann, die Schauspieler aus ihren Rollen treten zu lassen. – Das wäre die pornografische Variante. Für mich gibt es Pornografie in jedem Bereich. Sie ist für mich die Abspaltung eines Details vom Ganzen. Zum Beispiel Stimmen-Pornografie besteht darin, nur noch für wichtig zu erachten, dass der Tenor das hohe C perfekt singt, ...
T.F.: ... d.h. die Technik stimmt ...
... zu diesem Zweck kann es manchmal sehr gut sein, die Bühne ganz dunkel zu lassen.
P.K.: ..., und wenn die Technik stimmt, war es eine tolle Aufführung. Wenn nicht, dann eben nicht. Das heißt, die Stimme wird abgespalten von der Gesamtsache, von einer Botschaft, in der das hohe C zwar auch eine Wichtigkeit hat, von diesem allein aber keineswegs die zentrale Bedeutung ausgeht.
T.F.: Das Verhältnis ist also rein instrumentell.
P.K.: Es ist eine Instrumentalisierung.
M.H.: Wenigstens in Hinblick auf die sexuelle Ebene hätte ich aber angenommen, dass Pornografie eine Affinität zur Dokumentation von Körperteilen hat, im Gegensatz dazu aber der Erotik als wesentliches Moment des Verborgenen innewohnt: Verhüllung, die etwas erahnen lässt und die Fantasie ins Spiel bringt, weil man etwas nicht wirklich sieht oder erkennen kann. Wo eben nicht Licht auf den Körper geworfen ist, um ihn komplett auszuleuchten, sondern etwas davor gelegt ist, ein Schleier, der zum Teil die Sicht versperrt.
P.K.: Und was wird dadurch möglich, dass die Fantasie mit ins Spiel kommt?
M.H.: Reflexion.
P.K.: Vielleicht, aber nicht zwingend.
M.H.: Und Begehren.
P.K.: Ich glaube, das ist genau der Punkt: Wenn es zum Prinzip gemacht wird, d.h. mechanisch gedacht wird, kommt man damit gar nicht weit, weil die Gesetze der Mechanik ziemlich überschaubar ...
T.F.: ... und kalkulierbar sind.
P.K.: Auch kalkulierbar. Reflexion und Begehren lassen irgendwann nach, wenn immer alles verschleiert bleibt. Diese Ausreizung, das Abstumpfen, steckt aber auch im Pornografiewahn – oder Fotografiewahn, in dem dokumentarischen Festhaltewahn der Realität.
T.F.: Vielleicht bietet dieser Wahn auch eine Sicherheit in der Welt. Die Menschen brauchen Orientierung und greifen in ihrer Suche nach Sicherheit auf das Mechanische zurück.
P.K.: Absolut. Die Fantasie ist nämlich auch eine Gewalt, die uns in unberechenbare Verhältnisse bringt und Todfeind jeder ängstlichen Haltung ist.
M.H.: Aber nur für jemanden, der Angst vor Veränderung hat. Wenn wir das auf das Politische anwenden, dann ist Fantasie genau die Kraft, die es möglich macht, sich die Verhältnisse anders zu machen, als sie sind. Man muss schon wissen, in welche Richtung man gehen möchte. Wenn wir in eine Richtung gehen möchten, in der es noch keine ausgetrampelten Pfade gibt, benötigen wir Fantasie. Aber Fantasie kann auch eine entpolitisierende Kraft sein, wenn man sich die gesellschaftlichen Verhältnisse einfach nur anders träumt und nicht verändert.
P.K.: Wir sind an einem ganz entscheidenden Punkt angekommen. Die Fantasie ist etwas, was den Menschen mit seinen Möglichkeiten zu einem wirklich besonderen Wesen macht. Es sind wirklich andere Möglichkeiten, die der Mensch hat, als etwa ein Tier, das bloß im Stande ist, seine Art zu erhalten. Vor allem im Negativen wird es deutlich, wozu der Mensch im Stande ist. In der Fantasie steckt eine Fähigkeit, unglaublich komplexe Informationen miteinander zu verbinden. Fantasie muss allerdings von den Sinnen gespeist werden. Wenn man Veränderung und Bewegung überhaupt als das Kernelement von Leben begreift, worin sich gleichsam etwas Lebendiges zeigt, das sich verändert, dann ist genau das, was sich nicht verändert, eben auch nicht lebendig. Die Suche nach Sicherheit wird dagegen im Bestehenden fündig und richtet sich mithin gegen Veränderung. Veränderung schließt sich damit aus. Die Fantasie nun aber ist genau die Möglichkeit, Veränderung herzustellen. Es wird mit Hilfe der Fantasie ein Modell, d.h. ein Weg vorgedacht.
Was sich nicht verändert, ist nicht lebendig.
M.H.: Sie sagten eben, dass im Negativen sehr deutlich wird, was der Mensch kann. Heißt das, dass man auf der Bühne hässliche Menschen zeigt: verzerrte Formen, Fratzen, beschädigtes Leben, das in die Katastrophe führt, um daran zu verdeutlichen, was Schönheit und Freiheit ist? Oder anders formuliert: Wenn es darum geht, auf der Bühne Utopien zu behandeln, gibt es ja grundsätzlich zwei Formen von Utopien, an denen man sich orientieren kann. Die eine zeigt, was gut ist, und die andere zeigt, was schlecht ist, was es abzuschaffen oder besser aufzuheben gilt. – Aufhebung vor allem im dialektischen Sinne, also gleichsam als eine Bewegung, die vom Bestehenden ausgeht und davon wegführt.
P.K.: Letzteres würde ich nicht unbedingt als Utopie bezeichnen, weil es eine Abbildung der Realität ist, verzerrte Formen zu zeigen.
M.H.: Das eine ist eine positive, das andere eine negative Utopie.
P.K.: Vor allem findet das beschädigte Leben statt. Utopie zeichnet sich ja vor allem dadurch aus, dass sie keinen Ort hat. Keinen Ort nirgendwo.
M.H.: Das ist doch der Punkt. Das Bestehende ist in seiner Negativität, in seinem Schlechtsein so etwas wie ein fotografisches Negativ einer befreiten Gesellschaft. Weil die Gewissheiten bezüglich des Bestehenden existieren – wir alle sind in dieser Welt sozialisiert, leben in ihr und kennen das Gute und wirklich Schöne, die befreite Gesellschaft, als Positiv nur aus der Fantasie und den Träumen; es hat bisher keinen Ort nirgends und ist deshalb eine Utopie – wir haben uns mit dem Bestehenden allzusehr abgefunden.
Wenn man aber jetzt auf der Bühne genau das, was ist, darstellt – und zwar mit den Mitteln, die Brecht benutzt hat, schaut man plötzlich mit einem anderen Blick auf die Verhältnisse, von denen man umgeben ist, die man selbst repräsentiert und selbst ist. Die Verhältnisse werden einsehbar und fordern lebendige Kritik heraus.
P.K.: Ja. Dahinter steckt gewissermaßen der Fotograf, der noch im Spiel ist, weil die Figuren nicht ohne seine Hilfe aus dem Negativ herauskommen können. Der Fotograf hat die Möglichkeit, aus den Negativen etwas anderes zu machen. Gott aber ist tot, der Fotograf ist tot. Nun haben wir den Salat mit den ganzen Negativen, die ohne den Fotografen nur schwer zu entwickeln sind. Ich möchte in dem Zusammenhang auf das Verhältnis von Ethik und Ästhetik zu sprechen kommen. Vor der Ästhetik kommt nämlich die Ethik.
Vor allem findet das beschädigte Leben statt.
M.H.: Bei Aristoteles.
P.K.: In seinem Werk ist die Ethik der Ästhetik räumlich vorgelagert. Von der Anschauung her ist das auch bei Schiller, Brecht, Heiner Müller u.a.. Es gibt allerdings moderne Komponisten, bei denen die Ästhetik ohne Ethik auskommen soll, bei denen es gleichsam überhaupt keine Ethik geben darf. Sie behaupten, Ästhetik habe ihre eigenen Gesetzlichkeiten, und niemand darf mit ethischen oder moralischen Maßstäben sagen, wohin das Ganze gehen soll. Das Material von Theater ist die Wirklichkeit. Es darf allerdings nicht bei der Abbildung dieser Wirklichkeit bleiben, weil wir ansonsten einfach nur das Negativ abbilden. Das wäre reine Mechanik. Brecht sagt aber, man muss die Welt als veränderbar zeigen.
T.F.: Vom Menschen gemacht und vom Menschen veränderbar.
P.K.: Wie kann ich das leisten? Da gibt es den Verfremdungseffekt – das ist eine Methode. Und es gibt bestimmte Techniken, die an bestimmte Zeiten gebunden sind. Eine helle Bühne, auf der jemand mit einer Kerze geht, ist eine Verfremdung. Oder die Mutter Courage, die schreit, aber man hört den Schrei nicht, weil sie nur die Gebärde des Schreiens macht, ist auch eine Verfremdung. In solche Abbildungen von Negativität ist eingegriffen; sie sind verändert, es sind keine bloßen Fotografien der Realität. So etwas behauptet, ohne dass man es so ausspricht, die Veränderbarkeit. Die Verfremdung ist ein Kunstmittel, das geeignet ist, die ethische Absicht, etwas als veränderbar zu zeigen, auch darzustellen. Es ist allerdings zeitabhängig, wie ich das mache. In einer Zeit, in der Authentisches eigentlich so gut wie gar nicht mehr vorkommt, ist der V-Effekt mit Authentizität plötzlich gleichbedeutend. Es ist immer eine Relation. Wenn ich heute immer nur eine helle Bühne mache, verfremdet das nichts mehr. Die erste Stufe der Verfremdung ist das 'Sich Fremdmachen' von etwas, damit ich es in der zweiten Stufe um so besser begreifen kann. Viele denken, es soll etwas einfach nur fremd werden, und das war es dann. Das ist aber nur der erste Schritt.
T.F.: Es stößt an, so dass man beginnt, darüber nachzudenken.
P.K.: Jedenfalls kann man auf die gewohnte Weise über die Dinge nicht mehr nachdenken. Ich halte ein Glas immer auf die gewohnte Weise, wie es alltäglich ist, und ich begreife gar nicht mehr, was es ist. Dann halte ich es weg, entferne es von der mir gewohnten Weise, und es wird mir fremd, aber ich sehe es dafür in einem neuen Kontext, und indem ich es in einem neuen Kontext sehe, wird das Glas wieder fassbar für mich. Im Grunde ist das eine ganz einfache Sache, die von Hegel stammt und von Brecht auf Theaterverhältnisse angewandt wurde. Wenn ich die Dreigroschenoper inszeniere, bei der jeder weiß, jetzt geht die Polly an die Rampe, die Handlung wird unterbrochen, die Darstellerin tritt aus der Rolle, und gleich singt sie den Song von der Seeräuber-Jenny, dann geht sie wieder in die Rolle hinein – wenn ich das so mechanisch spielen lasse, werde ich genau das, was Brecht erreichen wollte, nicht erreichen.
Die Verfremdung ist ein Mittel, etwas als veränderbar zu zeigen.
M.H.: Das Aus-der-Rolle-Heraustreten wird nicht mehr so wahrgenommen, dass jemand aus der Rolle heraustritt, sondern dass jemand aus der Rolle heraustritt und in eine neue Rolle hineintritt, und dass dieser Vorgang eben die Rolle ist.
P.K.: Das ist dann die Rolle. Genau. Deshalb könnte ich mir vorstellen, dass man an dieser Stelle genau das nicht macht. Sagen wir mal, die Polly wäscht auf der Bühne wirklich ab. Und dann singt sie: »Meine Herren, heute sehen Sie mich Gläser abwaschen, und ich mache das Bett für jeden …«, sie steht dabei nicht an der Rampe, sondern wäscht tatsächlich Gläser ab und führt ihre Handlung kontinuierlich weiter. D.h. man geht strukturell dagegen an, so dass kein Unterschied mehr zwischen Handlung und Gesang stattfindet. Ich könnte mir vorstellen, dass dadurch der Effekt einer Verfremdung heute vielmehr herbeigeführt wird. Es ist immer eine Relation. Es ist kein Rezept, es ist keine mechanische Technik, die man immer wieder anwenden könnte, um Verfremdung zu erzeugen, sondern eine Methode. Und die Methode muss ich stets von Fall zu Fall überprüfen.
Diese Überprüfung muss ich auch bei dem Stück Unter der großen Sonne von Liebe beladen leisten. Nono hatte vorgesehen, dass die staatliche Repressionsmaschinerie in der Gestalt von Polizeimassen in Erscheinung tritt und den Chor, der die Demonstranten spielt, regelrecht vermöbelt. – Da kommen 50 Kleindarsteller, die wie Polizisten aussehen, und schlagen auf die Choristen ein. Im zweiten Teil des Stückes kommt diese Repressionsmaschine an mehreren Stellen immer wieder. Dazu gibt es ganz grässliche, stupide und brutale Musik. Der Zuschauer erwartet das, und wenn man die Musik hört, glaubt man zunächst, dass sich ihre Semantik tatsächlich darin erschöpfen würde. Das mag 1975 in Italien verständlich gewesen sein, heute aber ist das völlig abgelutscht. Man glaubt sowieso nicht mehr, dass diese Kleindarsteller, die den Chor schlagen sollen, wirklich schlagen. Auf keinen Fall darf es an diesen Stellen, wo die Repressionsmaschinerie erscheint, komisch oder albern wirken. Wie stelle ich heute aber authentisch eine Repressionsmaschinerie dar? Ich finde es wichtig, dass auf der Bühne eine Katharsis entstehen kann, wenn eine Repressionsmaschine Gewalt auf Menschen ausübt. Ich kann dafür keine Klischees, nichts aus der Bilderflut Bekanntes verwenden. Ich kann nicht einmal Film-Sequenzen an eine Wand projizieren – Nono war begeistert von der laterna magica und der Zusammenführung von Film und Theater; das ist alles abgelutscht. Ich muss beim Betrachter durch die Schwelle seiner Abwehr hindurch fassbar machen, wie ein Mensch buchstäblich vergewaltigt wird. Dazu ist von Brecht Verfremdung gedacht, dass man durch diese psychische Schwelle der Abwehr hindurchkommt. Es ist vom Kontext abhängig, wie das zu leisten ist.
50 Kleindarsteller, die wie Polizisten aussehen, schlagen auf die Choristen ein.
Ich habe mich deshalb gegen die bloße Abbildung von staatlicher Gewalt entschieden und zeige, dass Zärtlichkeit zwischen Menschen eine wichtige Rolle spielt, die man zunächst gar nicht vermutet, wenn es um Klassenkampf geht. Die Repressionsmaschinerie stelle ich vor allem im zweiten Teil durch hohe und kalte Wände dar, die sich in mehreren Schüben bewegen und den Raum der Darsteller sukzessive gefängnisartig einengen, bis sie keinen Raum mehr zum Atmen, d.h. Leben haben.
M.H.: Das Stück Unter der großen Sonne von Liebe beladen handelt von der sozialen Utopie, die nicht eingelöst werden konnte, die immer wieder neu aufgegriffen wurde und immer wieder scheiterte, weil sich die Repressionsmaschine der Herrschenden gegen die Revolutionäre wandte. Die geschichtliche Kontinuität dieser Utopie wird in dem Stück sehr deutlich: Die Pariser Kommune von 1871 wird als eine Fortsetzung der Französischen Revolution von 1789 gezeigt, die Russischen Revolutionen von 1905 und 1917 sind eine Anknüpfung an die Pariser Kommune. Der Arbeiteraufstand von Turin, Befreiungskampf in Kuba und Vietnam sollen Fortsetzungen sein.
T.F.: Was beanspruchen Sie mit der Inszenierung dieses Stückes – gerade vor dem Hintergrund, dass mit der Auflösung der Sowjetunion 1991 eine Eindimensionalisierung des politisch-ökonomischen Systems erfolgt ist: Man spricht vom Sieg des Kapitalismus und von Alternativlosigkeit, gar vom Ende der Geschichte und spart sich damit die Auseinandersetzung mit liegengebliebenen utopischen Bruchstücken. Es gibt im Alltagsbewusstsein so eine Art Entsorgungsmentalität. 1989 habe sich gezeigt, dass Marx gleich Murks sei. Und dann wird sich gefragt, was soll dieser Nono-Stoff noch. Was wollen wir noch mit Tanja Bunke oder mit Louise Michel, wieso diese Figuren? Was soll uns das jetzt noch sagen? – Was möchten Sie dem Publikum mit auf den Weg geben?
P.K.: Dass nicht vergessen wird. Ich finde das so beschissen und so dumm. Mit diesen Menschen, die so etwas sagen, muss auch ich leben. Ich bin umgeben von solcher Blödheit. Die wissen ja gar nicht, was sie sagen. Sie haben irgendetwas gehört und plappern es nach: »Man hat es doch gesehen. Es ist doch gescheitert. Wir wissen doch, wieviele Menschen ins Gefängnis gekommen sind. Konzentrationslager gab es auch – wie bei Hitler.« Solch undifferenzierter Schwachsinn wird einfach nachgeplappert. Und sich dagegen zu wenden, bereitet mir Lust. Viele scheinen das einfach nicht ertragen zu können, wenn man noch einmal etwas vom wirklichen Leben erinnern will. All das ist störend, wenn darauf hingewiesen wird, dass das reale Leben überhaupt keine wirkliche Qualität mehr hat.
M.H.: Polarisieren Sie Ihr Publikum? Gehen bei Ihren Inszenierungen Zuschauer während der Pause raus und kommen nicht wieder? Ich könnte mir vorstellen, dass man solche Polarisierungen als Regisseur ganz gerne hat. Wenn sich die eine Hälfte in Buhrufen und die andere Hälfte im Jubel erschöpft. Die Wirkung geht damit über die Inszenierung hinaus, man kommt ins Gerede, es wird diskutiert – vor allem kritisch mit Rede und Gegenrede, woraus sich möglicherweise viel besser ein fruchtbares diskursives Fortkommen ergibt.
Ich bin umgeben von solcher Blödheit.
P.K.: Um ehrlich zu sein, mich verängstigt das irgendwie.
T.F.: Warum?
P.K.: Vielleicht, weil mir der Krieg meiner Eltern noch in den Knochen steckt. Er steckt in den Knochen, weil er sich ereignete, als die Knochen noch wuchsen. Er wuchs mit ein. Es ist schwer. Ich bin mir schon bewusst, dass solche Polarisierungen genau das Wünschenswerte sind. Vor einiger Zeit habe ich mit dem Regisseur Michael Thalheimer im Thalia-Theater in Hamburg genau diese Problematik besprochen. Ich habe von ihm bisher nur Woyzeck gesehen – er hat 50-60% aus dem Text gestrichen. Das macht er wohl häufiger und wird dafür auch angegriffen. Jedenfalls waren im Thalia-Theater auch wieder solche Leute da, denen ich dann auch direkt gesagt habe, dass ich ihnen nicht im Dunkeln begegnen möchte. Es mischen sich in meist anonymen Briefen mitunter auch faschistoide Floskeln darunter. Es heißt dann: Ich sei zum Abschuss freigegeben, man müsste mir das Licht auslöschen, ich solle endlich verschwinden, ich verschandele unsere Kultur – und Ähnliches.
T.F.: Da hat man ja einen Schuldigen gefunden.
P.K.: Das sind Dinge, die an die Kulturverwaltung gehen, manches davon bekomme ich gar nicht mit, aber das geht schon ziemlich weit.
M.H.: Ist das auch in anderen Städten so? Ist das ein durchgängiges Phänomen?
P.K.: Ja. Das war in Dresden so, in München. Übrigens auch im Internet. Was man da so liest, das glaubt man nicht. Es ist einfach zu müßig, sich mit solchen Leuten zu beschäftigten; es ist mir zuwider geworden, weil man immer von Null anfängt. Das sind ja gar keine wirklichen Fragen, wenn gesagt wird: Ja muss denn die Szene in einer Bar spielen? Was soll man darauf noch antworten? Ein Puff wäre auch gegangen.
T.F.: Und wie ist es bei dem Nono-Stück?
P.K.: Da gibt es jedenfalls nicht diese massiven Vorurteile, wie das zu inszenieren ist.
T.F.: Der Stoff ist jung. Ich kann mir vorstellen, dass gesagt wird, es ist auch gar keine richtige Oper.
P.K.: Ist es auch nicht. Nono nennt die Form selbst »szenische Aktion«.
Aber, und das ist schon oft vorgekommen, dass bei Veranstaltungen ältere Damen zu mir kommen und sagen: »Wenn wir gewusst hätten, was Sie für ein netter Mensch sind, dann hätten wir das alles gar nicht so schlimm gefunden.« Das ist alles nett, aber ...
T.F.: ... nicht beruhigend.
P.K.: ... beruhigend ist es überhaupt nicht. Die Menschen haben sich dem Thema geöffnet, aber nicht durch die Sache selbst, sondern indem ich ihnen einfach sympathisch war.
T.F.: Gut, aber der Stoff ist politisch.
P.K.: Das haben sie geschluckt. Manche rücken damit heraus. Sie fragen mich dann: »Wie denken Sie denn über den Kommunismus? Was sagen Sie dazu? Es ist doch alles vorbei! Das ist doch furchtbar gewesen.« – Ich sage dann einfach, das hat Herr Adenauer auch gemacht. »Aber der war doch gar kein Kommunist«, bekomme ich dann als Antwort, als wenn es nur bei Kommunisten ein Verbrechen wäre, bei Demokraten aber nicht. Und dann bekomme ich zu hören, dass der Mensch von Natur aus schlecht sei. Es ist Quatsch. Wenn der Mensch schlecht ist, können wir im Grunde einpacken. Das finde ich blöd. Es ist, wie Kant sagt, dass der Mensch viele Möglichkeiten hat. Man muss Organisationsformen finden, in denen die guten Möglichkeiten zum Tragen kommen.
»Wie denken Sie denn über den Kommunismus?«
Ich weiß, dass das gar nicht anders sein kann und dass das auch Ausdruck einer lebendigen Rezeption ist. Ich bin aber irgendwie enttäuscht, weil ich mir bei meinen ganzen Vorstellungen denke, das Publikum müsste sich darüber freuen. Das ist mit mir wie bei einem Kind, das ein Bild malt. Es malt es nicht, damit die Mutter sich freut und der Vater ärgert – oder umgekehrt.
M.H.: Aber Sie fühlen sich nicht als Kind Ihres Publikums?
P.K.: Nein, das sicher nicht.
T.F.: Sie stecken Arbeit hinein, setzen sich mit einem Thema auseinander – und dann wollen Sie verständlicherweise auch eine Anerkennung dafür haben.
P.K.: Aber nicht, weil es so viel Arbeit erfordert hat, sondern weil aus der Auseinandersetzung so wunderbare Erkenntnisse zu Stande kommen, die ich gerne mit meinem Publikum teilen möchte. Zum Beispiel in der Oper Lohengrin. Ich habe darin das Problem des Neonazismus thematisiert. Im Grunde sind diejenigen, die heute Naziparolen schreien, ganz infantile Menschen – ohne sie verharmlosen zu wollen. Es ist ein Riesenproblem unserer Zivilisation, dass die Menschen infantilisiert sind. Partiell unreif heißt das. Aber im nächsten Moment können sie ganz emphatisch einer menschlichen Situation beiwohnen, bei der ein Mann und eine Frau sich zu lieben beginnen. Solche Menschen können keine Nazis sein. Es ist sinnlos, sie mit Springerstiefeln auftreten zu lassen. Deshalb bin ich auf die Idee gekommen, sie auf der Bühne in einem Klassenzimmer erscheinen zu lassen, weil sie unreife Menschen sind. Die Jungen haben alle kurze Hosen bekommen – 50-jährige Darsteller auf der Bühne mit kurzen Hosen. Es wirkt, als wenn sie junge, infantile Menschen sind, die eben nicht wissen, was sie sagen, wenn sie Nazi-Parolen schreien.
M.H.: Aber am Nationalsozialismus war ja auch so unvorstellbar, dass die Nazis in den Tötungslagern kalte Bestien gewesen waren, die eine Tötungsmaschinerie bedienten, aber zu Hause im Schein biederer Normalität gute Familienväter gewesen waren. Wenn sie gute Familienväter gewesen waren, sind sie auch liebesfähig gewesen.
P.K.: Und Sie wollen jetzt auf Schizophrenie hinaus?
M.H.: Ich finde, es ist nicht unbedingt ausgeschlossen, wenn sich jemand von einer romantischen Liebesszene oder von Musik rühren lässt und gleichzeitig sich als Neonazi kleidet und Asylheime in Brand steckt. Im Menschen steckt genauso etwas Bestialisches wie sich in der Bestie etwas Menschliches befindet.
P.K.: Eigentlich geht es mir eher darum, zu zeigen, wie etwas geschehen kann. Ich möchte ein Phänomen in seiner geschichtlichen Entwicklung zeigen. Nicht bloß zeigen, dass sie Neonazis sind, sondern wie sie dazu geworden sind. Ich richte den Lichtschein auf die Phase davor, also bevor sie zu Neonazis wurden. Dann sehen wir einen jungen Menschen, der bestimmte Impulse und Probleme hat, die dann zu nazistischen Vorstellungen werden und ihn asozial werden lassen. Diese Impulse können ihn aber auch anders lenken. Es gibt keinen Automatismus, dass jemand mit bestimmten Problemen unabdingbar zu einem Neonazi wird. Im Menschen sind, wie Kant sagte, Möglichkeiten angelegt, und darin besteht die Verantwortung, die wir haben, dass diese Möglichkeiten positiv genutzt werden, egal wie düster und negativ die Umstände sind. – Wenn ich bloß zeige, dass sie Nazis sind, befinde ich mich nur auf der Ebene des Verurteilens, womit noch nicht begriffen ist, was Menschen zu Nazis macht.
Ich habe ihnen auch Holzschwerter gegeben. Wenn ich zeige, dass sie junge Leute sind, die mit Holzschwertern um sich hauen, dann ist das noch in einem Stadium, in dem ich sie nicht verurteile, sondern lediglich zeige, wie gefährlich das ist und wohin es noch führen könnte. – Später im Brautgemach wird es dann ernst. Da zieht Lohengrin, ohne dass ich als Regisseur es jemals zuvor gezeigt hätte, ein richtiges Metallschwert hervor. Telramund kommt mit einem Holzschwert und will Lohengrin töten – mit einem Holzschwert – und Lohengrin tötet ihn mit einem Metallschwert. Das ist natürlich auch eine Verfremdung. In diesem Augenblick wird etwas irreversibel. Wenn der Vorhang noch einmal zum letzten Bild hochgeht, ist das Klassenzimmer verschwunden, und sie stehen mit ihren Holzschwertern unter freiem Himmel. Das schützende Dach des Klassenzimmers ist weg. Sie haben Schulranzen, die plötzlich wie Tornister aussehen. Wenn dann Gottfried am Ende wieder zurückkommt – am Anfang ist er noch ein süßer und kleiner Junge mit poetischen Bewegungen und schöner Kleidung – hat er eine Uniform an, einen Stahlhelm auf dem Kopf und eine MP unterm Arm. Und dann ist auch schon Schluss. Die Geschichte schläft nicht. Auch wenn wir uns mit Unsinn zuviel beschäftigen und an wesentliche Dinge nicht rangehen, geht die Geschichte weiter, und sie sucht sich dann ganz sicher die schlimmste Möglichkeit.
Ich will sagen, dass in der Oper großartige Entdeckungen zu machen sind.
Ich will in unserem Zusammenhang damit sagen, dass in der Oper großartige Entdeckungen zu machen sind, die das gesamte Publikum doch zur Begeisterung führen müssten. Dann bin ich enttäuscht, wenn viele und ganz massiv und hasserfüllt Ablehnung zeigen. Ich müsste jetzt lügen, wenn ich sagen würde, das freut mich. Vielleicht bin ich auch bloß traurig, dass Menschen – und nicht nur mir, sondern auch anderen gegenüber – so unbelehrbar und vernagelt sein können. Das gefällt mir wirklich nicht.
Was die utopischen Inhalte angeht, die in dem Nono-Stück hervorstechen, will ich diese übrigens auch aus den Mozart- und Verdi-Opern hervorholen. Bei diesen Opern liegt es nicht explizit auf der Hand. Aber es ist absolut drin. In so einem Mann wie Giovanni ist es angelegt. Der wird liquidiert und muss in die Hölle fahren. Da wird uns vorgegaukelt, dass es einen Himmel und eine Hölle gibt. Das ist doch Scheiße. Das ist doch Quatsch. Man muss es aber verstehen. Ohne solche Vorstellungen wäre uns gar nicht die Kultur der Herrschenden aufzuzwingen: Wenn Du brav bist, kommst Du in den Himmel, wenn Du heimlich Pudding isst, kommst Du in die Hölle. So etwas hat man uns als Kinder gesagt, damit wir parieren. Giovanni kommt also in die Hölle, und warum? Damit unser monogamisches und monotheistisches System greift. Deshalb kommt er in die Hölle. Es geht gar nicht ums Vögeln oder um die Frauen – darum geht es gar nicht. Viele denken, in die Oper gehe ich hinein, weil da gebumst wird. Darum geht es zwar auch. Immer geht es darum auch. Gezeigt aber wird daran, dass jemand die Vorschriften, diese Verbote einfach nicht einhält. Was passiert mit unserer ganzen gesellschaftlichen Organisation, wenn plötzlich viele Menschen auf die Idee kommen, heimlich vom Pudding zu essen, Verbote und Vorschriften einfach nicht einzuhalten? Das Leben und die bürgerlichen Gesetze gehen im Grunde auseinander.
M.H.: Sie wollen zur Unbotmäßigkeit ermuntern?
P.K.: Unbotmäßigkeit ist so ein Wort. Ich finde, man darf bei Rot nicht stehenbleiben, wenn nichts kommt. Es ist interessant, was sich an mancher Ampel abspielt, wenn jemand bei Rot über die Straße geht. Was man da so in den Rücken bekommt – besonders, wenn Kinder dabei sind. Das ist jetzt eine Metapher fürs Lebendigsein und das selbständige Denken, welches man früh genug, also schon als Kind lernen sollte. Ansonsten funktioniert man nur noch mechanisch: bei Rot muss ich stehenbleiben, ohne die Vernünftigkeit des Rots zu hinterfragen. Am witzigsten finde ich es dann, wenn man bei Grün über die Straße geht und überfahren wird.
M.H.: Es gibt ja den Witz, dass deutsche Demonstranten, wenn sie mitten auf der Straße gehen, bei Rot stehenbleiben.
P.K.: Sie kennen sicher auch von Lenin die Geschichte mit der Bahnsteigkarte … – Das macht mir wirklich Freude, weil ich selbst als Kind diese ständigen Verbote, dieses Gängeln wie wir alle auch erlebt habe. Ich habe lange gebraucht, bis ich mich getraut habe, mit bestem Gewissen gegen Vorschriften zu verstoßen – und es genießen kann, etwas anders zu machen. Mein Beruf ist ja sehr geeignet dafür, etwas anders zu machen. Ich habe die Möglichkeit, etwas grundsätzlich nicht so zu machen, wie es immer gemacht wurde. Ich will es anders machen, aber das ist gar nicht so einfach. Es ist eine Dialektik zwischen Tradition und Veränderung. Wenn ich nur verändern würde, wäre ich ziemlich schnell am Ende.
Es ist eine Dialektik zwischen Tradition und Veränderung.
T.F.: Ist das Theater vielleicht eines der letzten Medien wirklicher Erfahrung?
P.K.: Wir können uns im Theater z.B. über Krieg austauschen, ohne die Erfahrung des Sterbens wirklich machen zu müssen. Wir müssen das Theater nur ernst nehmen und nicht als Unterhaltungsmaschinerie missbrauchen. Das nützt niemandem etwas.
T.F.: Gleichzeitig ist im Theater die Möglichkeit des Erinnerns angelegt. Wir erinnern uns und können dadurch besser die Gegenwart begreifen. Das Bestehende erscheint dann als Gewordenes, und im Gewordenen blitzt die Geschichtlichkeit auf. Damit schaffen wir auch eine Verbindung zu dem, was sein könnte – zur Utopie.
P.K.: Die Utopie ist übrigens von der Fantasie abhängig.
T.F.: Sie ist das Vorstellungsvermögen, über das Bestehende hinaus zu denken.
P.K.: Das meine ich damit. Bevor man etwas konkret verändert, muss ein Modell vorhanden sein, nach dem man etwas verändert.
T.F.: Es verlangt aber dem Einzelnen viel an Qualitäten ab.
P.K.: Das sollte das Selbstverständliche sein.
T.F.: Das Selbstverständnis ist vermutlich das am meisten Gesuchte.
P.K.: Das sagt viel über die Verhältnisse aus, wenn solche Qualitäten etwas Besonderes sind.
M.H.: Zu den Proben des Nono-Stückes ist hin und wieder Oskar Negt als interessierter Beobachter erschienen. Ich glaube, Sie sind auch in einem geistreichen Austausch mit ihm gewesen. Was sagt er zu dem Stück?
P.K.: Die Begegnung mit Negt ist für mich eine Bestätigung meiner Arbeit und Denkweise. Das ist sehr wichtig für mich, weil es nicht mehr viele gibt, die eine solche gleichgesinnte Haltung haben und sich noch um das Unerledigte kümmern. Negt war begeistert von meiner Arbeit. Er hat auch etwas für das Programmheft geschrieben. Er war fasziniert von der Intensität des Austauschs und von der Genauigkeit und der Unnachgiebigkeit, mit der ich – für ihn jedenfalls – darauf bestehe, dass bestimmte Vorgänge auf der Bühne präzise gespielt werden, d.h. die Form ablesbar wird. Aber ich glaube, dass er eben auch wirklich sehr berührt war von der politischen Haltung, dass ich den Stoff, um den es Nono geht, eben nicht ästhetizistisch kastriere oder agitpropmäßig verhackstücke. – Ich habe so eine missratene Aufführung vor vier Jahren in Hamburg gesehen. Da waren zum Beispiel am Anfang auf der Bühne vier Affen, die immer durch das Stück gegangen sind. Wenn ich es richtig verstanden habe, sollte das bedeuten, dass der Mensch immer ein Tier bleibt. Also auch Lenin und Marx und wir sowieso. Und dann waren da auch sechs weiße riesige Marx-Köpfe, die von Technikern quer über die Bühne geschoben wurden. Zusätzlich hat der Regisseur Texte an die Wand projizieren lassen, die das Ganze zu einem anthropologischen Thema gemacht haben. – Der Mensch schlechthin ist ein Affe.
M.H.: Wurde damit das Nono-Stück ins Lächerliche gezogen?
P.K.: Nein, das denke ich nicht. Eher wurde dadurch das Stück zu einer Revue. Der Regisseur hat verkannt oder wollte nicht zeigen, dass es sich hier um ein sozial-politisches Thema handelt. Brecht sagt, die Herrschenden haben eine Adresse und einen Namen. Das ist etwas anderes, als wenn man sagt: Der Mensch ist eben so von Natur aus und wird immer so sein. An dem Nono-Stück kann man ja gerade wunderbar sehen, dass unter bestimmten Voraussetzungen etwas so ist und nicht anders sein kann. Laut Kant haben wir es in der Hand, die Voraussetzungen zu beeinflussen.
Weil dieses Stück so grauenhaft entstellt war, kamen der Intendant Puhlmann und ich – wir saßen in der Premiere und haben uns mächtig aufgeregt – auf die Idee, in Hannover das Nono-Stück aufzuführen, um es besser zu machen.
T.F.: Das war eine mutige Entscheidung, zu diesen Zeiten ein derart politisches Stück aufzuführen: eine Geschichte der Emanzipation, die immer wieder ihre Rückschläge erfahren hat, nie wirklich hochkommen konnte, immer wieder eingestaucht wurde. Aber der Faden wurde auch immer wieder aufgenommen. Vielleicht fragt sich manch einer im Publikum: Wo läuft dieser Faden hin? Was hat uns der Faden zu sagen? Was erzählen uns die Toten, die für eine gerechte Sache gestorben sind? Wenn die Toten aus ihren Särgen steigen, hat das einen auffordernden Charakter.
P.K.: Das wäre ein Erfolg der Inszenierung, wenn über diese Fragen angefangen wird zu diskutieren, statt darüber zu fachsimpeln, ob diese oder jene Stelle nun unter ästhetischen Gesichtspunkten besonders gut gelungen ist.
M.H.: Es gibt eine Kluft, die in diesem Stück deutlich wird, zwischen historischen Generationen. Die beiden kleinen Mädchen, die das Che Guevara-Plakat über ihrem Bett hängen haben, symbolisieren die manchmal auch etwas pubertär anmutende Revolutionsromantik. Diese ist ja auch wieder groß in Mode gekommen – jedenfalls in der globalisierungskritischen Bewegung: Auf Demonstrationen tauchen wieder Plakate und T-Shirts von Che Guevara auf. Revolutionsromantik scheint ein Phänomen der Jugend zu sein. Unsere Gesellschaft erwartet, dass man sich rechtzeitig von ihr verabschiedet. Der Abschied ist gewissermaßen ein Initiationsritus. In dem Stück wird sich auch von Revolutionsromantik verabschiedet: Wenn die beiden Mädchen ihre Kindheit aufgeben müssen – durch die Verbrennung der Teddybären symbolisiert – und anschließend ein Gewehr in die Hand bekommen. Der Kampf um Freiheit ist eine gefährliche Angelegenheit.
Ich erinnere mich an eine stalinistische Lesart von Romantik.
P.K.: Das würde ich in ein weiteres Feld stellen wollen. Ich erinnere mich an eine stalinistische Lesart von Romantik. Die Romantiker wurden beschuldigt, sich aus der Realität entweder ins Märchen oder in die Vergangenheit wegbewegt zu haben. Diese vermeintliche Flucht sei eine Entpolitisierung gewesen. Das war aber nur das dumme Verständnis der Stalinisten, die einem sozialistischen Realismus anhingen und vom Künstler positive Lösungen der realen Konflikte einforderten. In Wahrheit wurde die Romantik damit übel diffamiert als manipulative und reaktionäre Strömung. Die Romantik ist aber eine ganz starke politische Bewegung gewesen. Sie ist nur aus der Verzweiflung zu begründen. Die Menschen sind geflohen, damit sie überhaupt noch leben konnten. Aus der Romantik können wir das ableiten, was uns fehlt. Nicht in die Vergangenheit sind sie geflohen – in gewisser Weise schon, aber nicht, um da zu bleiben, sondern zu erinnern, was uns verloren gegangen ist. Wenn man jetzt Che Guevara-Plakate mit Romantik in Verbindung bringt, dann eben, weil sich der Befreiungskampf nicht erledigt hat und in der besagten Revolutionsromantik, bei Jugendlichen, die sich ein Che Guevara-Plakat ins Zimmer hängen, dies indirekt zur Sprache kommt. Um ein vorbildlicher Konsument zu sein, wäre es gut, wenn man denkt, der Kampf um Befreiung hätte sich erledigt. Ich kaufe, also bin ich. Aber ich will kein vorbildlicher Konsument sein, und offensichtlich wollen es diese Jugendlichen auch nicht sein. Ich weiß mittlerweile, warum ich jung geblieben bin.
T.F.: Dem Unerledigten einen passenden Rahmen zu geben und an das Liegengebliebene zu erinnern, ist dann die Botschaft des Nono-Stückes.
P.K.: Ich kann das gar nicht mehr richtig beurteilen, ob mir das gelungen ist, weil ich als Regisseur mittlerweile zu nah dran bin. Aber das war zumindest meine Absicht.
T.F.: Das Liegengebliebene wird allein schon durch die ermordeten Revolutionäre verkörpert, die auf der Bühne wieder aufstehen.
M.H.: Und eben auch durch den Satz, der vom Gespenst des Kommunismus an die Wand gemalt wird: »Wir kommen wieder«. Dieser Satz verdeutlicht das geschichtlich noch nicht Eingelöste. Die Revolutionäre müssen wieder kommen, weil es nicht eingelöst ist, wofür sie gekämpft haben. Es sind zwar nicht dieselben Menschen, die wieder kommen, aber Personen, die dieselbe Sache verfolgen.
P.K.: Der Satz ist übrigens angelehnt an ein Zitat von Louise Michel und heißt vollständig: »Wir werden wiederkehren, als Menge ohne Zahl.« Weil dieser Satz für mich mehr als anderes, was Nono an Textfragmenten zusammenbringt, eine zentrale Bedeutung hat, habe ich mir gedacht, dass dieser Satz noch einmal besonders hervorgehoben werden muss. Deshalb schreibt die geschichtliche Fee, der Geist von Marx in Frauengestalt oder auch das Gespenst des Kommunismus diesen Satz in Kurzform an die Wand zu einem Zeitpunkt, als die Kommunarden mal wieder zusammengeschossen werden.
T.F.: Gerade deshalb hat es den Charakter von Uneingelöstem und wirkt sehr stark.
M.H.: Man könnte diesen Satz im Rahmen der Inszenierung auch als eine Drohung auffassen, zumal die beiden Mädchen ein bisschen überfordert zu sein scheinen. Sie träumen zunächst die beiden Sätze von Che Guevara und Louise Michel, von denen sie nicht wissen, wer sie gesagt oder geschrieben hat – geschweige denn, was sie bedeuten. Später werden ihnen die Teddys genommen, d.h. die Kindheit gestohlen. – Das ist ein ziemlich gewalttätiger Akt. Dagegen steht etwas provokativ das Zitat von Che Guevara: »Die Schönheit setzt sich der Revolution nicht entgegen.« Die Kindheit zu rauben, ist zunächst aber etwas sehr Hässliches, auch wenn es zu einem guten Zweck geschieht. Kindheit ist ein Schutzraum vor dieser Welt, in dem man behütet wird, bevor man zu angemessener Zeit – und angemessen ist die Zeit, wenn man freiwillig seinen Teddy in die Ecke stellt – in die Welt geht und sich mit seinen eigenen Ellenbogen zu schützen weiß. Trotzdem ist der Kampf um Befreiung schön – jedenfalls ist das Resultat – die Freiheit – schön.
P.K.: Ja, es gibt auch moralisch nicht ganz einwandfreie Momente in der Geschichte des Befreiungskampfes. Aber Geschichte vollzieht sich allgemein nicht nach moralischen, sondern listigen Gesichtspunkten. Manchem wird das sicher nicht gefallen, was er da sieht. Der zweite Teil des Stückes zeigt zum Beispiel die staatliche Repressionsmaschinerie, die sukzessive faschistischer wird. Der Raum ist eingegrenzt durch ziemlich hohe Wände, die gefängnisartig wie aus Beton oder Stahl wirken und sich in mehreren Schüben verengen. Am Ende sind die Massen ziemlich eingepfercht wie in einer Gaskammer. Man hört nur noch Entsetzensschreie, die auch kompositorisch von der Musik entsprechend begleitet werden. Das dauert ungefähr zwei Minuten. Die einen fangen ganz oben, die anderen ganz unten zu singen an und kreuzen sich dann. Währenddessen versuchen noch einige wie in den Gaskammern hochzukommen: sie klettern an Leitern, die in die Wände eingefasst sind, empor, d.h. sie gehen buchstäblich die Wände hoch. Danach senkt sich der Eiserne Vorhang, riegelt die enge Kammer ab und die Menschen sind tot. Dann geht ganz rechts im Eisernen eine Tür auf, aus der ein fahles Licht herausfällt. Man hört einen Trauergesang, ein Schnipsel aus der Internationale: »... nicht mehr Knechte, noch Herren sein ...« erscheint wie eine Erinnerung, und dann fällt die Tür zu.
Danach senkt sich der Eiserne Vorhang, riegelt die enge Kammer ab und die Menschen sind tot.
M.H.: Das hört sich sehr hermetisch an, als wenn die Idee der Befreiung platt gemacht wurde. Endet die Inszenierung damit resignativ?
P.K.: Der zweite Teil unterscheidet sich strukturell vom ersten. Im ersten Teil ist die Pariser Kommune das Hauptsächliche, dieser Teil ist romantischer und lustiger – mit den eitlen Tenören im Kasperletheater, durch welches die Behörden karikiert werden. Solche Einlagen gibt es im zweiten Teil nicht mehr. Dort herrscht ein Sog, das Tempo nimmt zu, es wird ernster und bedrohlicher. Es hat auch etwas von Beckett, d.h. die Absurdität wird spürbar. Es wird zu spät. Die Idee der Befreiung erscheint in einem grellen Licht, nachdem alles zu spät geworden ist.
Der zweite Teil beginnt mit Russland im Jahre 1905 und 1917, dann Turin, Kuba, Vietnam – ein Accelerando. Das wird dann abgeschnitten, könnte aber weitergehen. Der Verlauf ist allerdings nicht chronologisch, die Bezüge springen zeitlich hin und her. Die Gaskammer ist zwar am Ende der Inszenierung, aber zeitlich vor Turin, Kuba und Vietnam. Ich denke, es ist nur der äußere Anschein, wenn es resignativ wirkt – nicht aber die Botschaft, auch wenn am Ende die Tür zugeschlagen wird. Für jemanden, der mechanisch denkt, ist das resignativ. Aber für jemanden, der dialektisch denkt, ist das Ende eine aktive Aufforderung zu leben.
Im übrigen erinnert mich das an den Schluss von Mutter Courage. Nachdem sie ihre Kinder im Krieg verloren hat, sagt die Courage am Ende zu den Soldaten: »Wartet, ich komme gleich«.
T.F.: Sie erscheint unbelehrbar.
P.K.: Genau. Das ist sehr interessant. Der Schriftsteller Friedrich Wolf hat damals einen offenen Brief an Brecht geschrieben. Wolf war der Meinung, es sei nicht richtig, die Courage unbelehrt aus dem Stück gehen zu lassen. Es müsse für den Zuschauer eine Vorbildrolle erkennbar sein. Courage sollte deshalb lieber sagen, dass sie gelernt habe, wie sehr der Krieg für sie schlecht sei und dass sie am Krieg sich fortan nicht mehr beteiligen wolle. Brecht hat daraufhin an Wolf auch einen offenen Brief geschrieben. In dem besagten Punkt müsse Brecht widersprechen. Natürlich wolle er auch, dass die Courage mit einem vorbildlichen Verhalten hervorsteche. Die Frage aber ist, wie leistet man, dass der Impuls auch nachhaltig ins Publikum zurückwirke. Für Brecht war der Impuls stärker, wenn die Courage unbelehrbar bleibt, so dass im Publikum ein Widerstand wächst: »Ist denn die Frau noch ganz bei Sinnen?« »Das darf doch wohl nicht wahr sein!« – Mit solcher Aufgeregtheit tragen die Zuschauer den Impuls viel länger und wirksamer in sich, als wenn die Courage dem Krieg abgeschworen hätte. Damit aber so eine Inakzeptanz gegenüber einer Identifikationsfigur beim Zuschauer entstehen kann, muss geistige Souveränität vorhanden sein: Selbstständiges Denken. Wir müssen in das Theater eine Struktur bringen, durch die der Zuschauer gleichsam gezwungen ist, eine Eigenleistung zu erbringen, durch die überhaupt erst ein fertiges Produkt entsteht.
M.H.: Der Zuschauer vollendet durch seine Rezeption das Kunstwerk.
P.K.: Genau. Und wenn Sie sagen, das Ende der Nono-Inszenierung wirke in gewisser Weise hermetisch, dann ist das gewollt, aber es liegt jetzt am Betrachter, was er daraus macht. Wenn er nichts macht, wirkt es resignativ, wenn er gegen die Hermetik aufbegehrt, greift er nach der zugeschlagenen Tür und geht hindurch. Wenn die Tür offenbliebe, würde dieser Impuls, durch die Tür hindurchzugehen, gar nicht entstehen.
M.H.: Sie sagen, dass Ihr Verhältnis zur Oper ein Liebesverhältnis sei und dass sie zwischen Ihnen und den Stücken eine dialektische Beziehung erkennen. Sie verändern nicht nur die Stücke in der Inszenierung, um dem Werk und dem Autor treu zu bleiben, sondern Sie sagen, dass Sie sich in der Auseinandersetzung auch verändern.
P.K.: Es erscheint vielleicht erst einmal komisch, wenn man die Zuneigung zur Oper mit einem Liebesverhältnis vergleicht. Aber es hängt mit Berührung zusammen. In einem Buch von einer französischen Autorin habe ich gelesen, dass ein Mann, der sagt »ich liebe Dich«, aber die Frau nicht berührt, nicht liebt. Ich denke, das stimmt. Berührung ist für die Liebe konstitutiv. Ich berühre auch die Werke, betrachte sie nicht als Denkmäler. Die architektonische Variante des Denkmals verhindert Berührung.
Berührung ist für die Liebe konstitutiv. Ich berühre auch die Werke, betrachte sie nicht als Denkmäler.
M.H.: Es steht auch meistens dran: »Draufklettern verboten!« Wie soll man dann auf Schultern von Riesen stehen können, wenn man sie nicht berühren darf.
P.K.: Eben. Ich darf das Denkmal wie ein Totem nicht berühren. Es ist entrückt und flößt Angst ein, auch Berührungsangst, weil man hochschauen muss. Wie soll ich aber jemanden verehren, wenn ich Angst habe? Den ich verehre, muss ich angstfrei berühren dürfen. Die originalgetreue Reproduktion eines Werkes kommt einer lieblosen Verehrung, einer Ehrfurcht gleich. Die Interpretation eines Werkes oder Autors ist dagegen wie eine Berührung und ist deshalb mit wirklicher Liebe vergleichbar. Es gibt die Werke, und es gibt das Theater. Auf der Bühne passiert mit den Werken etwas. Viele denken, Theater müsse mechanisch und texttreu ein Stück realisieren.
M.H.: Wahrscheinlich muss man dem Autor gerecht werden dadurch, dass man Stoffe anders arrangiert, indem man sie verändert, um – wie Sie es nennen – werktreu zu bleiben.
P.K.: Das ist die Treue.
M.H.: Es ist der Zeitkern der Wahrheit, der bestimmten Aussagen anhaftet. Weil der Urheber einer Aussage im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit seine Aussage nicht überlebt – sie wird in Büchern verewigt –, hat er auch nicht die Chance, von selbst auf der Höhe der Zeit zu bleiben und seine Aussagen den Umständen gewandelter Verhältnisse anzupassen. Aber der Interpret kann das für den Urheber leisten. Er leistet diesem sozusagen einen Liebesdienst.
P.K.: Man sieht es ja auch an sich selbst. Wenn wir unsere eigenen Sachen zwanzig Jahre später lesen, merken wir, dass wir andere geworden sind und denken unter Umständen anders über die eigenen Zeilen. Aber der Gedanke ist doch wunderbar: Man wird einem Autor gerecht, indem man ihn verändert.
Wenn ich Neues an den Stücken entdecke, dann ist das wie bei sich liebenden Menschen, die in ihrer Beziehung sich verändern. Wir werden auch zu anderen Menschen, wenn wir unsere Partner wechseln. So ist es auch in der Auseinandersetzung mit den Stücken. Wenn mir verboten wird, an einem Opernstück etwas zu verändern, es zu berühren, dann wird mir letztlich auch verboten, dass ich mich verändere. Die Arbeit an der Oper ist für mich mit einem Liebesverhältnis vergleichbar.
M.H.: Es gibt einen Gedanken von Habermas, mit dem ich Sie gerne konfrontieren möchte. Er sagt, dass bestimmte Errungenschaften: Emanzipation von den gesellschaftlichen Zwängen symbolisch festgehalten werden müssten, um dem »Schicksal dieser Vergesslichkeit, dieser Absorption in ein geschichtslos-dumpfes, schlecht gegenwärtiges Dahintreiben entrissen zu werden. Utopien sind wichtig, (...) aber ebenso wichtig ist Erinnerung, aktives Wiedererinnern, Anamnese (...). Für Dinge, für die man gekämpft hat, für die eine kollektive Anstrengung nötig war, braucht man eine symbolische Form der Darstellung.«[1] – Für gewöhnlich werden Denkmäler oder Museen gebaut, die genau diesen Zweck der Erinnerung erfüllen sollen. Das Problem ist nur, dass da Erinnerung in Stein gemeißelt oder in Vitrinen ausgestellt wird. Die Erinnerungspraxis ist damit sehr verdinglicht, geradezu petrifiziert – statisch und nicht mehr lebendig. Die Bühne dagegen könnte eine lebendige Erinnerungskultur leisten. Aber Theaterinszenierungen sind nicht für die Ewigkeit gemacht; sie sind vergänglich. Eine Spielzeit wird die Inszenierung aufgeführt, in der Regel schauen sich die Menschen eine Aufführung nur einmal an. Es ist nichts Bleibendes.
Man wird einem Autor gerecht, indem man ihn verändert.
P.K.: Das erinnert mich an einen Satz von Adorno, dass alle Verdinglichung Vergessen bedeutet.
M.H.: Mit anderen Worten: Es geht gar nicht anders. Es ist die Lebendigkeit des Theaters, welche Erinnerung garantiert, aber um den Preis, dass sie flüchtig bleibt und immer wieder erneuert werden muss.
P.K.: Habermas spricht ja von einem symbolischen Festhalten.
T.F.: Das Symbol liefert zusätzlich zu dem, was Sprache leistet, was diskursive Rationalität ausmacht, etwas, in dem noch ganz andere Gehalte gespeichert sind: Emotionen und das Nicht-Identische, an das Sprache gar nicht mehr herankommt und welches gar nicht mehr anders als durch Symbole transportiert werden kann. Nur die Kunst in ihrem Variantenreichtum hat die Möglichkeit dazu. Es sind Symbole, die Sie in Ihren Inszenierungen verwenden zusätzlich zur Sprache und Musik.
P.K.: Man muss für die komplexen geschichtlichen Vorgänge auf der Bühne in der Tat Symbole finden, die die komplexen Zusammenhänge exemplarisch reduzieren. Der Umgang mit geschichtlichen Dingen ist im Theater zweifelsohne lebendiger als im Museum. Aber erst dadurch, dass wir unser Leben einbringen, wird das Theater lebendig. Theater ist eine mannigfaltige Folge von Wiederbelebungen, vergleichbar mit der Bibelexegese, die ständig wieder vorgenommen werden muß.
M.H.: Was mich vielleicht ein wenig beunruhigt, aber je länger ich darüber nachdenke, desto mehr komme ich zu dem Schluss, dass es auch gar nicht anders geht. Das flüchtige Moment, welches dem Theater zufällt, ist konstitutiv für lebendige Erinnerung. Per definitionem ist Lebendigkeit flüchtig. Wir leben alle nur unsere Zeit und müssen dann abdanken – und genauso ist es auch mit der Inszenierung eines Theaterstückes: wenn sie lebendig sein und lebendig an etwas erinnern will, dann gehört dazu, dass sie flüchtig ist und vergeht, Platz macht für eine neue Inszenierung, die in dann gewandelten Zeiten Raum hat für eine neue Interpretation.
P.K.: So ist es. Das hinzunehmen ist als Regisseur aber nicht immer leicht. Am Anfang hat mir das auch wehgetan, wenn die letzte Aufführung einer meiner Inszenierungen anstand und danach die Bühnenbilder buchstäblich zerhackt wurden. Ich habe es gesehen; das sieht wirklich schlimm aus. Die Inszenierung würde aber, wenn sie fortewig aufgeführt werden würde, auch sterben – unbemerkt. Sie führte wie die großen in Stein gemeißelten Persönlichkeiten eine Zombie-Existenz. Die Inszenierung würde zu einem petrifizierten Denkmal werden.
T.F.: Peter Konwitschny, wir bedanken uns bei Ihnen für dieses äußerst anregende Gespräch.
[1] Jürgen Habermas: Die neue Unübersichtlichkeit, Frankfurt am Main 1985, S. 68.
[x] Das Gespräch mit Peter Konwitschny erschien zuerst in dem Sammelband von Tatjana Freytag / Marcus Hawel (Hg.): Arbeit und Utopie. Oskar Negt zum 70. Geburtstag, Frankfurt am Main: Humanities Online 2004.
Mit Beiträgen von: André Gorz, Michael R. Krätke, Iring Fetscher, Elmar Altvater, Moshe Zuckermann, Giacomo Marramao, Loic Wacquant, Gerhard Schweppenhäuser, Regina Becker-Schmidt, Wolf Dieter Narr, Günter Grass, Alexander Kluge, Oskar Negt, Elisabeth Lenk, Peter Konwitschny und Detlev Claussen.
Der Sammelband kann bei Humanities Online bestellt werden.
https://sopos.org/aufsaetze/47a7da1bdb419/1.phtml
sopos 2/2008