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Modernisierung der Arbeitnehmermilieus und "Neue Linke"

Rezension

von Stefan Janson

Zu Beginn des Buches "Die neuen Arbeitnehmer. Zunehmende Kompetenzen - wachsende Unsicherheit", im 2. Kapitel, referiert Vester die wesentlichen Ergebnisse der 2001 in überarbeiteter 2. Auflage erschienenen Studie "Soziale Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel". In dieser ist von dem Autorenkollektiv um Michael Vester und Peter von Oertzen der Ansatz der Schule um Pierre Bourdieu ins Deutsche übertragen worden. Methodisch baut "Die neuen Arbeitnehmer" auf der älteren Untersuchung auf.

Der Hintergrund für die damals entwickelte moderne Analyse der Klassenstrukturen ist der Modernisierungsschub, der insbesondere seit Mitte der 1980er Jahre beschleunigt auch die deutsche Wirtschafts- und Sozialstruktur umformt. Dieser hat nicht, wie U. Beck und andere formulierten, die im Kapitalismus vorhandenen Gegensätze aufgehoben, sondern spitzt sie zu und scheint nunmehr in eine kritische Phase zu treten. Die Dynamik des Finanzkapitalismus, die qualitative Weiterentwicklung der Produktivkräfte durch Informations- und Kommunikationstechnologie, Mikrobiologie und Gentechnik u.a. und das Auftreten neuer sozialer Akteure, die im Osten zum Zusammenbruch der realsozialistischen Systeme und ihre Transformation in real kapitalistische führten, hat die sozialen und politischen Institutionen der Bundesrepublik geschwächt. Darüber hinaus haben sie den neoliberalen Eliten Anlass geboten, die sozialstaatlichen bürokratischen Sicherungen der Lohnarbeit anzugreifen, zu schleifen und in ihrem Sinne umzuformen. Dieser Generalangriff auf die Fundamente der alten Republik mündet in eine Erosionskrise, die sich von einer Politiker- zu einer Politikverdrossenheit entwickelt und sich in Arbeitslosigkeit und neuer Armut, Fremdenfurcht und Gewaltakten gegen Ausländer ausdrückt. Vester und von Oertzen verstanden es, diese Prozesse als Ausdruck für eine umfassende Modernisierung unserer Sozialstruktur zu analysieren: "Die Klassenkulturen des Alltags sind vielmehr, gerade wegen ihrer Umstellungs- und Differenzierungsfähigkeit, außerordentlich stabil. Was erodiert, sind die Hegemonien bestimmter Parteien [...] in den gesellschaftspolitischen Lagern. Daher haben wir auch heute keine Krise der Milieus (als Folge des Wertewandels), sondern eine Krise der politischen Repräsentation (als Folge einer zunehmenden Distanz zwischen Eliten und Milieus.)"[1]

Die Regierung Schröder-Fischer wirkte ab 1998 als Katalysator für die Zuspitzung der sozialen, wirtschaftlichen und politischen Probleme in Deutschland. Die lohnabhängigen Milieus sehen sich zunehmend zu "Eigenverantwortung und Flexibilität im Erwerbs- und Bildungsbereich" aufgefordert. Betroffen sind aber längst nicht mehr nur die unterprivilegierten Milieus. Deklassierungsängste erreichen inzwischen weite Teile der bislang gesicherten arbeitnehmerischen Mitte.

Deshalb war eine der Kernthesen Vesters /von Oertzens, dass "die neuen sozialen Milieus der Ausdruck nicht einer Auflösung, sondern einer Modernisierung der Arbeitnehmermilieus sind" (S. 10). Dieser Ansatz, der sowohl den Fortbestand sozialer Klassen als auch deren Ausdifferenzierung in sozialen Milieus herausarbeitet, zielt in seinen Analysen zur Entwicklung sozialer Ungleichheit auf die Habitusmuster und Lebensführungen der verschiedenen Milieus. Der entscheidende Fortschritt in der Analyse bestand darin, dass hier keine monolithischen Klassen, möglichst noch in horizontaler Schichtung ("Bourgeoisie gegen Proletariat"), herauspräpariert wurden - ohne jedoch vom "Ende der Arbeiterklasse" zu reden. Die Abgrenzung zu solchen simplizistischen marxistischen Schemata einerseits und bürgerlichen Verschleierungsansätzen wie denen von Beck andererseits wurde darin deutlich, dass die Anforderungen an eine moderne, plausible und handlungsorientierende Klassentheorie eingelöst wurden[2]:

In der nun vorliegenden Studie werden neue, modernisierte Arbeitnehmermilieus charakterisiert und analysiert und die Befunde daraufhin befragt, wie sich Anknüpfungspunkte für die Ansprache und Organisation dieser Gruppen in der IG Metall finden lassen. Es lässt Gutes hoffen, wenn der neue Vorsitzende der Gewerkschaft, Bertold Huber in seinem Vorwort dazu selbstkritisch anmerkt: "So kann es sogar sein, und wir machen diese Erfahrung in der Praxis immer häufiger, dass neue Arbeitnehmerinnen den Gewerkschaften nicht deshalb fernbleiben, weil sie (die Gewerkschaften - Anm. d. Verf.) aus ihrer Sicht zu sehr, sondern viel zu wenig emanzipatorisch agieren."(S.13)

Im wesentlichen kommen die Autoren zu folgenden "Folgerungen für die Praxis und für die Forschung" (S.96ff.):

Ist auch die von Vester et al. veröffentlichte Studie im Auftrage der IG Metall in gewerkschaftsorganisatorischer Absicht erstellt worden, so stellt sie doch den aktuellsten Beitrag dar, in dem die Entwicklungen und Umstellungen mit dem ursprünglich von Bourdieu entwickelten Konzept der sozialen Milieus dargestellt werden. Sie ist schon deshalb nützlich und nutzbar. Allerdings hat sie ein Manko, das sich wohl im Rahmen dieser Untersuchung nicht beseitigen ließ: die wachsenden Milieus derjenigen, die von temporärer oder gar längerfristiger Prekarität betroffen sind, spielen nur eine randliche Rolle - so etwa die nachwachsende technische Intelligenz ("Studierende in den Ingenieurswissenschaften", S. 209ff - im Inhaltsverzeichnis übrigens schlicht vergessen !). Es ist aber absehbar, dass gerade auch diese Milieus nicht nur quantitativ zunehmen, sondern dass das dort kapitalistisch nicht genutzte kulturelle und soziale Potenzial dringend in den Fokus sozialistischer Strategiebildung einbezogen werden muss. Die im Buch aufgezeigten Ansatzpunkte für das "Organizing" der IG Metall in diesen Milieus bietet hierfür Hinweise, doch die Bedeutung der Studie bleibt keineswegs darauf beschränkt. In politischer Absicht wird methodisch aktuelles Material für die Untersuchung der für Sozialisten entscheidenden Frage aufbereitet: Welche Verhaltensmuster und - dispositionen in welchen Milieus der ausdifferenzierten Arbeitnehmerschaft erzwingen von den Kräften der Demokratie und des Sozialismus ein Umdenken und Umlenken ihrer Arbeit im Sinne einer "emanzipativen Radikalisierung"?[3]

Die Ergebnisse der Untersuchung fordern zuallererst die Gewerkschaften in ihrem eklatanten Demokratiedefizit, mit ihren wenig attraktiven Beteiligungs- und Repräsentationsstrukturen heraus. Gleiches gilt aber nicht minder für größere Fraktionen der sich selbst als "Neue Linke" stilisierenden Partei "Die Linke" in ihrem Politikverständnis. Die neuen Arbeitnehmermilieus wird man mit Autoritarismus und einer Stellvertreterpolitik des "Kleineren Übels" nicht überzeugen, schon gar nicht gewinnen können - und das ist vom Standpunkt der "allgemeinen proletarischen Emanzipation" auch gut so. Staatsfixiertheit, die Überreste einer doktrinären Welterklärung aus marxistisch-leninistischen Theorieversatzstücken, die fortdauernde Stellvertreterattitüde von objektiv funktionslos gewordenen Gewerkschaftsfunktionärsmilieus, all das wird eine wirkliche Neue Linke nicht voranbringen und die dringend für ein demokratisch- sozialistisches Projekt gebrauchten Arbeiter und Angestellten mit ihren ungeheuren fachlichen und demokratischen Fähig- und Fertigkeiten nicht anlocken.[4]

Es ist die Aufgabe der libertär orientierten Sozialisten, in ihren Arbeitszusammenhängen den Boden für einen wirklicher neuer linker Aufbruch vorzubereiten. Dafür ist die Partei "Die Linke" nur ein Platzhalter. Dieser Aufbruch wird nur gelingen, wenn die neuen Arbeitnehmermilieus, falls sie sich denn organisieren und aufbrechen, auf eine emanzipatorische Bewegung treffen, die glaubhaft und sichtbar selbst basisdemokratisch, theoretisch neugierig und offen und aktivistisch, auf Selbsttätigkeit und -organisation setzt. Sie muss in so weit ganz die Einsicht verkörpert, "dass unser persönliches und sozial vernetztes Glück und Wohlergehen voraussetzt, dass es auch allen anderen Menschen gut geht."[5] Hierfür breites und analytisch aufbereitetes Material zur Verfügung gestellt zu haben, dafür gebührt dem Autorenkollektiv Dank. Es ist daher nicht nur Gewerkschaftern, sondern auch Lesern aus der sozialistischen Linken zu empfehlen.

Anmerkungen:

[1]Vester/von Oertzen u.a.: Soziale Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel, Frankfurt am Main 2001, S. 13.

[2]Vgl. a.a.O., S. 148.

[3]Vgl. von Oertzen: "Neue Soziale Bewegungen und Arbeiterbewegung", in: Demokratie und Sozialismus zwischen Politik und Wissenschaft, Hannover 2004, S. 354ff; insb. S. 371ff.

[4]Es ist deshalb kein gutes Zeichen, wenn die Austeritätspolitik des SPD-Linken-Senats in Berlin, die sich objektiv gegen ganze Segmente der subalternen Milieus richtet, nun auch noch den "amtlichen Segen" der eigentlichen Parteileitung aus Bisky, Gysi und Lafontaine bekommt.

[5]Karl-Heinz Roth: Die Intelligenz und die "soziale Frage", Vortrag Rosa-Luxemburg-Initiative Bremen, 11.2.2006, Ms., S. 13.

Michael Vester/Christel Teiwes-Kügler/Andrea Lange-Vester: Die neuen Arbeitnehmer. Zunehmende Kompetenzen - wachsende Unsicherheit, Vorwort von Berthold Huber, VSA-Verlag Hamburg 2007, 254 Seiten.

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sopos 2/2008