von Marcus Hawel (sopos)
Der damalige Vorsitzende des Verfassungskonvents, Giscard d' Estaing, hatte prophezeit, die EU-Verfassung werde 50 Jahre und länger halten,[1] aber sie konnte nicht einmal in Kraft treten. Nach der Ablehnung in Frankreich und den Niederlanden 2005 lag die EU-Verfassung auf Eis, und der Verfassungsprozeß war zuweilen schon in Gänze für gescheitert erklärt worden, bis 2007 unter deutscher Ratspräsidentschaft jene Elemente des Verfassungsvertrages ausfindig gemacht wurden, die Aufnahme in ein erneuertes Vertragswerk fanden. Den so entstandenen Reformvertrag haben die EU-Regierungschefs am 13. Dezember 2007 in Lissabon unterzeichnet. Nun muß das Dokument von allen 27 Mitgliedsländern ratifiziert werden. Einzig in Irland ist dazu ein Referendum vorgeschrieben - in den anderen EU-Staaten scheut man nach der Erfahrung des Jahres 2005 Volkes Stimme.
Das Non und Ne der Franzosen und Niederländer hatte weit über deren Länder hinaus in der europäischen Bevölkerung für Freude gesorgt, weil die Ablehnung auch als stellvertretend für diejenigen EU-Bürger empfunden wurde, die im Ratifizierungsprozeß einfach hintergangen wurden. Es gab sehr gute Gründe für die Ablehnung, die aber seitdem von den herrschenden Eliten in Europa beharrlich ignoriert werden.
Die Kritik gegenüber der austarierten Verfassung, die in den meisten Ländern der EU mit einfacher Mehrheit von den jeweiligen nationalen Parlamenten durchgewunken werden sollte, obwohl Umfragen oftmals ein deutliches Signal für die ablehnende Haltung der jeweiligen Bevölkerungen gaben, basiert auf dem neoliberalen Paradigma, dem sich die herrschenden Eliten in Europa bis ins Mark verschrieben haben und von dessen Geist die Verfassung bis ins Detail geprägt ist. Das neoliberale Paradigma ist in den Worten Jürgen Habermas folgendermaßen bestimmt: "durch das anthropologische Bild vom Menschen als einem rational entscheidenden Unternehmer, der seine eigene Arbeitskraft ausbeutet; durch das sozialmoralische Bild einer postegalitären Gesellschaft, die sich mit Marginalisierung, Verwerfungen und Exklusionen abfindet; durch das ökonomische Bild einer Demokratie, die Staatsbürger auf den Status von Mitgliedern einer Marktgesellschaft reduziert und den Staat zum Dienstleistungsunternehmen für Klienten und Kunden umdefiniert; durch das strategische Ansinnen, daß es keine bessere Politik gibt, als die, die sich selber abwickelt."[2]
Gegen das neoliberale Paradigma formiert sich weltweit zunehmend Widerstand - auch in Europa. Aber der Protest gegen eine EU-Verfassung, die sich dem neoliberalen Paradigma bis in jeden Nebensatz verschrieben hat und die den Menschen in Europa, die ihre Haut zu Markte tragen müssen, die Gerberei aufnötigt, kommt nur schleppend voran. Im März 2007 schrieb Ekkehard Krippendorf im Freitag: "Ein Gespenst geht um in Europa - aber keiner nimmt es ernst: die europäische Verfassung."[3] Das war gut drei Monate, bevor die Bundeskanzlerin Angela Merkel, die deutsche EU-Ratspräsidentschaft im Rücken, das Verfassungsprojekt der neoliberalen Eliten wiederzubeleben suchte und ihr bei der vermittelnden Moderation zwischen den einzelnen Macht- und Wirtschaftsinteressen einzelner EU-Mitgliedsländer (vor allem zwischen Polen, Großbritannien und Frankreich) folgenreiche, von allen Ländern akzeptierte Kompromisse zu erzielen gelang.[4]
Nun also soll eine Verfassung für Europa in Kraft treten, die freilich nicht so genannt werden darf und die auch dieser Bezeichnung nicht würdig ist, weil ihr weiterhin im wesentlichen das neoliberale Paradigma gleichsam als Fundamentalnorm eingeschrieben ist. Der Bielefelder Jurist Andreas Fisahn schreibt: "Diese Fixierung auf Marktradikalität widerspricht den demokratischen Normen von Politik, die stets die Möglichkeit zum Richtungswechsel offen halten - laut Verfassung ist der weitgehend ausgeschlossen. Folglich bleibt das Parlament machtlos, bleibt es beim bekannten Demokratiedefizit, bleibt die Kommission das Exekutivorgan der Interessenten und Nutznießer dieser ›offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb‹, die von allen sozialen und demokratischen Bindungen befreit ist. Merkels Erfolg in Brüssel war kein Erfolg für die Demokratie."[5]
Verfassungen taugen nicht als Fetisch; dafür sind sie in der Regel zu nüchtern formuliert. Es kommt nicht bloß auf deren Konstituierung an, so daß man sich anschließend zurücklehnen könnte, um seine dann verfassungsrechtlich garantierten Freiheiten zu genießen. Eine Verfassung ist gleichsam keine Waffenstillstandslinie im Klassenkampf. Weil der Kapitalismus notwendig ein prozessierender Widerspruch ist, bleibt Klassenkampf eine unabänderliche Kategorie der Realität, solange wie Kapitalismus eben besteht. Dieser Klassenkampf findet seinen Ausdruck auch auf der verrechtlichten Ebene. Das ungepflegte, bloß vertraglich festgehaltene Recht hat eine Halbwertszeit und wird nicht selten in dem Augenblick gebrochen, wenn es auf das Recht ankommt.
Aber Verfassungen sind auch weitaus mehr als bloß nichts. Reinhard Kühnl schreibt kritisch mit Blick auf den von Jürgen Habermas geprägten Begriff eines abstrakten Verfassungspatriotismus, "nur die Identifikation der Bürger mit der demokratischen Verfassung als der Norm, nach der das politische Leben gestaltet werden soll, [kann] sicherstellen, daß die immer drohende Verselbständigung der staatlichen und bürokratischen Machtapparate und deren Instrumentalisierung für die Interessen der herrschenden Klassen auf Kosten der Bürgerrechte in Grenzen gehalten werden können. Aber reicht sie aus, um den Kampf für Demokratie und Frieden mit aller Kraft zu führen?"[6]
Verfassungen sind gemäß Wolfgang Abendroth ein Kampfboden auf dem sich die verbrieften Freiheiten besser gegen Angriffe der herrschenden Eliten verteidigen und erweitern lassen. Da diese Angriffe gegen die Freiheiten in dem Augenblick nicht aufhören, in dem sie verfassungsrechtlich verankert sind, müssen sie in jedem Augenblick, gleichsam unablässig, verteidigt werden. Die Verfassung stellt eine Demarkationslinie im Klassenkampf dar. Diese Linie ist mehr oder weniger permanent politisch umkämpft und wird in die eine oder andere Richtung verschoben, je nachdem welche Seite im politischen Klassenkampf gerade stärker ist. Die Verschiebung der Demarkationslinie vollzieht sich in Gestalt einer Dialektik der begrenzten Regelverletzung, die eine neue Regel zustande bringt. Von der Regelverletzung geht die normative Kraft des Faktischen aus, die eine Veränderung der Verfassungswirklichkeit, d.h. der interpretativen Auslegung des verrechtlichen Rechts zur Folge hat, insofern keine Gegenwehr erfolgt. Zuletzt kippt die normative Kraft des Faktischen in die faktische Kraft des Normativen um, d.h. auf die gewandelte Verfassungswirklichkeit folgt eine Verfassungsänderung.
Jürgen Seifert hat für diese spezifische Dialektik der Rechtsentwicklung die prozedurale politische Strategie des "Kampfes um Verfassungspositionen" entwickelt, die wiederum auf das politische Konzept der "juristischen Aktion" von Karl Korsch zurückgeht.[7] Seifert stellt 1974 fest: "Der Kampf um Rechtspositionen wird heute entscheidend geprägt durch veränderte Verwertungsbedingungen des Kapitals in allen westlichen Industrieländern. Wachstums- und Profitraten sinken. Der Konkurrenzkampf nationaler und internationaler Kapitalfraktionen wird stärker. Es gibt Strukturkrisen in bestimmten Industriezweigen und eine zunehmende Verlagerung von Produktion in bisher unterentwickelt gehaltene Länder. Die Folgen sind Arbeitslosigkeit, zunehmende Rationalisierung und intensivere Ausnutzung der Arbeitskraft jedes einzelnen."[8] Diese damals von Seifert konstatierten neuen Entwicklungen veranlaßten ihn, den Kampf um Verfassungspositionen für die Zukunft mehr als im Vergleich zur Vergangenheit als einen defensiven Kampf auszurichten. "Ob und in welcher Weise es möglich sein wird, diesen Defensivkampf offensiv zu wenden, ist in jedem Einzelfall zu prüfen. Es wird bei diesem Kampf jedoch mehr denn je darauf ankommen, die Faktoren beim Namen zu nennen, die der Kapitalismus für diesen Verfassungskampf setzt."[9]
Inzwischen haben wir es mit der Finalität des EU-Integrationsprozesses zu tun. Der Vertiefungsprozeß der Europäischen Union findet seinen symbolischen wie rechtswirkmächtigen Abschluß in einer Verfassung, die man aber offiziell nur als "Vertrag" bezeichnen soll, gerade weil sie sich - wie es für eine Verfassung unüblich ist - weniger um die Rechte der EU-Bürger kümmert als vielmehr um die infinitesimale Deklination der neoliberalen Marktfreiheiten des europäischen Kapitals. Das daraus resultierende Demokratiedefizit auf EU-Ebene wird nicht nur fortgesetzt, sondern auf nationalstaatlicher Ebene droht das legitimatorische Defizit zu einer Verschärfung des Abbaus von Verfassungspositionen zu führen, da die nationalen Verfassungen sich nicht in "wesentlichen Fragen" im Widerspruch mit EU-Recht befinden dürfen.
Das Prinzip der Komplementarität gilt allerdings nur sehr abstrakt. Jutta Limbach wies als Präsidentin des Bundesverfassungsgerichtes darauf hin, daß das 1992 ins Grundgesetz aufgenommene Staatsziel der europäischen Integration zwar nachhaltig die Gewährleistung von rechtstaatlichen Grundsätzen durch die EU, aber eben nur einen "dem Grundgesetz im wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz" (Artikel 23, Absatz 1, Grundgesetz) voraussetze. "Ein ›im wesentlichen vergleichbarer Grundrechtsschutz‹ muß nicht mit dem durch das nationale Verfassungsgericht gewährleisteten identisch sein."[10] Mit anderen Worten: "Der Grundrechtsschutz auf europäischer Ebene darf hinter dem nationalen deutschen Grundrechtsschutz zurückbleiben. Denn in Anbetracht der Vielzahl der Mitgliedsstaaten wird man von der Europäischen Union und ihrem Gerichtshof nicht verlangen können, daß sie den Anforderungen aller nationalen Verfassungen genügen."[11] Vergleichbarkeit könne sich daher nur allgemein und abstrakt auf die Grundfreiheiten (Meinungs- und Presse-, Versammlungs- und Berufsfreiheit, Eigentumsgarantie und Gleichheitsprinzip) beziehen, deren Einzelaspekte wiederum durchaus von den besonderen Auslegungen der nationalen Verfassungen abweichen dürften. Für die herrschenden Eliten erschließt sich im Vertiefungsprozeß der europäischen Integration aus diesem Umstand die Möglichkeit der Entsorgung einiger Verfassungspositionen auf nationaler Ebene, um deren Erhalt und Ausbau einmal jahrzehntelang Linke und Liberale ihrer Fortschrittlichkeit wegen gekämpft haben. Zu erwarten ist jedenfalls nicht, daß die herrschenden Eliten ohne Druck von unten die EU-Verfassung entsprechend austarieren, damit sie als höheres Recht nicht erkämpfte Verfassungspositionen auf nationaler Ebene nivelliert; statt dessen werden die Verfassungspositionen auf nationaler Ebene uminterpretiert, gleichsam auf das Wesentliche reduziert, damit sie das EU-Recht nicht blockieren.
Auf diese Weise wird mithin der aus Sicht der herrschenden Eliten lästige demokratische Einfluß der Massen auf europäischer Ebene ausgeschaltet - mit Rückkoppelung wiederum auch auf die nationale Ebene. Man kann daran erkennen, daß die herrschenden Eliten in Europa nicht inkompetent sind, das Demokratiedefizit auf EU-Ebene zu beseitigen, sondern schlicht nicht willens, da die Fortexistenz in ihrem Interesse liegt. Man kann auch erkennen, daß die defensive Einstellung im Kampf um Verfassungspositionen, wie sie Seifert 1974 formuliert hat, sich heute keineswegs offensiv gewendet hat. Neu ist verschärfend die Notwendigkeit hinzugekommen, den Kampf um Verfassungspositionen aus seinem vormals im nationalstaatlichen Rahmen verorteten Bezugspunkt herauszulösen, das heißt, auf Europa zu erweitern. Ins Visier muß die EU-Verfassung genommen werden, ohne den Kampf auf nationalstaatlicher Ebene um Verfassungspositionen aufzugeben, da es sich hier um eine dialektische Rückkoppelung handelt.
Der Kampf um Verfassungspositionen muß auf Europa übertragen werden, ansonsten werden die historisch erkämpften Verfassungspositionen auf nationaler Ebene durch eine bereits stattgefundene Machtverschiebung vom Nationalstaat zu europäischen Institutionen sukzessive entsorgt. Fatal wäre es, sich gegenüber der Entsorgung gleichgültig zu verhalten. Denn eine solche Entsorgung würde nur zu einer Verschlechterung der gegenwärtigen Ausgangsbedingungen im politischen Kampf bei gleichzeitiger Zuspitzung der sozialen Verhältnisse unter der Knute des neoliberalen und kapitalistischen Paradigmas führen. Es ist auch nicht zu erwarten, daß sich eine orthodoxe Verelendungstheorie plötzlich bewahrheitet, nachdem man oft genug auf eine Revolution des Elends vergebens gewartet hat. Es wäre auch zynisch, darauf zu hoffen.
Machen wir uns also am besten nichts vor. Europa benötigt dringend eine Verfassung. "Ein politisch verfaßtes und institutionell gefestigtes Europa würde die Fähigkeit zu gemeinsamen Handeln stärken, ohne Richtungsentscheidungen zu präjudizieren. Eine erweiterte politische Handlungsfähigkeit ist eine notwendige, [allerdings; MH] keine hinreichende Bedingung für Korrekturen am Weltwirtschaftsregime, die einige (...) für wünschenswert halten mögen."[12] Aber besser noch als eine schlechte, ist keine Verfassung. Dieser Verfassungsvertrag, der mit seinen wesentlichen Inhalten nun wiederbelebt wurde, ist nicht imstande, die sozialen und rechtstaatlichen Errungenschaften in Europa zu verteidigen - er gefährdet sie. Europa braucht eine Verfassung, die das neoliberale Paradigma entschieden zurückweist und verhindert, daß die Bürger zu "Mitgliedern einer Marktgesellschaft" reduziert werden und die sich im übrigen nicht auf den Kapitalismus festlegt, sondern ergebnisoffen ist. Europa braucht eine Verfassung, die dem Frieden und der Freiheit zusagt und die Rechte der Menschen schützt. Europa braucht eine Verfassung, die sich positiv in die geistige Tradition der Revolutionen in Europa von 1789 bis 1917 stellt und unmißverständlich zum Ausdruck bringt, daß die Gewalt von einem zu konstituierenden europäischen Volk[13] ausgeht.
Wer zu diesem politischen und pluralistischen Gemeinwesen dazugehört, ist eine andere Frage, die aber im Sinne einer Offenheit beantwortet werden muß, um nicht inhuman zu werden und zugleich den durch einen exklusiven Rahmen drohenden Chauvinismus und Rassismus auf die europäische Ebene zu transportieren. Auch wie dieses Europa dann genau verfaßt ist: ob föderalistisch, souveränistisch oder ganz anders, ist ebenfalls eine andere Frage. Zunächst muß es darum gehen, das neoliberale Paradigma zurückzuweisen, mithin als erstes zu erkennen, warum es überhaupt so wirkmächtig werden konnte, um daraus abzuleiten, welche politischen Konsequenzen notwendig sind, um Politik als Gestaltungsmacht der Bürger wieder instand zu setzen.
Es ist der Sozialphilosoph Jürgen Habermas, der wie kein zweiter in unserer Republik über Jahrzehnte die politischen Entwicklungen nicht nur reflexiv begleitet, sondern auch die entsprechenden Stichworte geliefert hat, die sich zu prägenden und die Wirklichkeit wahrnehmenden Begriffen ausgebildet haben (z.B. postraditionale Identität, abstrakter Verfassungspatriotismus, neue Unübersichtlichkeit, postnationale Konstellation usw.) 1998 erschien seine Aufsatzsammlung mit dem Titel "Die postnationale Konstellation" im Suhrkamp-Verlag. In dem, was gemeinhin seit einiger Zeit schon als "Globalisierung" bezeichnet wurde, erkennt Habermas eine Gefährdung für den Bestand des im nationalstaatlichen Rahmen konstituierten Rechts- und Sozialstaats. Ralf Dahrendorf sprach indes vom Ende des sozialdemokratischen Jahrhunderts und prognostizierte, das 21. Jahrhundert werde zum Autoritarismus zurückkehren.
Der Globale Kapitalismus depotenziere jedenfalls die sozialpolitische Gestaltungsmacht des Nationalstaats, der den politischen Herausforderungen mehr oder weniger machtlos gegenübersteht. Sachzwänge und Imperative der Standortlogik, vor denen die Politik kapituliere, das heißt, sie übernehme das neoliberale Paradigma und wickle sich selbst ab, beherrschten unsere Parlamente, statt daß in ihnen wie anderswo über für den demokratischen Prozeß zuträgliche Formen nachgedacht werde, die jenseits des Nationalstaats entstehen können. Die demokratische Selbststeuerung der Staatsbürger war auf den Nationalstaat als Rahmen angewiesen. Wenn dieser nun sukzessive wegfalle, so Habermas, dann müsse im postnationalen Bereich Ersatz geschaffen werden. Die Europäische Union sei die erste postnationale Demokratie, wenn sie auch noch ein deutliches legitimatorisches Defizit aufweise und dringend eine Verfassung benötige, die das Defizit beseitigt.
Im Juni 2001 hielt Jürgen Habermas in mehreren europäischen Hauptstädten eine Rede über die Notwendigkeit einer europäischen Verfassung. Die Zeit veröffentlichte in ihrer Ausgabe 27/2001 eine gekürzte Version des Textes.[14] Die wichtigsten Punkte, die sich seit vielen Jahren in Habermas' Interventionen immer wieder finden lassen, seien noch einmal in Erinnerung gerufen.
Eine bemerkenswerte Diskrepanz bestehe zwischen den einstigen Euphorien und Visionen der Europäer unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg und den Konzepten jener, die heute die politische Einigung Europas zu vollstrecken haben. Die Gründungsväter hätten eher ein politisches Europa nach Vorbild der USA im Blick gehabt; die Ideologie des Nationalismus sollte für immer geächtet sein, und dessen Bezugsgröße: der Nationalstaat, sollte durch eine höhere Integrationsebene aufgelöst werden. Mittlerweile aber werde die europäische Integration beinahe ausnahmslos vorangetrieben durch die ökonomischen Interessen - durch ähnliche Faktoren, die einmal die Entstehung der Nationalstaaten begünstigt haben, bevor die Idee der allgemeinen Menschenrechte als moralische Legitimation gegriffen hatte; die politische Begründung der europäischen Integration erfolgt heute ähnlich nachträglich. Primär ging es um die Einheit des europäischen Wirtschaftsraumes, vor allem um eine gemeinsame Währung.
"Als politisches Gemeinwesen kann sich Europa im Bewußtsein seiner Bürger nicht allein in Gestalt des Euro festsetzen." - Die "Kraft zur symbolischen Verdichtung", so Habermas, könne nicht aus dem Euro gewonnen werden. Hierzu benötige es eines politischen Gründungsaktes, welcher die säkularisierte Kraft eines magischen Schöpfungsmythos besitze und sich im Bewußtsein der Menschen tief und vor allem sinnstiftend verankere.[15] Der Wille zu neuen Integrationsebenen und sinnstiftenden, kollektiven Identitäten entstehe vor allem als Reflex auf gesellschaftliche Krisensituationen. Das sei auch der Grund, weshalb die Gründungsväter eines politischen Europas zur Stunde Null weitaus verständiger in der Bereitschaft für postnationale Konstellationen gewesen waren als heute: Der zivilisatorische Zusammenbruch in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts ist heute weitgehend "sachlich" verarbeitet. Alles drängt nach "Normalität". In Europa herrsche keine Angst mehr vor einem chauvinistischen Deutschland.
Frieden und Freiheit gelten für Europa weitgehend als gewährleistet, eine Orientierung an der westlichen Ethik gilt als manifest; und ein nationaler Patriotismus, der in Europa wieder en vogue geworden ist, stehe für die Menschen in keinem Widerspruch mit ihrer europäischen Identität. Die Herausbildung einer europäischen Identität gilt gemein als eine der wichtigsten Herausforderungen, die darin bestehe, "die großen Errungenschaften des europäischen Nationalstaates über dessen nationale Grenzen hinaus in einem anderen Format zu bewahren; neu ist nur die Entität, die auf diesem Wege entstehen wird", schreibt Habermas.
Zu den europäischen Errungenschaften, die als materielle Lebensbedingungen unbedingt in Europa bewahrt werden müssen, gehöre vor allem die Freiheit zur Bildung und Muße, sowie sozialstaatliche Gestaltungsmöglichkeiten, welche die kulturelle Voraussetzung sind für politische, demokratische Partizipation eines jeden Einzelnen in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit. Der Globale Kapitalismus, die Globalisierung, drohe die europäische Kultur und Lebensform zu liquidieren, so daß die europäische Kultur im bloßen Markt verschwinde und die Bürger zu "Mitgliedern einer Marktgesellschaft" reduziert würden.
Nur ein politisches Gemeinwesen sei, so Habermas, als Gestaltungsmacht im Kreise der Global Player imstande, die gemeinsame Kultur vor ihrer Preisgabe zu schützen. Ein politisches Gemeinwesen, konstituiere sich allerdings nach der Tradition der europäischen Rechtsphilosophie vermittels einer Verfassung, vor der die meisten Nationalstaaten in Europa zurückschrecken, weil sie den Verlust ihrer nationalen Einflußmöglichkeiten befürchten, die durch einen europäischen Superstaat o.ä. nicht adäquat kompensiert werden könnten, wodurch sie sich noch schutzloser dem Einfluß der Weltwirtschaft ausgesetzt wähnen. Aber: "Eine europäische Verfassung würde nicht nur die Machtverschiebung, die stillschweigend stattgefunden hat, manifest machen; sie würde neue Machtkonstellationen fördern." Europaskeptiker tun die Vorstellungen hinsichtlich einer europäischen Verfassung damit ab, daß sie behaupten es gebe kein europäisches Volk und damit keine Legitimationsgrundlage.[16]
Habermas weist hier darauf hin, daß die politische Staatsbürgernation nicht mit jener vorpolitisch und ethnisch homogenen Schicksalsgemeinschaft: der Kulturnation, verwechselt werden dürfe. Während die Kulturnation auf gemeinsame Sprache und Herkunft zurückgehe, konstituiere sich die Nation der Staatsbürger auf einem voluntaristischen Akt, das heißt auf einem Plebiszit. Aus der Entstehungsgeschichte der Nationalstaaten in Europa lasse sich ablesen, wie sich neue kollektive Identitäten im Bewußtsein der Menschen affirmativ und sinnstiftend festsetzen. Habermas nennt wichtige Voraussetzungen dafür, daß ein europäisches Volk als Begriff im Bewußtsein der Menschen identitätsstiftend wirksam werden könne: Die Existenz einer Bürgergesellschaft gehöre hierzu genauso wie auch die "Konstruktion einer europaweiten politischen Öffentlichkeit; und drittens die Schaffung einer politischen Kultur, die von allen EU-Bürgern geteilt werden kann." Es müsse also die Logik, nach der in Europa der demokratische Staat und die politische Nation entstanden sind, "noch einmal reflexiv auf sich anwenden". Habermas argumentiert mit Hegel gegen dessen Abbruch der Dialektik, den dieser mit der Affirmation des bürgerlichen Staates unternahm. Es gehe darum, die Geschichte fortzusetzen, das heißt, die Ebene des Nationalstaates zu verlassen und in die Phase postnationaler Demokratien einzutreten.
Freilich existiert in der reflexiven Bewegungsform, die Habermas vorschlägt, auch die Möglichkeit nicht des endgültigen Verlassens der nationalen Konstellation, sondern daß sich auf höherer Integrationsebene ein neuer Nationalstaat: die europäische Republik oder die Vereinigten Staaten von Europa herausbilden - mit sämtlichen Risiken, die sich mit einem Nationalstaat, das heißt mit imaginierten kollektiven Identitätskonstrukten (z.B. Nationalismus) verbinden. Damit wir aber als Staatbürger unsere politische Souveränität weiterhin als "Volk", von dem in Demokratien die Gewalt ausgehen soll, ausspielen können, benötigen wir einen politisch konstituierten Rahmen, der den globalen Anforderungen und Herausforderungen gewachsen ist. Eine Verfassung für Europa ist nicht die alleinige Lösung des Problems. Aber ohne eine entsprechende Verfassung werden die Probleme schwieriger zu lösen sein.
Daß eine europäische Verfassung, in der friedenspolitische, humanitäre, soziale sowie rechtsstaatliche Standards festgeschrieben sind, nicht vom Himmel fällt oder von den herrschenden Eliten freiwillig geschrieben wird, dürfte jedem klar sein. Ist aber auch jedem klar, daß man deshalb Druck von unten geben muß? Andernfalls wird es entweder keine Verfassung geben oder eine, die den Prozeß der sukzessiven Rücknahme historischer Errungenschaften eines Sozial- und Rechtsstaates manifestiert. Es wäre gar nicht abwegig, wenn die Bürger Europas eine solche Verfassung nicht ihren unwilligen herrschenden Eliten überlassen, sondern diese politische Herausforderung zumindest symbolisch selbst in die Hand nehmen.
[1] Siehe FTD-online vom 16. Juni 2003.
[2] Jürgen Habermas: "Braucht Europa eine Verfassung?", in ders.: Zeit der Übergänge. Kleine Politische Schriften, Bd. IX, Frankfurt am Main 2001, S. 112.
[3] Ekkehart Krippendorf: "Mit der Seele suchen. Ein Plädoyer für ein kulturelles Europa", in: Freitag, Nr. 12 vom 23. März 2007.
[4] Vgl. "Ja-Sager und Nein-Sager. Wie viel Egoismus verträgt die Europäische Union? Drei Antworten", in: Die Zeit, Nr. 27 vom 28. Juni 2007, S. 4.
[5] Andreas Fisahn: "Delikat und kühn. Merkels Erfolg in Brüssel. Weiter den Markt anbeten, als hätte es die EU-Referenden in Frankreich und Holland nie gegeben", in: Freitag, Nr. 26 vom 29. Juni 2007.
[6] Reinhard Kühnl: "Ein Kampf um das Geschichtsbild: Voraussetzungen - Verlauf - Bilanz", in ders. (Hg.): Streit ums Geschichtsbild. Die "Historiker-Debatte". Dokumentation, Darstellung und Kritik, Köln 1987, S. 280.
[7] Vgl. Jürgen Seifert: "Karl Korsch und die juristische Aktion" sowie "Der Kampf um Verfassungspositionen", in ders.: Kampf um Verfassungspositionen. Materialien über Grenzen und Möglichkeiten von Rechtspolitik, Frankfurt am Main 1974, S. 54-65 und S. 105-124.
[8] Seifert, a.a.O., S. X.
[9] Ebd.
[10] Jutta Limbach: "Die Kooperation der Gerichte in der zukünftigen europäischen Grundrechtsarchitektur - Ein Beitrag zur Neubestimmung des Verhältnisses von Bundesverfassungsgericht, Europäischem Gerichtshof und Europäischem Gerichtshof für Menschenrechte", hier im Internet.
[11] Ebd.
[12] Jürgen Habermas: "Braucht Europa eine Verfassung?", in ders.: Zeit der Übergänge, a.a.O., S. 113.
[13] Der Begriff des Volkes ist im deutschen Kontext zurecht umstritten. Der Begriff wird hier im völkerrechtlichen Sinne ("We, the people") verwendet und grenzt sich vom archaischen ius sanguinis, mithin von einer ethnisch homogenen Volksgemeinschaft ab. Es geht vielmehr um ein politisches und pluralistisches Gemeinwesen, von dem die Gewalt ausgeht und legitimiert wird.
[14] Jürgen Habermas: "Warum braucht Europa eine Verfassung? - Nur als politisches Gemeinwesen kann der Kontinent seine in Gefahr geratene Kultur und Lebensform verteidigen", in: Die Zeit, 27/2001; siehe auch die längere, ausgearbeitete Fassung von Habermas: "Braucht Europa eine Verfassung?", in ders.: Zeit der Übergänge, a.a.O.
[15] Hinsichtlich dieser nicht ungefährlichen Problematik, siehe: Helmut Heit (Hg.): Die Werte Europas. Verfassungspatriotismus und Wertegemeinschaft in der EU?, Münster 2004.
[16] Vgl. Marcus Hawel: Die normalisierte Nation. Vergangenheitsbewältigung und Außenpolitik in Deutschland. Mit einem Vorwort von Moshe Zuckermann, Hannover 2007, S. 355ff.
Eine gekürzte Version dieses Beitrages erschien in der Wochenzeitung FREITAG am 4.1.2008 unter dem Titel: Weder tot noch lebendig.
https://sopos.org/aufsaetze/4794c7512392f/1.phtml
sopos 1/2008