von Gregor Kritidis (sopos)
"Das macht doch Spaß, wenn man so einen tollen Job hat. Ich erlebe immer was, treffe nette Leute, komme weit herum. Sie können sich gar nicht vorstellen, wi schnell da 14 Stunden rum gehen".
(Eine Zugbegleiterin, nachdem ich mich positiv über ihre freundliche Art geäußert hatte).
Es ist schon bemerkenswert, mit welch harten Bandagen der nun schon monatelange Tarifkonflikt zwischen der kleinen Gewerkschaft der Lokomotivführer (GDL) und der großen Bahn-AG ausgefochten wird. Da versucht der Vorstand der Bahn-AG, mit juristischen Mitteln Streiks zu verhindern, bemüht die Gerichte und setzt die Lokführer mit Abmahnungen unter Druck. Die Gewerkschaft hingegen versucht, alle ihr noch zur Verfügung stehenden arbeitsrechtlichen Mittel auszuschöpfen und mit einer partisanenartigen Nadelstichtaktik die Arbeitgeberseite zum Abschluß eines eigenen Spartentarifvertrags für das Fahrpersonal zu bewegen. In der medialen Öffentlichkeit tobt eine nervenzehrende Auseinandersetzung, bei der beide Seiten versuchen, der Gegenpartei die Verantwortung für die Streikmaßnahmen zuzuschieben und die Bevölkerung respektive die öffentliche Meinung für sich einzunehmen.
Dabei hat es bereits ein erstes Opfer gegeben: Mitten in der Tarifauseinandersetzung verabschiedete sich GDL-Chef Manfred Schell in eine Kur. Aus der GDL-Führung waren unterschiedliche Erklärungen über das weitere Vorgehen zu vernehmen. Die Häme in der Presse war Schell gewiß: Bald werde die Boulevardpresse Bilder von verstopften Straßen zeigen und daneben das Foto des Gewerkschaftschefs, der es sich in der Kur gutgehen läßt, ätzte die Süddeutsche Zeitung.[1] Derartige Polemiken sind freilich selbst Teil der politischen Auseinandersetzung und kein Beitrag zur Klärung der Sachlage.
Wer die GDL diskreditieren will, mokiert sich freilich über das scheinbare Chaos bei der Gewerkschaft; die in der GDL-Führung aufgetretenen Widersprüche sind jedoch eine zwingende Folge der Krise der traditionellen gewerkschaftlichen Repräsentationsformen.[2] Wenn die Bahn-AG zu keinerlei Zugeständnissen bereit ist und stattdessen mit autoritären Mitteln reagiert, sind auch Verhandlungen in der üblichen Form nicht mehr möglich.
Ein Blick zurück: Schon seit Jahren bemüht sich die GDL um einen eigenen Tarifvertrag, da die Lokführer ihre Interessen durch den Tarifverbund mit den anderen Bahngewerkschaften Transnet und GDBA nicht gewahrt sehen. In der Tat hat die Transnet, deren Vorsitzender Norbert Hansen im Aufsichtsrat der Bahn-AG sitzt, keine Versuche unternommen, die Kampfkraft der Lokführer zu einer allgemeinen Anhebung der Löhne und Gehälter bei der Bahn auszunutzen. Im Gegenteil: Die Transnet stimmte sogar einer Arbeitszeitverlängerung ohne Lohnausgleich und einer Verschlechterung der Arbeitsbedingungen für die Lokführer zu. Aber auch die anderen Gehälter bei der Bahn befinden sich seit 2005 im Sinkflug. Angesichts der Tatsache, daß die Transnet-Führung den Privatisierungskurs des Vorstandes der Bahn-AG kritiklos mitträgt, ist es nicht überraschend, daß sie auch der Deckelung der Einkommen der Bahn-Beschäftigten keinen ernsthaften Widerstand entgegensetzt.
Vor diesem Hintergrund läßt sich das unnachgiebige Vorgehen des Bahn-Vorstandes gegen die GDL erklären: Um die geplante Privatisierung der Bahn nicht zu belasten und die Gewinnerwartungen der zukünftigen Aktionäre nicht zu enttäuschen, soll es keine substantiellen Zugeständnisse an die Bahn-Beschäftigten geben. Denn sollte ein eigener Tarifvertrag mit der GDL abgeschlossen werden, stünde auch der bereits von der Transnet abgeschlossene Vertrag wieder zur Disposition - das sieht eine dort enthaltene Klausel vor. Dann könnte sich die soziale Unzufriedenheit bei den Bahn-Beschäftigten Bahn brechen und das gesamte Privatisierungsprojekt geriete in Gefahr. Die Übertritte von der Transnet zur GDL, die sich bereits auf mehrere hundert belaufen, belegen, wie angespannt die Situation ist.
Anstatt den Konflikt wie in früheren Zeiten durch materielle Zugeständnisse zu entschärfen, hofft die Bahn-AG, die Lokführer mit juristischen Mitteln in die Knie zwingen zu können. Bereits im August hatte das Arbeitsgericht Nürnberg vor dem Hintergrund einer breiten Kampagne gegen die GDL Streiks bei der Bahn mit dem Argument für rechtswidrig erklärt, im Falle eines Streiks sei mit einem schweren wirtschaftlichen Schaden zu rechnen. Das ist aber das Wesen jeden Streiks, allenfalls wären Tarifverhandlungen "kollektives Betteln", wie das Bundesarbeitsgericht in einer Entscheidung Anfang der 1980er Jahre festgestellt hat.[3] Renommierte Arbeitsrechtler wie Wolfgang Däubler und Ulrich Zachert stuften das Nürnberger Urteil daher als rechtlich nicht haltbar ein.[4]
In einem Vergleich zwischen der Bahn-AG und der GDL einigten sich die Verhandlungsgegner schließlich auf ein Moderationsverfahren, für das die CDU-Politiker Heiner Geißler und Kurt Biedenkopf benannt wurden. Mit Manfred Schell, der ebenfalls CDU-Mitglied ist und Anfang der 1990er Jahre für die Union im Bundestag gesessen hat, handelte es sich also um eine reine CDU-Runde - ein Aspekt der in den Medien weitgehend verschwiegen worden ist. In diesem Moderationsverfahren sagte die Bahn-AG zu, mit der GDL in Verhandlungen zu treten, die einen eigenständigen Tarifvertrag zum Ziel haben. Die GDL erklärte sich im Gegenzug dazu bereit, diesen nur für die Lokführer und nicht für das Fahrpersonal insgesamt anstreben zu wollen.[5] Mit der Forderung, der Vertrag mit der GDL müsse sich aber "konflikt- und widerspruchsfrei in das Gesamttarifwerk einfügen", ließ sich der Bahn-Vorstand eine Hintertür offen.[6]
Anstatt ein verhandelbares Angebot vorzulegen, kehrte die Bahn-AG nach dem Ende des Moderationsverfahrens zu ihrer unnachgiebigen Haltung zurück und ging nur dem Anschein nach auf die Forderungen der GDL ein. Selbst in den Medien wurde bemängelt, daß die Bezahlung bereits geleisteter Überstunden und eine zehnprozentige Lohnerhöhung, welche die Lokführer durch eine Verlängerung der Arbeitszeiten von 41 auf 43 Stunden selbst erarbeiten sollen, kein substantielles Angebot darstellen.[7] Und auch die GDL kehrte zu ihren ursprünglichen Forderungen zurück und bezog das übrige Fahrpersonal wieder in ihre Forderungen mit ein. Der Ankündigung von Streiks begegnete die Bahn-AG mit einer erneuten Anrufung der Gerichte.
Auf Betreiben des Konzerns hat das Arbeitsgericht Chemnitz am 5. Oktober 2007 die Streiks im Fern- und Güterverkehr untersagt und lediglich im Regionalverkehr Kampfmaßnahmen für rechtens erklärt. Das Chemnitzer Gericht hat die Argumentation der Bahn AG zwar in mehreren Punkten zurückgewiesen und beispielsweise das Argument, es müsse ein einheitliches Tarifwerk geben, nicht anerkannt, da die Bahn-AG selbst in den Moderationsverhandlungen das Ziel eines eigenständigen Tarifvertrages mit der GDL akzeptiert hat.[8] Sorgen bereitet dem Gericht aber die "Disparität" bei Streiks: Die Lokführer könnten aufgrund ihrer spezifischen Position im Transportsektor das Mittel des Streiks besonders effektiv einsetzen. Im Deutsch der Juristen liest sich das dann so:
"Aufgrund dieser Effizienz besteht die Gefahr einer ‚überschießenden' Wirkung und dem Eintritt einer Disparität, zu Lasten der Arbeitgeberseite. Verfolgt jede Berufsgruppe, die mehr oder weniger zufällig über Blockademöglichkeiten verfügt, ihre eigenen Interessen, droht eine Vervielfachung von Arbeitskämpfen mit gravierenden Auswirkungen auf die Volkswirtschaft".[9]
Diese Argumentation ist aber nicht nachvollziehbar; von Kampfmaßnahmen der Lokführer läßt sich nicht umstandslos auf Aktivitäten von Krankenhausärzten oder Piloten schließen. Warum soll zudem Lokführern das verwehrt werden, was man eben diesen Beschäftigtengruppen bereits zugestanden hat? Es geht auch nicht darum, mit wochenlangen Streiks das wirtschaftliche Leben zum Erliegen zu bringen - offenbar das Horrorszenario des Gerichts - sondern um zeitlich befristete Kampfmaßnahmen. Zudem ist kein Gerichtsurteil bekannt, daß sich etwa um die Kampfparität von Mitarbeitern in Call-Centern bemüht hätte, die den Erpressungen von Arbeitgebern täglich ausgesetzt sind. Ganz ausgeblendet bleibt bei der Frage der "Parität" der Aspekt des medialen Einflusses auf die öffentliche Meinung, die durchaus Entscheidend für den Ausgang eines Arbeitskampfes sein kann: Die überwiegend privatwirtschaftlich organisierten Medien haben weitgehend negativ oder verzerrend über den Streik berichtet, während kritische Gegenpositionen kaum zu Wort kommen.[10]
Besonders problematisch ist der Begriff von Allgemeinwohl, den das Gericht zugrunde gelegt hat. Im Urteil heißt es dazu:
"Das Streikrecht hat jedoch dann hinter den Interessen der Allgemeinheit zurückzutreten, und eine relevante Gemeinwohlbeeinträchtigung liegt dann vor, wenn die Belange unbeteiligter Dritter und der Allgemeinheit in unerträglicher Weise in Mitleidenschaft gezogen werden, das heißt ein gesteigertes sachlich objektives öffentliches Interesse an der Unterlassung der Streikmaßnahme, das heißt in einem Fall von außergewöhnlicher Bedeutung vorliegt.
Das ist in beiden im Tenor unter Ziffer 1 genannten Unternehmen der Fall (es handelt sich um Teile des DB-Konzerns, G.K.), da hier nicht nur die konkrete Arbeitsleistung Dritten gegenüber unmittelbar zu erbringen ist, sondern aufgrund der Gegebenheiten in Gestalt einer europaweiten Vernetzung wie zeitlichen Verzahnung der Ausführung von branchenspezifischen Spezialtransporten, die mit anderen Verkehrsmitteln nicht möglich wären, ein Abweichen auf andere Anbieter nicht möglich ist."[11]
Das Allgemeinwohl läßt sich jedoch nicht umstandslos mit den Interessen des Bahn-Konzerns und ihrer industriellen Großkunden identifizieren. Die "Allgemeinheit" und die "Volkswirtschaft" bestehen eben auch und vor allem aus lohnabhängig Beschäftigten, die ein gesteigertes Interesse an menschenwürdigen Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen haben. Indem die Lokführer als kampfkräftige Arbeitnehmergruppe von ihrem verfassungsrechtlich verankerten Streikrecht Gebrauch machen, erfüllen sie objektiv die Funktion einer sozialen Avantgarde im Sinne Erich Gerlachs, die exemplarisch die wirtschaftlichen und demokratischen Interessen der abhängig Beschäftigten insgesamt verteidigt.[12] Zudem ist auch keinesfalls zu rechtfertigen, warum die Nutzer des Regionalverkehrs von Streiks betroffen sein sollen, Industriekonzerne dagegen nicht.
Trotz der fragwürdigen Allgemeinwohl-Konstruktion entbehrt die Entscheidung des Chemnitzer Gerichts nicht der Logik: Faktisch hat das Gericht die GDL dazu gezwungen, den Streik in einem Bereich zu führen, der am ehesten zu negativen Reaktionen unter breiteren Teilen der Bevölkerung führen kann. Ein Streik im Regionalverkehr trifft vor allem die breite Zahl der pendelnden Niedrig- und Durchschnittsverdiener, während von einem Streik im Fernverkehr vor allem besserverdienende Geschäftsreisende betroffen sein würden. Ein Ausstand im Güterverkehr hätte vor allem Auswirkungen auf die Produktionsketten mittlerer und großer Industriekonzerne. Steht etwa die Produktion bei VW aufgrund von Lieferengpässen still, geht das zu Lasten der Gewinne, während die Belegschaften bei vollem Lohnausgleich pausieren können. Offenbar haben sich mit der Chemnitzer Entscheidung die Interessengruppen der Großindustrie durchgesetzt, während Fragen der Tarifautonomie - es handelt sich immerhin um ein zentrales demokratisches Grundrecht - keine Rolle gespielt haben.
In den Medien traf das Urteil zwar weitgehend auf Kritik. Die taz etwa spottete, in Chemnitz halte nicht einmal ein Fernzug. Die gesellschaftspolitischen Hintergründe der Entscheidung von Chemnitz wurden aber kaum irgendwo problematisiert.[13] Auch wurden die Aufforderungen des Verkehrsministers Tiefensee an die GDL, an den Verhandlungstisch zurückzukehren, ohne daß die Bahn-AG ein verhandelbares Angebot vorgelegt hatte, nicht als eine eindeutige Parteinahme für den Bahn-Vorstand gewertet.[14] Die Medien in ihrer breiten Mehrheit nehmen ebenso wie die Mehrzahl der Angehörigen der politischen Klasse mehr oder weniger deutlich gegen die Lokführer-Streiks Stellung.[15] Es ist schon frappierend, daß immer wieder die Lohnforderung der GDL thematisiert wird, die 77prozentige Erhöhung der Bezüge des Bahn-Vorstandes jedoch kaum einmal Erwähnung findet.
Es wäre eine besondere Abhandlung wert, am Beispiel des Chemnitzer Urteils die besonderen - unbewußten - Kontinuitäten obrigkeitsstaatlichen Denkens in Deutschland zu beleuchten.[16] Das Arbeitskampfrecht in der Bundesrepublik basiert im wesentlichen auf Parteigängern des NS-Regimes wie dem ehemaligen Vorsitzenden des Bundesarbeitsgerichts, Hans Carl Nipperdey. Von Nipperdey und Alfred Hueck stammte ein Standardkommentar zum Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit von 1934. In den 50er Jahren war der Verfassungsjurist Wolfgang Abendroth der wichtigste Gegenspieler von Nipperdey. Seine Kritik an Allgemeinwohl-Vorstellungen, wie sie das Chemnitzer Gericht vorgetragen hat, ist auch heute noch programmatisch:
Die liberal-kapitalistische Gesellschaft, so Abendroth, sei durch antagonistische soziale Interessen gekennzeichnet. Die Demokratie stelle nur ein formales Ordnungsprinzip dar, das dem Inhalt nach durch Teilinteressen bestimmt sei. "Das Wesen der liberal-kapitalistischen Gesellschaft, die auf der Rechtsgleichheit und Freiheit der Rechtssubjekte, dem juristischen Korrelat der formalen Gleichberechtigung der Warenbesitzer im Marktverkehr beruht, mußte jedoch logisch dahin drängen, diese Rechtsgleichheit auch auf die politische Position des Staatsbürgers auszudehnen, also die Demokratie als politisches Ordnungsprinzip zu setzen."[17] Das demokratische Prinzip dränge zwar auf einen volonté général; in der liberal-kapitalistischen Gesellschaft gebe es aber kein gesellschaftliches Gesamtinteresse. "Als einziges Gesamtinteresse, das als gemeinsames Moment der an der liberal-kapitalistischen Struktur interessierten Gruppen gebildet werden kann, verbleibt dann nur noch die Verteidigung der durch die kapitalistische Wirtschaftsstruktur bestimmten Gesellschaft gegen das Übergreifen des demokratischen Prinzips aus dem staatlichen Raum in die Gesellschaft."[18] Diese Zielsetzung konstituiere aber kein allgemeines Interesse, weil sie sich gegen die sozialen und demokratischen Ansprüche der Unterklassen richte.
Mit seinem Urteil hat sich das Chemnitzer Gericht also deutlich auf die Seite der Bahn-AG und ihrer Geschäftspartner gestellt, während die Lokführer, die anderen Bahn-Beschäftigten sowie die Mehrheit der Bahn-Kunden das Nachsehen haben.
Noch gibt es trotz der von großen Teilen der Medien betriebenen Desinformation Sympathie für die Anliegen der Lokführer.[19] Motiviert von der Befürchtung, die Stimmung könne umschlagen, hat sich die GDL jedoch zu einem taktischen Vorgehen gezwungen gesehen und teilweise geplante Streiks wieder abgesagt oder verschoben. Die GDL hat nun im Unterschied zum August gegen das Chemnitzer Urteil Berufung eingelegt in der Hoffnung, sich der juristischen Fesseln zu entledigen. Die Auseinandersetzung geht also in die nächste Runde.
Was aber soll passieren, wenn das Landesarbeitsgericht Sachsen das Chemnitzer Urteil bestätigt oder nur so modifiziert, daß dennoch keine oder nur sehr eingeschränkt Streiks im Fern- und Güterverkehr möglich sind? Der Rechtsweg wäre dann erstmal ausgeschöpft,[20] obwohl selbst umstritten sein dürfte, welche Gerichte welche Zuständigkeiten haben. Spätestens, wenn vor dem Bundesarbeitsgericht oder dem Bundesverfassungsgericht in dieser Sache verhandelt wird, schlägt die Stunde der Wahrheit. Das BAG ist bisher dem Prinzip der Tarifeinheit gefolgt. Dabei handelt es sich um die juristische Variante des im Kern richtigen Prinzips: Ein Betrieb, eine Gewerkschaft. Dieses Prinzip ist aber nur dann mit gewerkschaftlichen Grundsätzen vereinbar, wenn auch tatsächlich die wirtschaftlichen Interessen der abhängig Beschäftigten wahrgenommen werden. Wäre dem nicht so, müßte man Staatsgewerkschaften wie den ostdeutschen FDGB als gelungene Verkörperung des Prinzips der Tarifeinheit ansehen. Einheit geht aber nicht vor Freiheit. Wenn Teile der lohnabhängig Beschäftigten vom Streikrecht Gebrauch machen, um gegen das Lohndiktat einer sozialen Minderheit von Spitzenmanagern und Kapitaleignern vorzugehen, kann ihnen die Passivität der anderen Bahngewerkschaften nicht vorgehalten werden. Im Gegenteil: Der Führung der Transnet muß der Vorwurf gemacht werden, sich zumindest teilweise die Position des Bahn-Vorstandes zu eigen gemacht und damit gegen grundlegende Gewerkschaftsprinzipien verstoßen zu haben.[21] Warum also das Prinzip der Tarifeinheit schwerer wiegen soll, als die im Grundgesetz garantierte Koalitionsfreiheit, ist vollkommen unerfindlich.[22] Das Chemnitzer Gericht hat völlig zu Recht auf das Angebot der Bahn-AG in den Moderationsverhandlungen verwiesen, der GDL einen eigenständigen Tarifvertrag zugestehen zu wollen.[23]
Die Ausführungen des Gerichts zur Frage der Parität im Arbeitskampf und des volkswirtschaftlichen Schadens sind dagegen fragwürdig. Inwieweit eine rationalere Argumentation durchdringt, ist freilich eine Frage der gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung - Verfassungsfragen, und darum geht es im Kern, sind Machtfragen. Angesichts der bevorstehenden weitreichenden gesellschaftlichen Richtungsentscheidungen, die mit diesem Tarifkampf der GDL verknüpft sind, haben sich die DGB-Gewerkschaften bisher in sträflicher Weise passiv verhalten und damit faktisch den Konzerninteressen freies Spiel gelassen. Es handelt sich aber nicht um die Interessen einer gewerkschaftlichen Minorität, sondern um eine Grundsatzfrage für alle Gewerkschaften.
Es wird darauf ankommen, welche geistig-moralischen Ressourcen die Lokführer werden mobilisieren können, um diesen Tarifkampf, der sich längst zu einem Kampf um das Streikrecht ausgeweitet hat, durchzustehen. Der Kuraufenthalt des GDL-Vorsitzenden Schell ist in diesem Zusammenhang kein Zeichen der Schwäche, im Gegenteil. Angesichts der unsäglichen Personalisierung der Tarifauseinandersetzung in den Medien verwundert es nicht, wenn der GDL-Chef seine Nerven nicht länger strapazieren will. Selbst die Süddeutsche Zeitung polemisierte gegen einen "Streik um des Streiks Willen" und behauptete, das Verhalten der GDL würde "dem Naturell des widerborstigen GDL-Chefs Manfred Schell entsprechen."[24]
Es sind aber nicht die subjektiven Eigenschaften des GDL-Vorsitzenden, die ursächlich für die gegenwärtige Konfliktsituation sind; konfrontiert mit einer offensiven Rationalisierungs-und Klassenkampf-Strategie der Bahn-AG sind die Lokführer gezwungen, mit neuen Formen des Arbeitskampfes zu experimentieren. Jemand wie Schell gehört da eher zum alten Eisen, und es wäre abwegig, ihm irgendwelche radikalen Neigungen unterstellen zu wollen.
Hätte die GDL tatsächlich einen radikalen Schritt machen wollen, hätte sie das Streikverbot des Chemnitzer Gerichts übertreten, von ihrem Grundrecht auf Koalitionsfreiheit Gebrauch gemacht und einen befristeten Streik auch im Fern- und Güterverkehr ausgerufen. Anstelle der angedrohten 250.000 € Schadensersatz hätte der Vorsitzende Schell öffentlichkeitswirksam die ersatzweise angedrohte Ordnungshaft von sechs Monaten antreten können. Das wäre eine Alternative zu seinem Kuraufenthalt gewesen, die durchaus in der Tradition der Arbeiterbewegung steht: Wichtige Bücher wären nicht zustande gekommen, hätten ihre Autoren nicht zeitweise im Gefängnis zugebracht. August Bebel sprach in diesem Zusammenhang vom Gefängnis als Universität. Es ist zudem kaum vorstellbar, daß der Vorsitzende einer Gewerkschaft, zumal ein CDU-Mitglied, tatsächlich die gesamte Strafe verbüßen müßte.
An der schwarzen Bürgerrechtsbewegung in den USA in den 50er und 60er Jahren läßt sich zeigen, daß die Wahrnehmung und damit die Verteidigung von Grundrechten gerade auch von einzelnen gesellschaftlichen Gruppen ausgehen kann, ja muß. Die begrenzte Überschreitung formellen, aber illegitimen Rechts zur Wahrung von Grundrechten ist dabei notwendig. Ohne die Bus-Streiks von Montgomery wäre die Rassentrennung später nicht von den Gerichten aufgehoben worden.
Ein derartiger Schritt zivilen Ungehorsams stellt ein erhebliches Risiko dar, wiegt aber geringer als das Risiko, die Wahrung der Grundrechte den Gerichten zu überlassen, zumal in einer solchen Situation mit einer Unterstützung der GDL durch breite Teile der Bevölkerung zu rechnen wäre. Das Problem der juristischen Auseinandersetzung liegt auf der Hand: Richter sind keineswegs gesellschaftlich neutral.[25] In Zeiten des sozialen Umbruchs werden die Gerichte dazu tendieren, bei der Fortentwicklung von Rechtspositionen die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse zu berücksichtigen.[26] Verzichtet die GDL darauf, ihre Kampfkraft und Entschlossenheit klar zu demonstrieren, liefert sie die Richter dem Druck der Arbeitgeber und der Meinungsbildung der Medienkonzerne aus.[27] Was will man aber tun, wenn die Gerichte nicht im Sinne der Lohnabhängigen, d.h. im Sinne der Tarifautonomie entscheiden, sondern die Grundrechte einschränken?
Eine Möglichkeit, die unvermeidbaren Risiken dieses Tarif- und Verfassungskampfes zu minimieren, wäre eine konsequente Bündnispolitik. Noch gibt es keinen unmittelbaren Bezug zwischen dem Kampf gegen die Privatisierung der Bahn, wie er von attac und anderen Organisationen geführt wird, und dem Tarifkampf der GDL. Objektiv stehen beide Auseinandersetzungen in einem engen Zusammenhang und es würde dem Bahn-Vorstand erhebliches Kopfzerbrechen bereiten, sollte es hier zu einer engen Kooperation kommen.
Die Chancen dafür stehen nicht einmal schlecht: Mittlerweile hat sich bis in die Reihen der SPD herumgesprochen, daß von einer Privatisierung der Bahn nur eine Minderheit von Kapitaleignern profitiert, die breite Mehrheit der Bahn-Nutzer aber das Nachsehen hat: Unmittelbar, da das Angebot durch eine Konzentration der finanziellen Ressourcen auf die profitablen ICE-Verbindungen, weitere Streckenstillegungen im ländlichen Raum und Fahrpreiserhöhungen verschlechtert wird. Und mittelbar, weil mit einer privatisierten Bahn eine damit zusammenhängende ökologische Verkehrspolitik unmöglich gemacht wird. Daher geht auch das Volks-Aktien-Modell der SPD fehl: Das Ziel muß in einer demokratischen Kontrolle dieses zentralen Verkehrsträgers bestehen.
Es wäre im übrigen den Chemnitzer Arbeitsrichtern anzuraten, sich mit der Frage der Bahnprivatisierung und insbesondere mit den Argumenten der Privatisierungskritiker auseinanderzusetzen. Eine vom Steuerzahler subventionierte weltweite Expansion des Bahn-Konzerns zu Lasten der Mehrheit der Bahn-Kunden sowie der Beschäftigten stellt sicherlich das absolute Gegenteil jeglicher Vorstellunge von "Allgemeinwohl" dar.
Der Tarifkonflikt bei der Bahn hat sich noch nicht bis zum äußersten zugespitzt. Lokomotivführer neigen nicht zu radikalem Vorgehen. Die Lokführer sind eher so, wie Michael Ende in seinem Kinderbuch Jim Knopf den Lokomotivführer Lukas beschrieben hat: Rechtschaffend, traditionsbewußt und gutmütig, aber auch handwerklich versiert und einfallsreich - ein eher konservativer Facharbeitertypus mit hohem Berufsstolz.[28] Man muß schon wie ein Drachen auf diesen Lukas losgehen, um einen Gegenschlag zu provozieren. Dann aber reagiert er mit List und Humor - auch wenn er Eisenstangen verknoten kann.
Die Hannoversche Allgemeine Zeitung hat in einer Reportage den Berufsstolz und das Traditionsbewußtsein der Lokführer auf sehr subtile Weise als Mentalität von gestern zu diskreditieren versucht.[29] Es wird sich zeigen, wie groß das sozial-kulturelle Potential der Lokführer tatsächlich ist, diesen Tarifkonflikt durchzustehen.
Die Zukunft könnte in der Kampftaktik der britischen Transportarbeiter bestehen: Als diesen mit der Pleite des privaten U-Bahn-Betreibers Metronet die Existenzgrundlage verloren zu gehen drohte, beschloß die National Union of Rail, Maritime und Transport Workers RMT einen sechstätigen Ausstand und bekam sofort ihre Forderungen nach Erhalt der Arbeitsplätze vom Konkursverwalter erfüllt.[30]
Es könnte also durchaus sein, daß sich der Vorstand der Bahn-AG mit seiner autoritären Strategie gründlich verschätzt hat.
[1] "Lokführer neben der Spur." SZ v. 18.10.2007.
[2] Vgl. dazu: Bernd Röttger: Passive Revolutionen - ein Schlüssel zum Verständnis kapitalistischer Umwälzungen und der aktuellen Krise der Gewerkschaftspolitik. In: Das Argument 270. 2/2007, S. 179-195. Es wäre eine intensive Diskussion wert, wie weit der von Gramsci übernommene Begriff der passiven Revolution trägt. Die Untersuchungen von Röttger und Mario Candeias sind in Bezug auf die Herausforderungen der Gewerkschaften aber in jedem Falle wegweisend.
[3] Vgl. Michael Kittner: Arbeitskampf. Geschichte, Recht, Gegenwart. München 2005, S. 626.
[4] taz v. 9.8.2007; Neues Deutschland v. 9.8.2007.
[5] Urteil des Arbeitsgerichts Chemnitz v. 5.10.2007, S. 15.
[6] Spiegel-Online v. 17.10.2007.
[7] Tagesschau v. 18.10.2007.
[8] Urteil des Arbeitsgerichts Chemnitz v. 5.10.2007, S. 15.
[9] Ebd., S. 16.
[10] Vgl. Gregor Kritidis: Haut den Lukas (Teil I), sopos 8/2007.
[11] Urteil des Arbeitsgerichts Chemnitz v. 5.10.2007, S. 18.
[12] Erich Gerlach: Automation: kapitalistisch oder sozialistisch? Die Verschiebung der gesellschaftlichen Machverhältnisse. SoPo 8/1956, S. 6. Gerlach, selbst Sohn eines sozialistischen Eisenbahners, war Schüler des marxistischen Philosophen Karl Korsch. Von 1947 bis zu seinem Tod 1972 war der Mitglied des Niedersächsischen Landtages.
[13] taz v. 6./7.10.2007.
[14] Vgl. SZ v. 20./21.10.2007.
[15] Ein Überblick läßt sich einfach über das Web verschaffen. Es macht bereits Mühe, sich überhaupt ein Bild vom sachlichen Stand der Auseinandersetzung zu machen: Auch das Nicht-Erwähnen von Informationen und die Nicht-Thematisierung von Zusammenhängen stellt eine Parteinahme dar.
[16] Vgl. Joachim Perels: Die Aufhebung der Legalität des politischen Demonstrationsstreiks. In: Ders., Das juristische Erbe des "Dritten Reiches". Beschädigungen der demokratischen Rechtsordnung. Frankfurt/M. und New York 1999, S. 121-140.
[17] Wolfgang Abendroth: Zur Funktion der Gewerkschaften in der westdeutschen Demokratie. GMH 11/1952, S. 641-648. Wiederabgedruckt in: Abendroth, Arbeiterklasse Staat und Verfassung. Hrsg. von Joachim Perels. Frankfurt 1975, S. 33-44.
[18] Ebd., S. 33f.
[19] Je nachdem welches Forschungsinstitut in wessen Auftrag mit welcher Fragestellung diesbezügliche Umfragen erhebt, kommen stark differierende Ergebnisse zustande. Meinungsumfragen sind selbst nur eingeschränkt ein Mittel der Aufklärung und in weitreichendem Maße selbst Teil der politischen Auseinandersetzung. Vgl. Matthias Breitinger: Deutsche mal für, mal gegen Bahnstreiks. N24 v. 24.10.2007. Einen gewissen Hinweis geben die Klagen, die Bahnkunden angestrengt haben: Diese richten sich nicht etwa - wie zu erwarten wäre - gegen die GDL, sondern gegen den Vorstand der Bahn-AG.
[20] Pressemitteilung der GDL v. 29.10.2007.
[21] Vgl. den offenen Brief des Lokführers Gerhard Bernreither an den Vorstandsvorsitzenden der Bahn-AG Dr. Mehdorn v. Oktober 2007 auf der Website der GDL.
[22] Vgl. Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung v. 7.10.2007.
[23] Das Gericht hat zur Frage der Tarifeinheit wichtige Argumente vorgetragen und im übrigen darauf verwiesen, daß es in dieser Frage weiteren Diskussionbedarf gebe. Urteil des Arbeitsgerichts Chemnitz v. 5.10.2007, S. 12ff. Vgl. WSI-Mitteilungen 8/2007 (Schwerpunktheft Wertewandel im Arbeitsrecht).
[24] SZ v. 2./3.10.2007.
[25] Vgl. Richard Schmid: Die Abhängigkeit des Richters. In: Ders., Einwände. Kritik an Gesetzen und Gerichten. Stuttgart 1965, S. 96ff. Schmid war in den 50er und 60er Jahren Oberlandesgerichtspräsident in Stuttgart.
[26] Das bedeutet nicht, daß die Gerichte generell dazu übergegangen sind, die Rechte der Lohnabhängigen einzuschränken. Häufig verteidigen die Gerichte sogar die bisherigen arbeitsrechtlichen Standards. Dennoch bleiben die gesellschaftlichen Diskurse, die alles andere als von den durchschnittlichen Arbeitnehmern dominiert werden, keineswegs ohne Wirkung auf die Rechtssprechung. Vgl. Stefanie Kremer: Tarifautonomie aus ökonomischer, juristischer und gesellschaftstheoretischer Sicht. In: WSI-Mitteilungen 8/2007, S. 441ff.
[27] Der Arbeitsrechtler Wolfgang Däubler wird in der Berliner Zeitung v. 8.7.2007 zitiert, das Landesarbeitsgericht werde Nürnberger Entscheidung aufheben: "Alles andere wäre eine juristische Sensation". Gegen das Nürnberger Urteil hat die GDL keine Berufung eingelegt. Was aber wäre, wenn das LAG Sachsen nun für eine Sensation sorgte?
[28] Es ist bemerkenswert, daß Michael Endes "Lukas, der Lokomotivführer" einerseits königstreu ist, sich andererseits aber auch über den Willen des Königs hinwegsetzt, wenn es notwendig ist.
[29] HAZ v. 29.10.2007.
[30] Freitag v. 28.9.2007.
https://sopos.org/aufsaetze/47277c87e941b/1.phtml
sopos 10/2007