von Gregor Kritidis (sopos)
Da sich der Bahnverkehr in Deutschland schlechterdings nicht in Billiglohnländer verlagern läßt, hilft daher nur das Mittel offener politisch-juristischer Repression.
"Das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden, ist für jedermann und für alle Berufe gewährleistet. Abreden, die dieses Recht einschränken oder zu behindern suchen, sind nichtig, hierauf gerichtete Maßnahmen sind rechtswidrig."[1]
Dieses Grundrecht gilt für Lokomotivführer nur noch unter Vorbehalt.[2] Am Mittwoch den 8.August 2007 sprach Silja Steindl, Richterin am Arbeitsgericht in Nürnberg, auf Antrag der Bahn-AG ein Streikverbot gegen die GDL für den darauffolgenden Donnerstag aus. Das Argument der Richterin, ein Streik im Güter- und Personenverkehr während der Hauptreisezeit füge der deutschen Volkswirtschaft einen schweren Schaden zu, entbehrt in seinem unreflektierten Populismus freilich der inneren Logik: Mit einem Streik im Personenverkehr während der Hauptreisezeit würden vor allem auch Urlauber getroffen, Menschen, die gerade nicht wirtschaftlich tätig sind. Ein schwerer Schaden der Volkswirtschaft könnte nur aus einem Streik des Güterverkehrs resultieren. Genau dieses Argument war zuvor in der Presse lanciert worden. So wurde etwa in der Frankfurter Rundschau und in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung die Verkehrsexpertin Claudia Kemfert von DIW aufgeboten, um das Schreckgespenst eines allgemeinen Stillstandes an die Wand zu malen.[3] Die GDL-Forderungen seien "völlig überzogen", so Kemfert.[4] In der tageszeitung wurden - zwar sachlich, aber passend zur laufenden Kampagne gegen die GDL - die Auswirkungen eines Lokführerstreiks auf die norddeutschen Häfen erörtert.[5] Bereits zuvor war von Seiten der Industrie vor einem Streik bei der Bahn gewarnt worden; insbesondere die Automobilindustrie und die Stahlindustrie seien innerhalb kürzester Zeit von einem Ausstand betroffen. Die Financial Times Deutschland mochte bei dieser Kampagne nicht mitmachen und relativierte derartigen Übertreibungen: "In der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung 2007 wird dieser Arbeitskampf - wie noch jeder Streik, der kein Generalstreik ist - keine großen Spuren hinterlassen. Prognosen, wonach der Arbeitskampf täglich bis zu 500 Mio. Euro Schaden verursachen dürfte, sind absurd."[6]
Wer etwas über den materiellen Inhalt des Konflikts zwischen GDL und Bahn-AG in Erfahrung bringen wollte, sah sich genötigt, sich entweder bei der GDL direkt zu informieren oder in der Jungen Welt die Forderungen der GDL nachzulesen.[7] In kaum einer Tageszeitung war über den Forderungskatalog der GDL mehr zu erfahren als die unisono breitgetretene 31%ige Lohnerhöhung. Dabei mußte selbst die Frankfurter Allgemeine Zeitung einräumen, Eisenbahner seien "keine Großverdiener".[8]
Vor diesem Hintergrund ist eine Interpretation naheliegend: Die verfassungsrechtliche Entgleisung von Richterin Steindl basiert auf dem in den Medien erzeugten öffentlichen Druck. Schon zuvor hatte sich ein Arbeitsrichter die Argumentation der Arbeitgeberseite zu eigen gemacht, ansonsten war die Bahn-AG mit ihrer Strategie, die GDL mit juristischen Mitteln in die Knie zu zwingen, weitgehend gescheitert.[9] In der Verhandlung in Nürnberg am 10. August zeigte sich Richterin Steindl einerseits uninformiert, andererseits darum bemüht, "aus der Nummer wieder herauszukommen".[10] Der Vergleich, der zwischen der Bahn-AG und der GDL schließlich vereinbart wurde, sieht ein Moderationsverfahren vor, wobei die GDL auf den Aufruf zu Streiks verzichtet. Das ist freilich mehr eine halbe Niederlage als ein halber Sieg für die Tarifautonomie, auch wenn GDL-Chef Manfred Schell sich dieses Ergebnis mit der Aussage schönredete, es mache für eine Gewerkschaft einen Unterschied, ob Streiks ihr verboten seien oder sie selbst freiwillig darauf verzichte.[11]
Damit ist der Konflikt noch bei weitem nicht ausgestanden, und es wird in den kommenden Wochen darauf ankommen, die unter Führung der Bahn-AG vorgetragenen Angriffe der wirtschaftlichen Eliten auf die Koalitionsfreiheit zurückzuschlagen. Wie schwierig die Situation dabei ist, verdeutlicht der Umstand, daß die anderen beiden Eisenbahner-Gewerkschaften Transnet und GDBA bereits mit der Bahn-AG einen Tarifvertrag abgeschlossen haben, der eine Lohnerhöhung von 4,5% vorsieht. Transnet-Chef Norbert Hansen und Bahn-AG-Chef Mehdorn werfen der GDL vor, "Privilegien" erstreiten zu wollen und die Tarifeinheit bei der Bahn zu zerstören. Dieser Vorwurf ist nicht nur vor dem Hintergrund der Jahreseinkommen besagter Herren abwegig, sondern auch hinsichtlich der Gehälter der anderen Eisenbahner. Die Unzufriedenheit bei der Bahn ist groß, vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, daß mehr als 700 Eisenbahner in diesem Tarifkonflikt bereits zur GDL gewechselt sind, die sich für andere Bahn-Beschäftigte geöffnet hat.[12] Die Bahn-AG fürchtet nun, die soziale Unruhe im Unternehmen könnte sich ausweiten.[13]
Es war die Transnet selbst, die in der Vergangenheit Tarifverträge zu Lasten des Fahrpersonals abgeschlossen hat, anstatt die Kampfkraft der Lokführer für eine allgemeine Erhöhung der Tarife zu nutzen. 2003 wurde erstmals die Forderung nach einem eigenen Tarifvertrag für die Lokführer laut, die GDL ließ sich jedoch noch einmal in die Tarifgemeinschaft mit der Transnet einbinden. Weder in der Frage der Arbeitszeitverkürzung, noch in der Frage der Ruhezeiten oder der der Entgelte gab es jedoch Fortschritte. Die Verselbständigung der Lokführer ist vor diesem Hintergrund eine zwingende Konsequenz aus der Tarifpolitik der Transnet.
Die Aggressivität, mit der die Bahn-AG versucht, eine Offensive von Teilen der Eisenbahner unter der Führung der GDL zu verhindern, hat gute Gründe: Der Konzern will im Vorfeld des geplanten Börsenganges der Bahn die Löhne auf dem gegebenen niedrigen Niveau halten. Sollte es den Lokführern gelingen, die von Transnet-Chef Hansen - er ist selbst Vizechef des Aufsichtsrates des Konzerns - mitgetragene tariflich Deckelung der Löhne und Gehälter aufzusprengen, stünde das gesamte Tarifgefüge bei der Bahn zur Disposition. Sollte die GDL einen eigenen Vertrag abschließen, muß die DB-AG auch für die übrigen Bahn-Beschäftigten neu verhandeln, das sieht der Tarifvertrag mit der Transnet vor. An sich wäre die GDL in der Lage, ein besseres Ergebnis zu erzielen: Die Lokführer können vielleicht keine Loopings spucken oder Knoten in Eisenstangen biegen wie Lukas der Lokomotivführer, trotzdem verfügen sie aufgrund ihrer zentralen Position im Betriebsablauf über eine gewichtige Verhandlungsmacht. Selbst wenn nicht alle Lokführer in Ausstand treten - etwa 40% der Lokführer sind Beamte - könnte die GDL einen erheblichen Teil des Bahnverkehrs lahmlegen. Da sich der Bahnverkehr in Deutschland schlechterdings nicht in Billiglohnländer verlagern läßt, hilft daher nur das Mittel offener politisch-juristischer Repression. Daß die Transnet der Bahn-AG dabei zur Seite steht, wirft ein bezeichnendes Licht auf die DGB-Mitgliedsgewerkschaft. Auch ohne Flugreisen nach Brasilien scheinen Transnet-Chef Hansen die Interessen der künftigen Aktionäre wichtiger zu sein als die wirtschaftlichen Interessen der Bahn-Beschäftigten. Führt man sich vor Augen, daß die acht Bahnvorstände 2006 mit 16,7 Millionen Euro vergütet wurden - das entspricht einer Steigerung von 77% gegenüber 2005[14] - nimmt sich die von der GDL angestrebte Erhöhung des Eingangsentgeltes um 31% auf 2500 Euro mehr als bescheiden aus. Und sind z.B. pro Kalenderjahr 13 freie Wochenenden von Freitags 22.00 Uhr bis Montags 6.00 Uhr zuviel verlangt, wenn diese bisher nur von Samstags 14.00 Uhr bis Montags 6.00 Uhr dauern?[15]
Das Argument der Transnet, die Tarifeinheit und damit die Kampfkraft der Gewerkschaften müsse gewahrt werden, entbehrt in diesem Zusammenhang nicht der Komik. Das Prinzip "Ein Betrieb - eine Gewerkschaft" ist nur dann richtig, wenn die Belegschaft versucht, ihre Interessen gegenüber dem Unternehmen auch wahrzunehmen, nicht aber, wenn eine Gewerkschaftsführung versucht, große Teile der Belegschaft davon abzuhalten. Von oben kontrollierte "Gewerkschaften" wie den FDGB sollte man sich nicht zum Vorbild nehmen. Richtig angewandt kann es momentan nur darum gehen, die Mitglieder der Transnet für eine offensive Tarifpolitik zu gewinnen und "gelbe" Gewerkschafter wie Hansen zu isolieren.
Der Umstand, daß mittlerweile Arbeitgeberfunktionäre sich rhetorisch für gewerkschaftliche Prinzipien stark machen, sollte zu denken geben. Schon hat Arbeitgeber-Präsident Dieter Hundt für eine gesetzliche Einschränkung der Tarifautonomie plädiert, damit eine "Minderheit" nicht einen eigenen Tarifvertrag für sich erkämpfen kann. Die dahinterstehende Befürchtung liegt auf der Hand: Wenn Piloten, Fluglotsen, Krankenhausärzte oder Lokomotivführer die neoliberale Politik der sozialen Eliten aufbrechen, steht deren Geltung insgesamt in Frage, und zwar nicht auf einer ideologischen, sondern auf einer praktischen Ebene. Das es sich dabei teilweise um Gruppen handelt, die wie Piloten oder Ärzte nicht zu den Geringverdienern zählen, tut der Sache keinen Abbruch. Es ist ein Argument der Arbeitgeber, wenn behauptet wird, dann müßten die anderen Beschäftigten auf Lohnsteigerungen verzichten. Es gibt kein ehernes Lohngesetz, und das Beispiel der Lokführer macht deutlich, daß hier nur Profite verteidigt werden sollen.[16]
Bisher hat sich der DGB gegen die Angriffe auf das Koalitionsrecht gewandt. Gleichzeitig kämpfen die DGB-Gewerkschaften mit einer - selbstverschuldeten - Verselbständigung von Teilen der Belegschaften. Durch das zeitweilige Streikverbot aus Nürnberg steht nun aber weit mehr auf dem Spiel als die Interessen der Lokomotivführer: Es steht in Frage, ob überhaupt das Diktat der Arbeitgeber mit dem Mittel des Streiks gebrochen werden darf. Damit sind die Interessen aller abhängig Beschäftigten unmittelbar berührt. Die Bahn-AG kann nur deswegen so offensiv agieren, weil sie große Teile der veröffentlichten Meinung auf ihrer Seite hat und mit der verordneten Passivität der in Transnet organisierten Kolleginnen und Kollegen rechnen kann. Ein entscheidender Schritt ist daher, aktive Solidarität für die Lokführer zu organisieren, wie bereits von Kreisen der IG-Metall angestoßen wurde.[17]
Ein weiterer Aspekt betrifft die Interessen der Bahn-Nutzer sowie das allgemeine Interesse an einer ökologischen Verkehrspolitik, die mit einem Börsengang ebenso wie die wirtschaftlichen Interessen der Bahn-Beschäftigten unter die Räder kommen. Der Vorsitzende des Fahrgastverbandes Pro Bahn, Karl-Peter Naumann, hat in der Frankfurter Rundschau behauptet, ein Streik müsse aus ökologischen Gründen vermieden werden, weil ansonsten das Verkehrsaufkommen weiter auf die Straße verlagert würde.[18] Angesichts der bisherigen Unternehmenspolitik der Bahn-AG ist eine solche Position abwegig: Ein unterlassener Arbeitskampf stärkt die Bahnprivatisierer Mehdorn und Hansen, die auch in Zukunft kein Interesse daran haben werden, verkehrspolitisch sinnvolle, aber wenig profitable Strecken weiterbetreiben zu lassen. Schon bisher sind die Investitionen auf den hochprofitablen ICE-Verkehr konzentriert worden. Soll eine ökologische Verkehrspolitik eingeschlagen werden, kommt es darauf an, die Interessen von Beschäftigten und Bahn-Nutzern zu gemeinsamem Handeln zu bündeln. Perspektivisch wird nur eine demokratische Kontrolle der Bahn eine verkehrspolitische Wende ermöglichen.
Es ist schon frappierend, mit welchen Methoden versucht wird, die GDL politisch zu isolieren.[19] Keine Behauptung ist momentan dumm genug, um nicht in Umlauf gesetzt zu werden. Daß es dabei Diskursopfer wie Richterin Steindl gibt, zeigt den teilweisen Erfolg dieser Strategie. Es kommt nun darauf an, diese Strategie durch gezielte Aufklärung zu unterlaufen.
[1] GG Art. 9 Abs. 3.
[2] Aus dem Grundrecht auf Koalitionsfreiheit folgt das Streikrecht, wie u.a. Wolfgang Abendroth vertreten hat. Im Parlamentarischen Rat konnte man sich nicht auf eine eindeutige Formulierung festlegen, sodaß in der Bundesrepublik den Arbeitsgerichten ein erheblicher Ermessensspielraum zukommt. In zahlreichen Länderverfassungen ist das Streikrecht aber explizit gesichert worden. Vgl. Xenia Rajewsky, Arbeitskampfrecht in der Bundesrepublik. Frankfurt 1970, S. 20ff.
[3] HAZ v. 8.8.2007.
[4] FR v. 8.8.2007.
[5] taz nord v. 8.8.2007.
[6] FTD v. 7.8.2007.
[7] JW v. 6.8.2007. Neben einer Erhöhungen der Eingangslöhne auf 2500 Euro brutto - die ominöse 31%-Forderung - geht es u.a. um einen eigenen Tarifvertrag, der von der Bahn-AG kategorisch abgelehnt wird. Die meisten Forderungen beziehen sich auf die Arbeits- und Ruhezeiten, u.a. eine Reduzierung der Arbeitszeit von 40 auf 41 Stunden, eine Begrenzung der Schichtlänge auf maximal 12 Stunden, eine Erhöhung und Verlängerung der Ruhezeiträume, die vor allem auch auf Sonn- und Feiertagen liegen sollen.
[8] FAZ v. 7.8.2007.
[9] Vgl. Süddeutsche Zeitung (SZ) v. 4./5.8.2007.
[10] SZ v. 11./12.8.2007.
[11] Ebd.
[12] Deutschlandfunk v. 13.8.2007.
[13] Interessant ist in diesem Zusammenhang die Position des Personalvorstands der Lufthansa, Stefan Lauer, gleichzeitig Mitglied im Präsidium der Bundesvereinigung deutscher Arbeitgeberverbände. Lauer will verhindern, daß sich konkurrierende Gewerkschaften mit ihren Forderungen und Nachforderungen gegenseitig hochschaukeln und "eine Geschäftsleitung gezwungen wird, schon vereinbarte Beschäftigungsbedingungen nachträglich noch einmal aufzubessern, weil eine der Beteiligten meint, das reiche nicht". Durch ein Schlichtungsverfahren wie jetzt bei der Bahn würden die "Nachforderungen" der GDL nur abgemildert. Entweder müsse man Nachforderungen juristisch ausschließen oder die Beschäftigten müßten vorher erklären, welche Gewerkschaft für sie verhandelt. FAZ v. 22.8.2007. Die Stoßrichtung derartiger Überlegungen liegt auf der Hand: Die Zersplitterung der Belegschaften ist der Arbeitgeberseite durchaus recht, wenn in der Konsequenz einzelne Beschäftigten-Gruppen jedoch die Initiative ergreifen und damit breite Schichten von Lohnarbeitenden mobilisieren, soll dem ein Riegel vorgeschoben werden.
[14] Ebd.
[15] JW v. 6.8.2007. Bemerkenswert ist auch, daß kaum jemand über die Gehälter der beamteten Lokführer spricht. Stattdessen wird der GDL aus durchsichtigem Interesse vorgeworfen, mit anderen Eisenbahngesellschaften schlechtere Tarife vereinbart zu haben, als sie von der DB-AG fordert - so als wäre die DB-AG nicht das zentrale Unternehmen mit Pilotfunktion für alle anderen Gesellschaften.
[16] Zweifelsohne besteht die Gefahr, daß einzelne Gruppen von Lohnabhängigen dauerhaft den Horizont ihrer unmittelbaren Interessen nicht überschreiten und gegen andere Gruppen von Beschäftigten agieren. Ein solches Verhalten ist in der Geschichte der Arbeiterbewegung keinesfalls die Ausnahme gewesen, im Gegenteil. Es ist gerade die Aufgabe der emanzipativen Kräfte in den Belegschaften, die allgemeinen Interessen der Arbeiterklasse hervorzuheben.
[17] Vgl. Die Streikrechtdebatte im labournet.
[18] FR v. 6.8.2007.
[19] Vgl. SZ v. 4./5.8.2007. So wurde der GDL vorgeworfen, andere Bahnmitarbeiter aggressiv unter Druck zu setzen.
https://sopos.org/aufsaetze/46d4b545751a3/1.phtml
sopos 8/2007