von Marcus Hawel (sopos)
Freiheit vollzieht sich in der Praxis als Befreiung; sie setzt ein selbstbewußtes Subjekt voraus und vollzieht sich in der Praxis immer als Befreiung des Subjektes: Es ist das Subjekt, das befreit, und das Subjekt ist zugleich das Objekt, das befreit wird.
Bevor ich zielgenau den Hund hinterm Ofen hervorlocken möchte, werde ich einen kleinen Ausflug zu Hegel machen. Ich beginne meinen Beitrag mit der Hegelschen Herr-Knecht-Dialektik, um dann anschließend daran ein Problem zu erörtern, mit dem man bei der Frage von Tierrechten und Tierbefreiung meines Erachtens zu tun hat: gleichsam, daß die Dialektik hier nicht richtig funktionieren kann, weil Subjekt und Objekt der Befreiung keine Identität darstellen. Abschließend werde ich für einen erweiterten Bezugsrahmen plädieren, der zwischen Subjekt und Objekt der Befreiung eine Identität herstellt und somit die Hegelsche Herr-Knecht-Dialektik wieder instand setzt, emanzipativ zu wirken. Ich hoffe, damit ein paar produktive Denkanstöße beizutragen. Meine Gedanken sind - das erwähne ich hier am Anfang und noch einmal ausführlicher am Ende - ausgelöst worden durch die kurze, im Veranstaltungsflyer zitierte Passage aus einem Interview mit Herbert Marcuse.
Die Hegelsche Herr-Knecht-Dialektik ist ein Kampf um Anerkennung, der sich in Hegels pathetisch klingenden Worten als Kampf um Leben und Tod vollzieht. Das Resultat ist Selbstbewußtsein - Bewußtsein für ein Anderes - gleichsam die Voraussetzung dafür, daß Menschen sich gegenseitig als Personen anerkennen können.[2]
Der Übergang von feudaler zu kapitalistischer Produktionsweise hatte die Einsicht freigegeben, daß die Arbeit der Inbegriff gesellschaftlicher Entwicklung ist. Hegel stellte die Kategorie der Arbeit - wenn auch in entfremdeter idealistischer Gestalt - als wesentliches movens für die Sittlichkeit der bürgerlichen Gesellschaft hin.[3] Er erkannte die Arbeit als das Wesen des Menschen, der in seiner Tätigkeit sich selbst zu erkennen begann.[4] Das Individuum war so, wie es sich geworden wußte. Es war Resultat der Arbeit des Begriffs. Deshalb verstand Hegel die Geschichte als ein Fortschreiten im Bewußtsein der Freiheit. Im Geiste befreite sich zunächst die Menschheit vom Zwang der Natur.
"Natur - das war für Hegel das vom Geist Unberührte, Nicht-Begriffliche; es galt ihm als abstraktes, unmittelbares, nicht in sich reflektiertes Erscheinen überhaupt. Als solches stellte es die Unfreiheit des Geistes dar: das Böse als Stand des Tieres.[5] Komme Natur mit dem Geist in Berührung, werde sie durch den Begriff aufgehoben. Der Begriff der Natur sei die Freiheit von der Natur, weil nur der Begriff vom Naturzwang befreie. Wer die Natur begriffen habe, wisse sich vor ihr adäquat zu schützen. Das Recht, auf tierischem Stand sich selbst zu erhalten, stellte Hegel das Recht der Bildung der individuellen Fähigkeiten gegenüber. Erst die Ausbildung von Verstand und Vernunft mache aus dem Einzelnen einen Menschen; seine Erziehung ende mit dem Stand der Sittlichkeit, durch den der natürliche Stand als bornierter und defizitärer, als unfreier erscheine. Der Zustand, in dem der Mensch dem Menschen ein Wolf sein müsse, sei also ein Zustand der Unfreiheit, der absoluten Freiheit des Naturrechts. ›Das Recht der Natur ist (...) das Dasein der Stärke und das Geltendmachen der Gewalt, und ein Naturzustand ein Zustand der Gewalttätigkeit und des Unrechts, von welchem nichts Wahreres gesagt werden kann, als daß aus ihm herauszugehen ist. Die Gesellschaft ist dagegen vielmehr der Zustand, in welchem allein das Recht seine Wirklichkeit hat; was zu beschränken und aufzuopfern ist, ist eben die Willkür und Gewalttätigkeit des Naturzustandes.‹[6]"[7]
Durch den Austritt aus der Unmittelbarkeit war die Menschheit imstande, ihre eigene Geschichte im Geiste zu rekonstruieren und damit auch sich selbst zu setzen (Phänomenologie des Geistes). Hinter der Kraft, welche die bürgerliche Welt im Innersten zusammenhielt, steckte die Arbeit, und die wurde vom Geist verrichtet. Die Menschheit erkannte sich selbst und hatte, indem sie die Inschrift des Delphischen Orakels (nosce te ipse) beherzigt hatte, das Rätsel der Sphinx gelöst. Alles was wurde, geschah durch die Menschheit. Der Geist trat als wahrer Demiurg des Wirklichen[8] in Erscheinung. Nicht Gott erschuf die Welt, sondern der sich seiner selbst bewußte, arbeitende Geist. - Die arbeitende Gesellschaft.
Gemäß der Herr-Knecht-Dialektik, die Hegel entwarf, lag der Schlüssel für die Emanzipation in der Selbstorganisation der knechtischen Arbeit, mittels derer man sich den Dingen näher wähnen konnte als der Herr, der nicht wagte zu wägen, was geschah: Der bäuerliche Knecht erlangte sein Selbstbewußtsein aus der Verinnerlichung der Herrschaft, die ihn an die Dinge fesselte und die Bearbeitung der Dinge: die Arbeit aufzwang.[9] Die Selbständigkeit des Knechts resultierte aus dem Wissen über die Dinge, das nur der erhielt, der die Dinge auch bearbeitete.[10] Der Grundherr erstarrte indes zu einem Befehlsgeber, der mit Gewalt über das Wissen herrschte, aber nichts von den Dingen verstand, und verarmte geistig. Er verfügte zwar über Genuß und Kommando, aber er bildete nichts, denn Bildung war die gegenständliche Seite der Arbeit.[11] Der Herr aber arbeitete nicht: er ließ arbeiten. - Und der Knecht arbeitete sich frei. Er vollbrachte dies durch die Verinnerlichung der Herrschaft und probte den Aufstand, bis er allmählich eine Verrechtlichung, d.h. Verbürgerlichung der menschlichen Beziehungen erreichte.
Hegels Herr-Knecht-Dialektik kann als das Herzstück seiner Philosophie begriffen werden. Die emanzipative Dimension, die sich aus ihr ergibt, basiert auf dem Wesen der geteilten Arbeit;[12] sie sollte allerdings, immanent betrachtet, nur sekundär auf die realen Verhältnisse bezogen werden. Man mißachtete Hegels Idealismus, hypostasierte man von vornherein den Geist als Gesellschaft.[13] Dann käme Hegels intendierte Reihenfolge durcheinander: Denn Befreiung vollzog sich zunächst nur im Begriff, und die Sache selbst, die Realität mußte nach ihrem Begriffe streben. Marxens Kritik an der Hegelschen Dialektik, die noch vom Kopf auf die Füße gestellt werden mußte, setzte bekanntlich genau dort an.
Diese Dialektik ist seitdem nicht außer Kraft gesetzt, wenn auch die allermeisten Prozesse in unserer Gesellschaft institutionalisiert, verrechtlicht und bürokratisiert ablaufen, und deshalb der Kampf um Anerkennung nicht mehr in dieser Schärfe von jedem Einzelnen zu führen ist. Die Gesellschaft ist dennoch für den Einzelnen eine Arena, in der sich persönliches wie kollektives Fortkommen - auch gesellschaftlicher Fortschritt - nach der Dialektik von Herr und Knecht vollzieht. Der antreibende Widerstand beginnt in der Familie mit der elterlichen Autorität, "später wachsen ihm tausend Köpfe: der Lehrer, der Vorgesetzte, Kunde, Konkurrent, die Vertreter sozialer und staatlicher Mächte. Ihre Brutalität stimuliert die individuelle Spontaneität"[14]. Auf diese Weise ist gewährleistet, daß die errungene bürgerliche Freiheit in unserer Gesellschaft nicht gänzlich verkommt, sondern sich immer wieder erneuern kann.
Nach der Erfahrung von zwei Weltkriegen und des industriellen Massenmords an den Juden erkennt der existentialistische Philosoph des Absurden, Albert Camus, in der Dialektik von Herr und Knecht die Apologie des Machtgeistes im 20. Jahrhundert.[15] Seit Hegel vermag zeitgenössische Emanzipation nur noch in den Kategorien von Herr und Knecht gedacht zu werden. Es erscheint sämtliches Denken geradezu als verhext. Einzig in der Liebe scheint das Wesensprinzip der Herr-Knecht-Dialektik manchmal außer Kraft gesetzt zu sein. Doch gilt für die Liebe, daß sie nicht die Nächsten, sondern nur die Nahesten trifft; - das kann die Familie sein oder der Beziehungspartner oder ein Haustier, aber nicht der Nachbar oder das Schwein von nebenan. Mit Liebe läßt sich keine Gattung, Art, Klasse befreien oder eine Gesellschaft zusammenhalten. In der Dialektik der Aufklärung schreiben Horkheimer und Adorno, daß es kein Entrinnen gibt: "Der bloße Umstand, daß sie im durchorganisierten System der Herrschaft sich vollzieht, prägt auch der Liebe das Fabrikzeichen auf."[16] Und in den Minima Moralia schreibt Adorno: "Geliebt wirst du einzig, wo du schwach dich zeigen darfst, ohne Stärke zu provozieren."[17]
Läßt sich irgendwie der Logik spotten, die auf dem Prinzip des Kampfes um Anerkennung beruht gerade um diejenigen willen, die nicht imstande sind, den Kampf zu wagen und denen zwangsläufig gesellschaftliche Anerkennung versagt bleibt? Das Denken in diese Richtung ist utopisch, solange wie das Organisationsprinzip unserer Gesellschaft durch den Kapitalismus bestimmt ist. Mit der Befreiung der Schwachen ist es mithin schlecht bestellt. "Die Menschen sind weich, sofern sie von Stärkeren etwas wollen, abstoßend, sofern der Schwächere sie darum angeht. Das ist der Schlüssel zum Wesen der Person in der Gesellschaft bisher."[18]
Freiheit vollzieht sich in der Praxis als Befreiung; sie setzt ein selbstbewußtes Subjekt voraus und vollzieht sich in der Praxis immer als Befreiung des Subjektes, d.h. in einem dialektischen oder äquivoken Sinne: Es ist das Subjekt, das befreit, und das Subjekt ist zugleich das Objekt, das befreit wird. Objekt und Subjekt der Befreiung bilden demnach eine Identität, die - zumindest bei Hegel - eine wichtige Voraussetzung für den Ertrag und die Qualität der Freiheit sowie für ihren Fortbestand ist. Wenn nun zwischen Subjekt und Objekt eine Nicht-Identität besteht; wenn ein Objekt befreit wird, das nicht Subjekt der Befreiung ist, kann es nach Hegel keine Anerkennung erfahren;[19] sie bleibt ihm vorenthalten; vor allem fehlt damit die Fähigkeit der permanenten Erneuerung der Freiheit, die deshalb schneller erstarren und absterben kann, als sie errungen wurde.
Das philosophische Problem der Emanzipation, das sich um die Herr-Knecht-Dialektik zentriert, setzt demnach auf beiden Seiten, sowohl beim Herrn als auch beim Knecht, vernunftbegabte Wesen voraus. Tiere allerdings sind nach der herrschenden Logik ohne Vernunft;[20] Marx verwehrt ihnen nicht nur die Möglichkeit, Mehrwert zu schaffen, sie können nach der marxschen Werttheorie nicht einmal arbeiten[21] - sie können kein Selbstbewußtsein ausbilden und sind von vornherein darauf angewiesen, daß ihnen "Recht"[22] widerfährt, weil sie es von selbst nicht erstreiten können. Mit anderen Worten: Das Tier kann sich nicht emanzipieren. "Die Welt des Tieres ist begriffslos. (...) Um dem bohrend leeren Dasein zu entgehen, ist ein Widerstand notwendig, dessen Rückgrat die Sprache ist."[23] Das Tier kann dem "Verhängnis nicht durch Erkennen Einhalt gebieten. In der Tierseele sind die einzelnen Gefühle und Bedürftigkeiten des Menschen, ja die Elemente des Geistes angelegt ohne den Halt, den nur die organisierende Vernunft verleiht."[24]
Das Tier kann nur befreit werden. Subjekt und Objekt der Befreiung müssen zwangsläufig auseinandertreten. Die Befreiung des Tieres muß sich an ein politisches Subjekt richten, das zunächst vorrangig durch Mitleid an der gequälten Kreatur (Gunzelin Schmid Noerr) zu mobilisieren wäre. Aber die "Sorge ums vernunftlose Tier (...) ist dem Vernünftigen müßig. Die westliche Zivilisation hat sie den Frauen überlassen."[25] Wenn die Befreiungspraxis von durchschlagendem Erfolg sein soll, reicht mobilisiertes (weibliches) Mitleid nicht aus. Es müßte ein existentielles egoistisches Interesse für die gesamte Menschheit erkennbar werden, dem sich auch die ökonomische Rationalität (Vernunft) nicht verschließen kann.
Subjekt und Objekt der Befreiung träten nicht mehr auseinander, wenn wir den Bezugsrahmen etwas erweiterten und uns darüber im Klaren werden, daß es allgemein um unser Verhältnis zur Natur, zum Leben geht, von dem wir uns selbst zu emanzipieren hätten,[26] weil wir darin eine ungeheuerliche Destruktionskraft entdecken, die uns selbst die Existenzgrundlage entzieht. Wir müssen uns selbst befreien - nicht von Natur, sondern von unserem destruktiven Umgang mit der Natur. Natur wird für kurzfristige Profitinteressen vernichtet. "Die gleiche Verwertungsvorstellung zerstört auch das Leben der Menschen. Im Kapitalismus geht es nicht darum, ob die Maschinen die Vielfalt der menschlichen Lebensäußerungen unterstützen, die Menschen müssen vielmehr [zu] Funktionseinheiten Teil der Maschine werden, die Natur ebenso. Die Lust des Menschen, seine Freude an der Umwelt wird zerstört."[27]
"Die Idee des Menschen in der europäischen Geschichte", schreiben Horkheimer und Adorno in der Dialektik der Aufklärung, "drückt sich in der Unterscheidung vom Tier aus"[28] - man sollte allgemeiner sagen: drückt sich in der Abgrenzung zur Natur aus. In dieser Abgrenzung kommt eine fatale Zivilisationsgeschichte zum Ausdruck, hinter der eine mörderische Vernunft steht. "Grenzenlos Natur zu beherrschen, den Kosmos in ein unendliches Jagdgebiet zu verwandeln, war der Wunschtraum der Jahrtausende."[29] Gejagt wird, was biologisch unterlegen und damit ein Stigma ist, das sich als Objekt rassistischer Gewalttat geradezu anbietet.[30] Adorno und Horkheimer gehen sogar soweit, dies als den "Sinn der Vernunft" zu bezeichnen - und als männliches Prinzip. Das ist Vernunft als Verhängnis.[31] "Ihre List besteht darin, die Menschen zu immer weiter reichenden Bestien zu machen, nicht die Identität von Subjekt und Objekt herbeizuführen."[32]
Die moderne Bestie ist der verdinglichte Mensch. Sein Wesen konstituiert sich in der kapitalistischen Gesellschaft durch den Warentausch, der das Subjekt verdinglicht. Statt der Identität von Subjekt und Objekt, macht der verdinglichte Mensch - auch aus sich selbst - alles zum Objekt und stellt damit eine (terroristische) Identität der Objektwelt her. Äußere Natur ist dabei eine Ausbeutungskategorie, die nicht einmal unter die Kategorie des Tausches, sondern vielmehr der ursprünglichen Akkumulation fällt.
Der Sozialhistoriker Utz Anhalt schreibt, das Ökosystem besitze ein Eigenrecht, da es vollkommen ohne Menschen funktionieren könne. Bezugnehmend auf Eugen Drewermann spricht Anhalt von einer Querschnittslähmung der gesamten Evolution, die von der Menschheit angerichtet werde, indem sie alles auf Verwertbarkeit für den Menschen ausrichte. "Das abendländische Naturverständnis bedingte die Genese des Kapitalismus: Gott herrschte über die Menschen und die Menschen über die Natur. (...) Die Theoretiker des Zivilisationsparadigmas in der Tradition von Descartes, Leibniz und Galileis setzten den Europäer und den Fortschritt gegen die Natur. Kant löste sich davon nicht, sondern fügte dem Mechanismus noch den Rassismus hinzu (physische Geographie), wobei die Minderwertigkeit der Menschen mit ihrer [Distanz; MH] zur Natur abnahm. In diesem Punkt war er sich mit Hegel einig. Dieses Fortschrittsdogma der Moderne zeigte sich bis heute als Scholastik mit religiös-fundamentalistischem Kern, eine Religion, die das ›Barbarische‹, ›Naturhafte‹, ›Religiöse‹ der Vormoderne oder dem Außen zuschreibt (siehe Samuel Huntington). (...) Der Kapitalismus zerstört das Ökosystem des Planeten, indem er sich ihm entgegenstellt. Der Kapitalismus existiert durch die Verwertung des Wertes. Werte werden geschaffen und zerstört. Der Kapitalismus zerstört lebendige Arbeit und verwandelt sie in tote Arbeit. (...) Das Vorbild lebendiger Arbeit ist das Ökosystem: Das Ökosystem erneuert sich zu hundert Prozent selbst. Es kostet nichts. Es produziert keinen Profit aus lebendiger Biomasse, sondern recycled die ›überflüssige‹ Biomasse vollends. Das Ökosystem ist ein Perpetuum Mobile, eigentlich die Basis für eine humane Gesellschaft. Die moderne Naturwissenschaft weiß inzwischen, daß nicht tote Materie, sondern Beziehungsstrukturen das sind, was wir Leben nennen."[33]
Wenn wir die Identität von Mensch und Natur im Bewußtsein (wieder) herstellen, werden wir imstande sein, mit Natur anders umzugehen. Das kann man als erweiterten kategorischen Imperativ mit und gegen Kant moralisch formulieren: Wir müssen nicht nur die Menschheit in der Person achten, sondern allgemein das Leben als Identität von Natur und Kultur. Ich komme aus diesem Grund noch einmal auf Albert Camus zurück; er hat eine solche Achtung des Lebens als Mittelmeerisches Denken bezeichnet, das er dem Absoluten Denken gegenübergestellt hat. Während dieses grenzenlos ist, macht jenes Denken vor den Grenzen halt. "Das Denken in Annäherung", schreibt Camus, "erzeugt allein das Wirkliche."[34] Der Kategorie des Maßes wohnt ein mimetischer Impuls inne; sie stammt aus antik-griechischer Tradition: Nemesis ist die Göttin des Maßes. "Ein Denken (...) müßte seine Inspiration bei dieser Göttin holen."[35] Das mittelmeerische Denken, (ein Denken, das durch Nemesis inspiriert ist) zeichnet sich verantwortlich für Geschichte, die der einzelne Mensch nicht begonnen hat (darum ist er auch nicht vollends für all die begangenen Verbrechen schuldig), aber die er fortführt unter wechselnden Vorzeichen (und damit Schuld auf sich lädt). Das mittelmeerische Denken will aber eine Revolution zugunsten des Lebens und nicht des Terrors. Was zugunsten des Lebens ist, steht vor allem im Einklang mit Natur. Im mittelmeerischen Denken ist Natur Gegenstand der Betrachtung und Bewunderung; sie stellt keine Bedrohung dar, auch keine Ressource, die es auszubeuten gilt. Camus möchte hier aber nicht eine Kultur mit einer anderen ausspielen; er will vielmehr feststellen, daß "es ein Denken gibt, ohne das die Welt heute nicht länger auskommen kann."[36]
Mehr als ein halbes Jahrhundert ist seit der Niederschrift von Der Mensch in der Revolte vergangen, in dem die Ausbeutung der Natur flächendeckend weiter vorangeschritten ist, obwohl doch, wie Camus sagt, die Welt ohne jenes maßvolle Denken nicht mehr auskommen kann. Horkheimer und Adorno hatten von vornherein etwas pessimistischer, damit aber realistischer formuliert: "Eine philosophische Konstruktion der Weltgeschichte hätte zu zeigen, wie sich trotz aller Umwege und Widerstände die konsequente Naturherrschaft immer entschiedener durchsetzt und alles Innermenschliche integriert. (...) Soviel ist in der Tat am Anthropomorphismus richtig, daß die Naturgeschichte gleichsam mit dem glücklichen Wurf, der ihr im Menschen gelungen ist, nicht gerechnet hat. Seine Vernichtungsfähigkeit verspricht so groß zu werden, daß - wenn diese Art sich einmal erschöpft hat - tabula rasa gemacht ist. Entweder zerfleischt sie sich selbst, oder sie reißt die gesamte Fauna und Flora der Erde mit hinab, und wenn die Erde dann noch jung genug ist, muß - um ein berühmtes Wort zu variieren - auf einer viel tieferen Stufe die ganze Chose noch einmal anfangen."[37]
Was müßte geschehen, damit dem Prinzip der Vernichtung, das sich als Selbstvernichtung geriert, Einhalt geboten wird? Die Frage führt zu einem Zusammenhang, in dem die Ökonomie zu einem mächtigen Komplizen werden müßte. Daß humane Ideen nur wirkmächtig werden können, wenn die Macht, Gewalt, Ökonomie mit ihnen ist, ist das "Verhängnis, das Vernunft allein nicht wenden kann"[38]. - Das Verhängnis besteht darin, daß die Idee, die (kapitalistische) Ökonomie und Gewalt sei Schuld am Zusammenhang und müsse demzufolge überwunden werden, nicht oder jedenfalls noch lange nicht in eben dieser Ökonomie ihren Komplizen (movens) zur Durchsetzung findet. Der Kapitalismus erweist sich als hartnäckiges Stehaufmännchen und integrierte noch jede Idee, auch die seiner Abschaffung, in sein System und stutzte ihr die Flügel. Integration ist emanzipative Anerkennung im Rahmen des Bestehenden, die von tatsächlicher Befreiung zu unterscheiden ist.
"Indem Geschichtsphilosophie die humanen Ideen als wirkende Mächte in die Geschichte selbst verlegte und diese mit deren Triumph endigen ließ, wurden sie der Arglosigkeit beraubt, die zu ihrem Inhalt gehört. Der Hohn, daß sie sich immer blamiert hätten, wenn die Ökonomie, das heißt, die Gewalt nicht mit ihnen war, ist der Hohn gegenüber allem Schwachen (...)."[39] Der Arglosigkeit ist wieder zu ihrem Recht zu verhelfen, - aber ohne dem Utopismus das Wort zu reden. Theorie hat keinen Anlaß, resignativ oder nihilistisch zu sein. Man tut auch der Macht Unrecht, wenn man sie einseitig mit einseitiger Vernunft beurteilt.[40] Das Gute, das die Macht schafft, darf nicht unterschlagen werden - wenn auch das Gute meistens ironisch und listig in die Welt kommt.
Dazu ein aktuelles Beispiel: In Norwegen ist man seit kurzem dazu gekommen, eine Matratzenpflicht für Kühe in Ställen einzuführen. Sie sollen nicht mehr auf hartem Beton stehen und sich die Gelenke ruinieren müssen, heißt es zur Begründung. Als "glückliche" Kühe geben sie denn auch mehr Milch und besseres Fleisch. Mit anderen Worten: weil mehr Profit herausspringt, soll es den Kühen bis zur Schlachtbank besser gehen. Die Schlachtbank bleibt freilich immer noch ihr Schicksal.
Berechnung ist zur zweiten Natur des Menschen geworden. Irgendwann kriegt er die Rechnung dafür präsentiert - aber die Rechnung fällt nicht so offenherzig aus wie bei Lothar Zenetti, einem deutschen Theologen und Schriftsteller,[41] sondern radikal buchhalterisch: "Wenn die Schäden an der Natur, die die Kommunen zu tragen haben, in die Bilanz einbezogen würden, hätte das Wirtschaftswunder der 1950er Jahre nicht stattgefunden. Der Aufschwung der asiatischen Tigerstaaten wäre ein Fake. Ohne einbetonierte Flußläufe und mit Überschwemmungsgebieten (...) hätte es die Elbflutkatastrophe wohl nicht in dem Ausmaß gegeben, hätten die betroffenen Menschen nicht ihre Häuser verloren."[42]
Wenn auch die Realisierung humaner Ideen davon abhängt, daß die Ökonomie mit ihnen ist, so heißt das keineswegs, daß emanzipative Praxis damit hinfällig ist oder sich resignativ verhalten - oder gar kapitalistische Ökonomie affirmieren müßte. Geschichte wird von Menschen, nicht vermöge eines immanenten Gesetzes oder durch den Weltgeist gemacht.
Elmar Altvater zeigt in seinem neuen Buch "Das Ende des Kapitalismus, wie wir ihn kennen", daß die Dynamik der modernen, kapitalistischen Gesellschaften unter anderem durch die bisher ungehemmte ursprüngliche Ausbeutung der Natur, insbesondere der fossilen Energien bestimmt ist. Daß nun diese fossilen Energien begrenzt sind, komme nunmehr zu Bewußtsein. Dieser "äußere Anstoß von besonderer Heftigkeit" führt dazu, daß über glaubwürdige Alternativen nachgedacht wird und diese sogar Gehör finden. So gerate zwar nicht der Kapitalismus insgesamt, aber zumindest derjenige, den wir kennen, an sein Ende. Ein Paradigmenwechsel im Umgang mit der Natur sei unausweichlich.[43] - Die Ökonomie wäre in diesem Fall auf der Seite einer humanen Idee der "Nachhaltigkeit". Inwieweit sich hier allerdings eine grundlegende Änderung im Verhältnis Mensch-Natur anbahnt, bleibt fraglich, wenn damit nicht auch ein Ende des Kapitalismus überhaupt eingeleitet wäre.
Der Paradigmenwechsel wäre aber schon ein Fortschritt, wenn durch ihn wir uns von der Prämisse der Naturbeherrschung verabschieden und der Frage zuwenden, wie wir unsere produktiven und destruktiven Verhältnisse im Umgang mit der Natur kontrollieren können. "Nicht die Beherrschung der Natur, sondern eine Kontrolle der produktiven wie der destruktiven Verhältnisse wäre (...) das Ziel menschlicher Emanzipation."[44]
Das übergeordnete utopische Ziel besteht darin, eine vollendete Identität zwischen Humanismus und Naturalismus herzustellen, die Marx als Kommunismus bezeichnet hat: "Der Kommunismus als positive Aufhebung des Privateigentums als menschlicher Selbstentfremdung und darum als wirkliche Aneignung des menschlichen Wesens durch und für den Menschen; darum als vollständige bewußt und innerhalb des ganzen Reichtums der bisherigen Entwicklung gewordne Rückkehr des Menschen für sich als eines gesellschaftlichen, d.h. menschlichen Menschen. Dieser Kommunismus ist als vollendeter Naturalismus = Humanismus, als vollendeter Humanismus = Naturalismus, er ist die wahrhafte Auflösung des Widerstreits zwischen dem Menschen mit der Natur und mit den Menschen, die wahre Auflösung des Streites zwischen Existenz und Wesen, zwischen Vergegenständlichung und Selbstbestätigung, zwischen Freiheit und Notwendigkeit, zwischen Individuum und Gattung. Er ist das aufgelöste Rätsel der Geschichte und weiß sich als diese Lösung."[45]
Der Kommunismus ist sehr in Verruf geraten, ohne daß die meisten Menschen überhaupt wissen, was ihn ausmacht. Die Diskreditierung von Inhalten verläuft über ihre Begriffsbezeichnung. Begriffe bringen Inhalte auf eine Formel. Der Begriff ist gleichsam, wie Brecht sagt, der Griff einer Sache, an der man sie zu fassen bekommt. Es ist leicht, Begriffe und damit ihre Inhalte zu sanktionieren. Der Begriff ist nämlich auch der Griff, an dem die Sache auf den Müllhaufen der Geschichte geworfen werden kann. Macht der Affekt gegen den Begriff vor der Sache Halt? Zäumte man das Pferd von hinten auf, finge man mit dem Inhalt an, - wer könnte sich noch ernsthaft gegen den Begriff stemmen? - Außer vielleicht diejenigen, denen ungebührliche persönlich-egoistische Vorteile auf Kosten anderer verloren gingen. Der Kommunismus - das muß immer wieder hervorgehoben werden - ist keine menschenverachtende und naturfeindliche Ideologie, wie dennoch das Vorurteil mit Blick auf den zu Recht untergegangenen Realsozialismus entgegnet,[46] - sondern der Kommunismus ist eine Idee, deren Realisierung den Menschen im Einklang mit der Natur zugute kommt. Gelingt es nicht, diese Idee zu realisieren, dann ist das statt dessen Realisierte alles andere als die realisierte kommunistische Utopie.
In der kommunistischen Utopie existiert die wiederhergestellte Identität von Subjekt und Objekt. Welche Praxis aber führt dorthin? Ich greife noch einmal den Gedanken von der Ökonomie als Komplizen auf, um daran festzumachen, daß Praxis nicht im luftleeren Raum stattfindet. Sie muß ihr Verhältnis zur Theorie klären. Zu diesem Zweck gehe ich auf den Begriff der "Konsequenz" ein, zu dem Adorno schreibt: "Aber da mir keine Revolution bekannt ist, die eine andere Form hätte als die der Konsequenz; das will sagen: keine, die jemals vom Seienden in seinem geschichtlichen Stande sich emanzipiert hätte; und da mir jegliches andere Verfahren, jegliches vorgeblich radikale Von-vorn-Anfangen schlecht utopisch dünkt und meist einzig ein Rückfall in Produktionsbedingungen, deren Substanz aus purer Unmittelbarkeit sich nicht wiederherstellen läßt - so muß ich zumindest solange bei der Konsequenz insistieren, bis mir eine Inkonsequenz vor Augen kommt, deren eigener Wahrheitsgehalt sich als echter ausweist."[47] Freiheit ist nur durch bestimmte Negation zu erkennen, die sich an der konkreten Gestalt von Unfreiheit festbeißt.[48]
"Alles zerstören heißt, ohne Grundmauern bauen zu wollen; dann muß man die Mauern mit ausgestreckten Armen aufrecht halten."[49] Für den ökonomischen Zusammenhang bedeutet dies die dialektische Aufhebung der kapitalistischen Ökonomie, nicht von Ökonomie überhaupt. - Das ist aufhebende Negation die zugleich auch ein Aufbewahren, aber im wesentlichen bestimmte Negation ist. - Im Gegensatz zu einer integrativen Anerkennungspraxis, die nichts bestimmtes noch das Ganze des Bestehenden negiert, sondern als unüberwindbaren Rahmen akzeptiert hat und "nur" auf Gleichstellung, Gleichberechtigung, Anerkennung und Integration aus ist. - Beide Verfahren haben ganz sicher ihre Daseinsberechtigung - aber nicht losgelöst voneinander, sondern im Zusammenspiel als Dialektik. Werden sie voneinander getrennt, werden der emanzipativen Praxis die Zähne gezogen, und dann kaut sie unbeholfen auf dem Zahnfleisch. Dieses Schicksal erlitten der Reihe nach bereits sämtliche Emanzipationsbewegungen der vergangenen Zeit - von der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung, über die Ökologie- und Friedensbewegung bis hin zum Feminismus. - Ich fürchte, der Tierrechtsbewegung wird dieses Schicksal ebenso nicht erspart bleiben. Es hat damit zu tun, daß die gesellschaftlichen und herrschaftlichen Verhältnisse so versteinert sind, daß man sich selbst beinahe nicht mehr ernst nehmen kann, wenn man den Gedanken an Revolution aufrechterhält. Sekundäre Verarbeitung als Realitätsprüfung, das sich vollständige Einlassenmüssen auf Realpolitik stutzt die Flügel.
Zum Schluß möchte ich auf die im Veranstaltungsflyer zitierte Antwort von Herbert Marcuse eingehen, die er in einem Interview auf die Frage gab, wofür er sich engagieren würde, wenn die befreite Gesellschaft realisiert sei: "Die Tiere befreien natürlich", sagte er. - Da ist eine Rangfolge der Dringlichkeit zu erkennen, der ich nicht widersprechen möchte. Wir haben es noch immer nicht mit einer befreiten Gesellschaft zu tun, weswegen es mir dringlicher erscheint, sich vorrangig für eine solche einzusetzen. Andererseits aber kann ich die trennende Gegenüberstellung - schon gar nicht bei einem Dialektiker vom Schlage eines Marcuse - nicht nachvollziehen. Darum habe ich versucht zu verdeutlichen, daß bei einem erweiterten Bezugsrahmen eine Identität von Subjekt und Objekt der Befreiung erkennbar wird - wir uns mithin selbst befreien, wenn wir aufhören, die Natur als bloße Ausbeutungskategorie und feindselig zu behandeln.[50] Die Gesellschaft ist gleichsam ohne das nicht befreit, und darum gibt es diese Nachgeordnetheit: befreite Gesellschaft und dann Befreiung der Tiere gar nicht. - Ich bin mir aber sicher, könnte Marcuse noch in unseren Reihen sitzen, er würde keine Sekunde lang zögern, meinem Einwand zuzustimmen. Einen Dialektiker zeichnet es allerdings ebenso aus, daß er mindestens seinen zweiten Satz mit einem "Ja, aber..." beginnt.
[1] Vortrag auf der Tagung der Tierechts-Aktion-Nord (TAN) für eine kritische Theorie zur Befreiung der Tiere "...daß der Mensch das steinerne Herz der Unendlichkeit erweicht" vom 17. bis 19. Februar 2006 an der Universität Hamburg, Institut für Politische Wissenschaft. - Der Beitrag wurde zuerst veröffentlicht in: Susann Wittstahl (Hg.): "Das steinerne Herz der Unendlichkeit erweichen. Beiträge zu einer kritischen Theorie für die Befreiung der Tiere", Vorwort von Moshe Zuckermann, Aschaffenburg: Alibri 2007, S. 125-141.
[2] Herr und Knecht sind "zwei entgegengesetzte Gestalten des Bewußtseins; die eine das selbständige, welchem das Fürsichsein, die andere das unselbständige, dem das Leben oder das Sein für ein Anderes das Wesen ist; jenes ist der Herr, dies der Knecht." - G.W.F. Hegel: Phänomenologie des Geistes, Frankfurt am Main 1986, S. 150f. - "Das Selbstbewußtsein ist an und für sich, indem und dadurch, daß es für ein Anderes an und für sich ist; d.h. es ist nur als ein Anerkanntes." - Ebd., S. 145. - "Sie anerkennen sich als gegenseitig sich anerkennend." - Ebd., S. 147.
[3] "Das Große an der Hegelschen ›Phänomenologie‹ (...) ist (...) daß Hegel (...) das Wesen der Arbeit faßt und den gegenständlichen Menschen, wahren, weil wirklichen Menschen, als Resultat seiner eignen Arbeit begreift." - Karl Marx: Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844, in: MEW Ergänzungsband, Erster Teil, Berlin 1968, S. 574.
[4] "Die Bewegung, die Form seines Wissens von sich hervorzutreiben, ist die Arbeit, die [der Geist] als wirkliche Geschichte vollbringt." - Hegel: Phänomenologie des Geistes, a.a.O., S. 586.
[5] Vgl. G.W.F. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Religion, Bd. II, Werke Bd. 17, Frankfurt am Main 1969, S. 253.
[6] G.W.F. Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften (1830), Bd. III, Werke Bd. 10, Frankfurt a.M. 1970, § 502, S. 311 f.
[7] Marcus Hawel: "Ein Begriff muß bei dem Worte sein. Theorie und Praxis in den Sozialwissenschaften", in: Zeitschrift für kritische Theorie, 18/19 2004, S. 73-79; S. 73f.
[8] Vgl. Karl Marx: Das Kapital, Erster Band, MEW Bd. 23, Berlin 1969, S. 27.
[9] "Die Handlung, indem sie Befolgung eines fremden Beschlusses ist, hört nach der Seite des Tuns oder des Willens auf, die eigene zu sein. Es bleibt aber noch ihre gegenständliche Seite dem unwesentlichen Bewußtsein, nämlich die Frucht seiner Arbeit und der Genuß. Diesen stößt es also ebenso von sich ab und leistet wie auf seinen Willen so auf seine in der Arbeit und [im] Genusse erhaltene Wirklichkeit Verzicht (...)." - Hegel: Phänomenologie des Geistes, a.a.O., S. 175.
[10] "(...) das arbeitende Bewußtsein kommt also hierdurch zur Anschauung des selbständigen Seins als seiner selbst" - Ebd., S. 154.
[11] "(...) so wird also sein wirkliches Tun zu einem Tun von Nichts, sein Genuß Gefühl seines Unglücks. (...) so sehen wir nur eine auf sich und ihr kleines Tun beschränkte und sich bebrütende, ebenso unglückliche als ärmliche Persönlichkeit." - Ebd., S. 174.
[12] "Jedes [Selbstbewußtsein] sieht das Andere dasselbe tun, was es tut; jedes tut selbst, was es an das Andere fordert, und tut darum, was es tut, auch nur insofern, als das Andere dasselbe tut; das einseitige Tun wäre unnütz; weil, was geschehen soll, nur durch beide zustande kommen kann." - Ebd., S. 146f.
[13] Adorno betreibt in seinen Studien zu Hegel keinen Soziologismus, wenn er Geist mit Gesellschaft und die Tätigkeit des Geistes mit gesellschaftlicher Arbeit übersetzt, sondern er leistet eine Dechiffrierung dessen, was die Philosophie im ausgehenden Idealismus noch nicht besser wissen und deshalb klarer formulieren konnte. - "Indem (...) von Hegel Erzeugen und Tun nicht mehr als bloß subjektive Leistung dem Stoff gegenübergestellt sondern in den bestimmten Objekten, in der gegenständlichen Wirklichkeit aufgesucht sind, rückt Hegel dicht ans Geheimnis, das hinter der synthetischen Apperzeption sich versteckt und sie hinaushebt über die bloße willkürliche Hypostasis des abstrakten Begriffs. Das jedoch ist nichts anderes als die gesellschaftliche Arbeit." - Adorno: Drei Studien zu Hegel, Frankfurt am Main 1974, S. 23.
[14] Max Horkheimer / Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung, Philosophische Fragmente, Frankfurt am Main 1988, Aph: Quand Meme, S. 227.
[15] Vgl. Albert Camus: Der Mensch in der Revolte (1951), Hamburg 1969, S. 112.
[16] Horkheimer / Adorno: Dialektik der Aufklärung, a.a.O., S. 266.
[17] Th. W. Adorno: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, in: GS, Bd. 4, Frankfurt am Main, S. 218.
[18] Horkheimer / Adorno: Dialektik der Aufklärung, a.a.O., S. 227.
[19] "Das Individuum, welches das Leben nicht gewagt hat, kann wohl als Person anerkannt werden; aber es hat die Wahrheit dieses Anerkanntseins als eines selbständigen Selbstbewußtseins nicht erreicht. " - Hegel: Phänomenologie des Geistes, a.a.O., S. 149.
[20] "Dem Menschen gehört die Vernunft, die unbarmherzig abläuft; das Tier, aus dem er den blutigen Schluß zieht, hat nur das unvernünftige Entsetzen, den Trieb zur Flucht, die ihm abgeschnitten ist." - Horkheimer / Adorno: Dialektik der Aufklärung, a.a.O., Aph: Mensch und Tier, S. 262.
[21] Das ist keine Boshaftigkeit von Marx, sondern dem Umstand geschuldet, daß er von den Hegelschen Kategorien ausgeht. Bei Hegel wiederum ist Arbeit als geistige von Vernunft und Gesellschaft nicht zu trennen und strikt von Natur abgegrenzt. - Auch Adorno folgt dieser Gegenüberstellung und erkennt im Zustand des Tieres das Glück, das der Mensch verloren hat, aber auch anstreben kann: Das Stadium des Tieres, in dem man nicht arbeitet, nichts tut, sondern auf dem Wasser liegt und friedlich in den Himmel schaut: "›sein, sonst nichts, ohne alle weitere Bestimmung und Erfüllung‹ könnte an Stelle von Prozeß, Tun, Erfüllen treten und so wahrhaft das Versprechen der dialektischen Logik einlösen, in ihren Ursprung zu münden. Keiner unter den abstrakten Begriffen kommt der erfüllten Utopie näher als der vom ewigen Frieden." - Adorno: Minima Moralia, a.a.O., Aph.: Sur l'eau, S. 179. - Für Horkheimer ist dieser Zustand für den Menschen unwiderruflich vergangen; erstrebenswert erscheint ihm das Erreichen dieses Zustands einzig durch Aufhebung der Vernunft in einem realisierten Reich der Freiheit, in dem man nicht mehr arbeitet und sich auch darüber im Klaren ist, daß man nicht mehr arbeiten muß. Adorno sieht im Blick des Tieres den zukünftigen freien Menschen; Horkheimer im Menschen das vergangene Tier. - "Einmal hast Du mir gesagt, ich empfinde die Tiere wie Menschen, Du die Menschen wie Tiere. Es ist was daran." - Adorno in seinen Wünschen an Horkheimer zu seinem 70. Geburtstag, die er in der Zeit am 12. Februar 1965 veröffentlichte, zit. n. Detlev Claussen: Theodor W. Adorno. Ein letztes Genie, Frankfurt am Main 2003, S. 265, vgl. auch S. 308f.
[22] Recht setze ich in Anführungszeichen, da ich es problematisch finde, hier von Recht und bei Tieren von Rechtssubjekten (Michael Fischer) zu sprechen. Tiere können keine Rechtssubjekte sein. - Soziale Rechte für Tiere, gleichsam die Ausweitung der Menschenrechte auf Tiere, ist zwar ein gutgemeintes Ansinnen, stellt allerdings die Grenze der Gleichstellung (Christoph Türcke) dar, wo wir anfingen, gesellschaftliche Rechtskategorien und damit auch gleich unsere Moral und Ethik auf Natur zu projizieren. - Wie wäre es dann in der Natur mit der Brutalität des Fressens und Gefressenwerdens bestellt? Gehörte der Löwe, wenn er ein Schaf reißt, von der gemeinsamen Wiese verbannt? Wäre das Verhalten des Löwen dann fortan moralisch zu verurteilen? Wir projizierten Gesellschaft auf Natur, wenn wir den Tieren ein Status als Rechtsubjekt einräumen und brächten das gesamte Ökosystem durcheinander, wenn wir die Menschenrechte auf Tiere ausweiteten. Wäre eine solche Projektion nicht mindestens genauso problematisch wie die umgekehrte: die Projektion von Natur auf Gesellschaft, die einen Sozialdarwinismus zur Folge hat?
[23] Horkheimer / Adorno: Dialektik der Aufklärung, a.a.O., Aph.: Mensch und Tier, S. 263.
[24] Ebd., S. 263f.
[25] Ebd., S. 264.
[26] "Solidarität mit den Tieren, erweitert zur Solidarität mit allem Lebendigen, erinnert an die Unterdrückung der inneren und äußeren Natur, an Herrschaft - ein Begriff, der im traditionellen Marxismus mit dem Vorrang der Ökonomiekritik an Plastizität verloren hat." - Claussen: Theodor W. Adorno, a.a.O., S. 297f.
[27] Utz Anhalt: "Der Beutelwolf. Artenschutz und soziale Emanzipation", in: sopos 2/2005.
[28] Horkheimer / Adorno: Dialektik der Aufklärung, a.a.O., S. 262.
[29] Ebd., S. 264.
[30] Vgl. ebd., S. 265.
[31] Es geht nicht darum, diese als menschlich ausgewiesene Vernunft in Bausch und Bogen zu verdammen und einem esoterischen Irrationalismus das Wort zu reden. Das Verhängnis der Vernunft liegt in der Instrumentalität, d.h. in der Verstrickung mit Herrschaft und dem kapitalistischen Logos. Es gilt die bloße instrumentelle Vernunft durch Aufklärung zurückzudrängen; ihre Bestialität ist im übrigen nur scheinbar ähnlich zur "Brutalität" in der Natur und in keinem Fall identisch. Vielmehr ist es problematisch, den Begriff der Brutalität wie auch sein Gegenteil auf Natur anzuwenden; was wiederum nicht heißt, das der Mensch kein Recht dazu hat, den Löwen zu erschießen, bevor dieser den Menschen reißt. In so einer Handlung drückt sich menschliche Bestialität selbstverständlich nicht aus. Das Tier ist jenseits von Gut und Böse; der Mensch ist es nicht, - er hat den bestirnten Himmel über sich und das moralische Gesetz in sich (Kant).
[32] Horkheimer / Adorno: Dialektik der Aufklärung, a.a.O., Aph: Zur Kritik der Geschichtsphilosophie, S. 235.
[33] Anhalt: "Der Beutelwolf", a.a.O.
[34] Camus: Der Mensch in der Revolte, a.a.O., S. 239.
[35] Ebd., S. 240.
[36] Ebd., S. 243.
[37] Horkheimer / Adorno: Dialektik der Aufklärung, a.a.O., S. 235f.
[38] Ebd., S. 237.
[39] Ebd., S. 236.
[40] Vgl. ebd., S. 229.
[41] "Einmal wird uns gewiß die Rechnung präsentiert / für den Sonnenschein und das Rauschen der Blätter, / die sanften Maiglöckchen und die dunklen Tannen, / für den Schnee und den Wind, den Vogelflug und das Gras / und die Schmetterlinge, für die Luft, die wir geatmet haben / und den Blick auf die Sterne und für alle die Tage, / die Abende und die Nächte. // Einmal wird es Zeit, daß wir aufbrechen und bezahlen, / bitte die Rechnung. / Doch wir haben sie ohne den Wirt gemacht: / Ich habe Euch eingeladen, sagt der und lacht, / soweit die Erde reicht: Es war mir ein Vergnügen!" - L. Zenetti: "Einmal", in: Sieben Farben hat das Licht (1975), S. 293.
[42] Anhalt: "Der Beutelwolf", a.a.O.
[43] Vgl. Elmar Altvater: Das Ende des Kapitalismus wie wir ihn kennen. Eine radikale Kapitalismuskritik, Münster 2005.
[44] Christoph Görg: "Kein Kommunismus jenseits der Natur. ›Chiffre K‹ und die Gestaltung der Naturverhältnisse", Beitrag im Rahmen der AG Naturverhältnisse und Biopiraterie auf dem Kongreß: Indeterminate/Kommunismus (unveröffentlichtes Manuskript), S. 6.
[45] Karl Marx: Ökonomisch-philosophische Manuskripte, a.a.O., S. 536f.
[46] Im Realsozialismus war ein auf die Spitze getriebenes mechanisches Naturverständnis wirkmächtig gewesen. Natur war grenzenlose Ausbeutungskategorie; das Ausmaß von Naturzerstörung und -verschmutzung war entsprechend beispiellos. Man wird in Marx' Schriften den einen oder anderen Ansatz finden, der in verzehrter Form zur Legitimation tatsächlich herangezogen werden konnte.
[47] Th. W. Adorno: "Antwort eines Adepten. An Hans F. Redlich" (1934), in: GS, Bd. 18, S. 401f.
[48] Vgl. Th. W. Adorno: Negative Dialektik, in: GS, Bd. 6, S. 230.
[49] Camus: Der Mensch in der Revolte, a.a.O., S. 130.
[50] Mir geht es nicht darum, daß die Utopie des Friedens in der Natur von den Menschen zu realisieren sei, wie sie in der Bibel im Buch Jesaja beschrieben wird: wo Löwe und Schaf friedlich nebeneinander auf der Wiese liegen und der Löwe nicht über das Schaf herfällt. Ich halte das für eine Allegorie, die auf Gesellschaft bezogen ist, die sich der Tiermetapher bedient. Wollten wir das nicht für Gesellschaft, sondern für Natur ernstnehmen, projizierten wir die gesellschaftlichen Begriffe von Brutalität und Moralität auf Natur, die aus den schon genannten Gründen, d.h. des Nichtvorhandenseins von Vernunft in der Tierwelt, dort einfach nichts zu suchen haben.
Dieser Beitrag erschien zuerst in dem Sammelband: "Das steinerne Herz der Unendlichkeit erweichen. Beiträge zu einer kritischen Theorie für die Befreiung der Tiere", Vorwort von Moshe Zuckermann, hrsg.v. Susann Witt-Stahl, Aschaffenburg: Alibri 2007, S. 125-141.
Die Autoren des Sammelbandes: Moshe Zuckermann, Carsten Haker, Gunzelin Schmid-Noerr, Michael Sommer, Marco Maurizi, Marcus Hawel, Michael Fischer, Christoph Türcke, Arnd Hoffmann, Esther Leslie und Ben Watson, Agnese Pignataro, Mieke Roscher, Colin Goldner, Susann Witt-Stahl, Melanie Bujok, Günther Rogausch.
https://sopos.org/aufsaetze/46a41682b7e27/1.phtml
sopos 7/2007