Zur normalen Fassung

Keine Wiedergutmachung?

Der Genozid an den Herero und Nama wird Thema im Bundestag

von Rolf-Henning Hintze

Auf dem alljährlichen Herero-Tag in der namibischen Stadt Okahandja hielt am 27. August 2006 zum ersten Mal ein Abgeordneter des Deutschen Bundestages eine Rede. Hüseyin Aydin, Mitglied der Linksfraktion, versprach auf dem "Kommadoplatz", sich dafür einzusetzen, daß es in Deutschland zu einer neuen Debatte über den Genozid im ehemaligen Südwestafrika kommt. Dieses Versprechen wird nun in Erfüllung gehen: Der Bundestag wird sich voraussichtlich im Mai mit einem Antrag beschäftigen müssen, der materielle Wiedergutmachung für die Herero und Nama wegen der von den deutschen Kolonialtruppen verübten Verbrechen verlangt[1]. Anfang März hatte die Linksfraktion den Antrag Aydins, der einen "offenen Dialog ohne Vorbedingungen" unter Einbeziehung der betroffenen Volksgruppen fordert, einstimmig angenommen.

Der Antrag hat im gegenwärtigen Bundestag kaum Chancen, eine Mehrheit zu finden. Dazu ist die Ablehnung bei CDU/CSU und SPD zu groß. Und doch eröffnet er die Möglichkeit, mit der überfälligen öffentlichen Auseinandersetzung über den ersten deutschen Genozid des vergangenen Jahrhunderts endlich zu beginnen.

Nachhinkende Entschuldigung

Entwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul hatte in ihrer Rede vom 14. August 2004 auf einer Gedenkfeier am Rande des Schlachtfeldes am Waterberg, wo General Lothar von Trotha hundert Jahre zuvor die Herero besiegte, erstmals den Genozid an den Herero und Nama eingeräumt. Sie bat die Nachkommen der Opfer um Entschuldigung. Die Rede war um so sensationeller, als der Bundestag noch wenige Wochen zuvor eine wachsweiche Entschließung zum deutschen Kolonialunrecht angenommen hatte, die mehr verschwieg als sie sagte. Erwähnt wurden darin weder der rassistische Oberbefehlshaber der "Schutztruppe", General von Trotha, noch dessen berüchtigter Schießbefehl ("Ich lasse auch auf Weiber und Kinder schießen"). Auch die Konzentrationslager, die damals errichtet wurden, fand der Bundestag in seiner Entschließung nicht der Rede wert. Daß rund 80 Prozent der Herero und etwa die Hälfte der Nama den Krieg nicht überlebten, wurde gleichfalls verschwiegen. Im Text findet sich lediglich die lakonische Bemerkung: "Das Volk der Hereros existiert weiter..." In Namibia löste das Verärgerung und neue Verbitterung aus.

Die überraschenden Töne der Entwicklungsministerin am Waterberg weckten bei betroffenen Gruppen neue Hoffnung. Bis heute haben sie sich von den riesigen menschlichen Verlusten und vom Raub ihres Landes und ihrer Viehherden nicht erholt. Jetzt, so erwartete man, werde endlich der Dialog mit den Deutschen über mögliche Formen und Umfang der Wiedergutmachung beginnen. Dann werde Häuptling Kuaima Riruako, traditioneller Führer der Herero und Vorsitzender der Partei NUDO, auch seine Klage gegen den deutschen Staat und mehrere deutsche Firmen vor einem US-Gericht zurückziehen können. Die Klage ist seit Jahren vor Gerichten in den USA anhängig, wo nach dem "Aliens Tort Claims Act" die Verfolgung von Verbrechen auch in fremden Ländern zulässig ist.

Die Hoffnungen erwiesen sich als falsch: Die traditionellen Führer der Herero und Nama wurden von der Bundesregierung noch nicht einmal zu Gesprächen über die Vorbereitung eines ernsthaften Dialogs eingeladen. Statt dessen entnahmen Riruako und die namibische Regierung erst neun Monate später aus der Zeitung, daß die Ministerin in Deutschland verkündet hatte, sie wolle eine "Versöhnungsinitiative" einleiten, mit der Entwicklungsprojekte besonders für die Herero und Nama gefördert werden sollten. Ohne Konsultation der Betroffenen hatte sie auch gleich eine Summe dafür genannt: 20 Millionen Euro über einen Zeitraum von zehn Jahren. Daß Versöhnung etwas mit Respekt zu tun hat und ohne Dialog unmöglich ist, scheint der Leitung des Entwicklungsministeriums nicht bekannt zu sein.

Als im Juni 2005 im Kulturzentrum Okakarara ein neues Ausstellungsgebäude für eine künftige Geschichtsausstellung feierlich eröffnet wurde, nutzte Riruako die Anwesenheit der Presse, um in Gegenwart des deutschen Botschafters Wolfgang Massing seinem Unmut Luft zu machen. Die Haltung der deutschen Seite erwecke den Eindruck, erklärte Riruako, es habe sich bei der Entschuldigung der Ministerin um "eine bloße Public-Relations-Übung" gehandelt. Offenbar wird in Berlin immer wieder übersehen, daß in Namibia die deutsche Haltung zum Genozid an den Herero und Nama im Zusammenhang mit der deutschen Haltung zur Vernichtungspolitik gegenüber den europäischen Juden gesehen wird. Alle maßgeblichen namibischen Politiker wissen, daß Deutschland den Überlebenden und Nachkommen des Holocaust finanzielle Wiedergutmachung leistete.

Als im Dezember 2005 der neue namibische Staatspräsident Hifikepunye Pohamba zu einem Staatsbesuch nach Berlin kam, weigerte er sich überraschend, ein vorbereitetes Abkommen zu der Versöhnungsoffensive zu unterschreiben. Es gebe noch weiteren Konsultationsbedarf, sagte er. Bei den Herero brachte ihm das große Sympathien ein.

Einseitiger Vorstoß

Heidemarie Wieczorek-Zeuls Entschuldigungsrede von 2004 hat - ungeachtet ihrer späteren Ungeschicklichkeiten - eine Dynamik in Gang gesetzt, deren Ende noch offen ist. Wegen der ausbleibenden Fortschritte im Versöhnungsprozeß schalteten sich im Mai 2006 erstmals zwei Organisationen der deutschen Zivilgesellschaft ein. Die Informationsstelle Südliches Afrika (ISSA) und die Koordination Südliches Afrika (KOSA) erklärten in einer ausführlichen Stellungnahme, die Herero und Nama hätten "ein Recht nicht nur auf Anerkennung von Unrecht und erlittenem Leid, sondern auch auf materielle Entschädigung". Die Bundesregierung erwecke mit ihrem bisherigen Verhalten "den fatalen Eindruck, als gebe es für sie zwei Kategorien von Völkermord: einen mit Anspruch auf Wiedergutmachung und einen ohne." Damit setze sie sich dem Vorwurf aus, "dass sie einen Völkermord an Menschen schwarzer Hautfarbe als minder gravierend beurteilt".

Dies gab den letzten Anstoß dazu, daß der Abgeordnete Aydin die Forderung nach materieller Wiedergutmachung öffentlich unterstützte. Zwei Monate später sprach er in Namibia mit Riruako sowie mit weiteren Herero-Führern. Ein Ergebnis der Gespräche war, daß keiner von ihnen - im Gegensatz zu Behauptungen deutscher Medien - auf Bargeldzahlungen bestand, alle waren sich darin einig, daß es um eine nachhaltige Entwicklung ihres stark unterentwickelten Gebiets gehe.

Mitte September erreichte Riruako mit einem Antrag im namibischen Parlament, daß dort die erste große Genozid-Debatte seit der Unabhängigkeit geführt wurde. Die große Überraschung der sich über mehrere Wochen hinziehenden Debatte war, daß sich auch die mit einer Dreiviertelmehrheit regierende Swapo dafür aussprach. Bis dahin war die Swapo vollauf mit einer etwas höheren deutschen Entwicklungshilfe für Namibia zufrieden gewesen und hatte der Forderung nach Wiedergutmachung für den Völkermord eher ablehnend gegenübergestanden. Jetzt aber schalteten sich sowohl Swapo-Generalsekretär Ngarikutuke Tjiriange als auch Premierminister Nahas Angula unterstützend in die Debatte ein. Am Ende gab es einen Parlamentsbeschluß, der Verhandlungen über Reparationen mit der deutschen Regierung fordert.

Unsensible Deutsche

Ungeachtet dessen setzte Ministerin Wieczorek-Zeul ihre Bemühungen um die jetzt nur noch Sonderinitiative (Special Initiative) genannte frühere Versöhnungsinitiative fort. Ende Dezember erschien auf der Webseite der Nationalen Planungskommission in Windhoek - obwohl das Abkommen formal immer noch nicht unterzeichnet ist - eine Ausschreibung, die Beratungsfirmen einlädt, Vorschläge einzureichen. Im zweiten Absatz der Terms of Reference wird noch einmal betont, daß die Sonderinitiative nach deutschem Verständnis "nicht als Wiedergutmachung dienen soll". Riruako, der wiederum nicht konsultiert wurde, protestierte. "Die Deutschen können nicht mit ihren eigenen Vorschlägen kommen und... uns ihre eigenen Vorstellungen aufzudrücken versuchen," erklärte er der Zeitung New Era und bekräftigte die Forderung nach Wiedergutmachung.

In Namibia zeigt die Wiedergutmachungsdebatte erste Folgen. Mitte Februar besuchten rund 500 Nama eine Gedenkfeier auf der Haifischinsel, die zur Kolonialzeit als Konzentrationslager diente. Auf der Gedenkfeier erinnerte Dawid Frederick, Kaptein der Aman aus Bethanie, an den hundertsten Jahrestag der Ermordung eines seiner Vorgänger, Cornelius Frederick, durch die Deutschen. Auch er erneuerte in Anwesenheit der stellvertretenden Premierministerin Libertine Amathila die Forderung der Nama nach Wiedergutmachung.

Im März 1904 hatte August Bebel, der damalige Führer der Sozialdemokraten, den Aufstand der Herero im Reichstag als "gerechtfertigten Befreiungskrieg" bezeichnet. Die SPD ist heute zu Recht stolz darauf. Damals hatte Bebel die Mehrheit der Reichtagsabgeordneten gegen sich. Es bleibt abzuwarten, wie in einer oder zwei Generationen der Antrag der Linksfraktion nach Wiedergutmachung für den Völkermord beurteilt wird.

Anmerkungen:

[1] Auf www.freiburg-postkolonial.de finden sich der Bundestagsantrag im Wortlaut sowie zahlreiche Artikel und Dokumente zur Kolonialherrschaft in "Deutsch-Südwestafrika".

Rolf-Henning Hintze beschäftigt sich als Journalist seit über 30 Jahren mit politischen Entwicklungen in Afrika. Von 1993 bis 1995 und von 2004 bis 2006 arbeitete er in Windhoek.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der Zeitschrift informationszentrum 3. welt (iz3w), Nr. 300.

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sopos 7/2007