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Aufbau Süd

Von der Nachkriegsituation im Libanon profitiert ausgerechnet die Hisbollah

von Markus Bickel

Michel Waked lacht. "Den Erfolg, uns besiegt zu haben, schenken wir Israel nicht", sagt der Manager von Liban Lait, der bis zum israelischen Krieg gegen den Libanon größte Arbeitgeber in der ostlibanesischen Bekaa-Ebene. "Wir werden ihnen zeigen, daß wir besser sind als sie, und daß sich unser Wille mit Waffen nicht einfach brechen läßt." In den frühen Morgenstunden des 17. Juli hatten israelische Kampfjets zwei Raketen in die Produktionshalle der Milchfabrik geschossen. Es war der erste Angriff auf libanesische Industrieanlagen.

In den knapp dreißig Tagen danach wurden Fabriken immer wieder zum Ziel der israelischen Luftwaffe. Getroffen wurden Papier- und Glasfabriken, Tankstellen, Markthallen und Agraranlagen. Zu Schaden kamen außerdem Wasser- und Elektrizitätswerke sowie Kläranlagen. Rund 630 Straßenkilometer sind nach Angaben des libanesischen Rats für Entwicklung und Wiederaufbau (CDR) nach den israelischen Bombardements unbefahrbar, Dutzende Brücken und Überführungen zerstört. Die Schäden für die libanesische Wirtschaft belaufen sich nach Angaben von Finanzminister Dschihad Azour auf 3,6 Milliarden US-Dollar. Der Repräsentant des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK) in Beirut, Alexis Nassan, schätzt die Verluste gar auf bis zu acht Milliarden Euro.

Nicht wählerisch

Welche militärische Bedeutung die gezielt beschossenen Fabriken und andere Wirtschaftseinrichtungen gehabt haben sollen, haben die Sprecher der IDF (Israeli Defence Forces) und der israelischen Regierung bis heute nicht offenbart. Auch Liban Lait-Manager Waked ist ratlos. Gerüchten, seine seit 2002 mit der Belieferung der Übergangsstreitkräfte der Vereinten Nationen für den Libanon (Unifil) betraute Firma sei beschossen worden, um einem israelischen Konkurrenten den vor vier Jahren verloren gegangenen Auftrag zurückzuholen, schenkt er keinen Glauben.

Für ebenso absurd hält Waked Vorwürfe, die Hisbollah habe das 10.000 Quadratmeter große Gelände genutzt, um hier Waffen zu verstecken. Davon, daß das nicht der Fall sei, hätten sich Unifil-Inspektoren und die Geschäftspartner von der französischen Firma Candia in den vergangenen Jahren immer wieder überzeugt. "Ziel des Krieges war die Zerstörung des ganzen Libanon", sagt der katholisch-maronitische Christ, der voll des Lobes ist über die seit der Fabrikgründung 2001 bestehende Kooperation mit der Hisbollah. Weder hätte die schiitische Partei versucht, ihr loyale Mitarbeiter in der Firma zu installieren, noch Druck auf ihn ausgeübt, die politischen Ziele der Organisation zu unterstützen.[1]

Was der Geschäftsmann Waked schätzt, ist die Verbindlichkeit, mit der die Hisbollah-Kader Zusagen einhalten. Eine Tugend, die staatliche Vertreter nicht gerade zur Schau stellen. "Sicherlich haben sich Repräsentanten der Regierung bei uns blicken lassen", sagt der Mann, der schon 1982 mit ansehen mußte, wie israelische Bomben seinen Arbeitsplatz zerstörten - damals war er noch für Coca Cola tätig. "Außer vielen Versprechen und wohl klingenden Worten" hätte der Regierungsbesuch der Firma nichts gebracht. "Aber selbstverständlich nehmen wir jede Hilfe an", so Waked. "In diesen Zeiten können wir nicht wählerisch sein." Eine pro-kapitalistische und pragmatische Grundhaltung, die das Verhalten vieler von den israelischen Angriffen Betroffener prägt.

Die Hisbollah weiß dies zu nutzen. Zum großen Erstaunen westlicher Beobachter nahm die bereits 1982 entstandene Hisbollah-Hilfsorganisation Dschihad al-Binaa (Baukampf) die Organisation des Wiederaufbaus schon Stunden nach der Waffenruhe in eigene Hände. Auch in der zerstörten Liban Lait-Fabrikhalle tummeln sich an diesem September-Tag Vertreter der Hisbollah-Hilfstruppe, die mit Spendengeldern reicher schiitischer Libanesen und Überweisungen aus dem Iran finanziert wird. Geld erwartet Waked jedoch vorerst nicht. "Dschihad al Binaa ist zunächst einmal für die Armen da", resümiert er das Credo der schiitischen Bautrupps. "Wir sind die letzten auf ihrer Liste."

Hilfe mit weißen Mützen

Die ersten Ansprechpartner und wichtigsten Garanten für einen schnellen Wiederaufbau sind die Hisbollah-Helfer mit ihren weißen Mützen vor allem in den am heftigsten von den israelischen Angriffen betroffenen südlibanesischen Gebieten. Wirklich verwunderlich ist das nicht: Schon nach den großen israelischen Offensiven im Südlibanon im Juli 1993 ("Operation Rechenschaft") und im April 1996 ("Operation Früchte des Zorns") waren Dschihad al-Binaa sowie das Islamische Gesundheitskomitee und das Hilfskomitee Imam Khomeini überall präsent, um die Grundversorgung der mehrheitlich schiitischen Bevölkerung zu sichern.[2] Damals wie heute weitgehend nur Zuschauer: die Hilfsagenturen des libanesischen Staates.

Die schwache Zentralregierung in Beirut gab dieser Arbeitsteilung schon 1988 offiziell ihren Segen. Den staatlichen Kräften gelang es nie, die nach der Invasion 1982 und den beiden israelischen Großoffensiven der 1990er Jahre zu Hunderttausenden in die südlichen Beiruter Vorstädte geflohenen schiitischen Libanesen mit dem Lebensnotwendigsten zu versorgen. Überlassen wurde dies nur zu gern den Mitte der 1980er Jahre entstandenen sozialen Flügeln der Hisbollah. Allein zwischen 1988 und 1993 errichtete Dschihad al-Binaa 25 kleinere Kraftwerke. Zwischen 1988 und 1992 zapften ihre Mitarbeiter 21 Quellen an, um die Wasserversorgung zu sichern[3]. Und das nicht nur in schiitisch dominierten, sondern auch in mehrheitlich christlich oder sunnitisch bevölkerten Gegenden im Norden des Landes.

An diese Aufbauarbeiten knüpft Dschihad al-Binaa nach dem neuen Libanon-Krieg an. Fast 600 Freiwillige seien für die Organisation in den beiden Wochen seit Verkündung der Waffenruhe unterwegs gewesen, erklärte ihr Chef, Adnan Samuri. Experten gehen davon aus, daß der Iran der Hisbollah bis zu 150 Millionen US-Dollar zur Verfügung stellt, um damit Betroffene zu entschädigen. "Anzuzweifeln, daß die Hisbollah iranische Hilfe bekommt, hieße anzuzweifeln, daß die Sonne die Erde mit Licht versorgt", erklärte der erste Hisbollah-Chef, Scheich Subhi Tufeili, schon Mitte der 1990er Jahre.[4]

Angesichts der immensen Finanzspritzen aus arabischen Staaten wie Kuwait, den Vereinigten Arabischen Emiraten und Saudi-Arabien für die libanesische Regierung nimmt sich das politische Ziel der Europäischen Union, mit ihren Hilfsgeldern die Regierung von Premierminister Fuad Siniora zu stärken, reichlich hilflos aus. Das saudische Königshaus sagte schon in der ersten Kriegswoche eine Milliarde US-Dollar zur Stützung des libanesischen Pfund zu; einem noch im Juli gewährten Darlehen über 500 Millionen US-Dollar folgten nach der Stockholmer Geber-Konferenz Ende August weitere 300 Millionen Direkthilfe aus Saudi Arabien. Die Bundesregierung hingegen legte in Stockholm lediglich 22 Millionen Euro auf den Tisch, zusätzlich zu kurz nach Kriegsbeginn zugesagten fünf Millionen Euro.

Das politische Ziel westlicher Regierungen, die soziale Dominanz der Hisbollah zu brechen, wird sich so schwerlich realisieren lassen. An 3.000 Familien, die ihre Haushalte verloren, seien schon in den ersten beiden Nachkriegswochen jeweils 12.000 US-Dollar vergeben worden, behauptet Dschihad al-Binaa-Chef Samuri. Allein in der Beiruter Vorstadt, wo die Hisbollah bis zu Beginn des Krieges ihr Hauptquartier hatte, hat Dschihad al-Binaa in den ersten beiden Nachkriegswochen 182 komplett zerstörte und 192 beschädigte Gebäude registriert. In den 115 inspizierten Dörfern in der Bekaa-Ebene und im Südlibanon müßten 6.000 Wohnungen neu gebaut werden, 13.000 weitere wurden schwer beschädigt. Neben der schon bestehenden starken sozialen Bindung, die die Partei durch die unbürokratische Soforthilfe weiter vertieft, dürfte der Wiederaufbau vielen im Bau- und Immobiliengewerbe tätigen Hisbollah-Angehörigen und -Sympathisanten einen finanziellen Segen bescheren. Möbel, Fensterscheiben und Fließen müssen ebenfalls neu beschafft werden.

Nachteile bescheren

Mit seiner Mitte August abgegebenen Einschätzung, die Verabschiedung der Uno-Sicherheitsratsresolution 1701 bedeute, daß der "Staat im Staat", den die Hisbollah bislang im Südlibanon unterhalten habe, "zerschlagen" sei, könnte Israels Premierminister Ehud Olmert kaum weiter von der sozialen und politischen Realität im Nachbarland entfernt liegen. Was seiner Regierung während der 34 Kriegstage allerdings gelang, ist das Ausbooten des gefährlichsten wirtschaftlichen Konkurrenten in der Region. "Der Krieg hat uns zwanzig Jahre zurückgeworfen", glaubt Liban Lait-Manager Waked. Marwan Iskandar, der langjährige Berater des wegen seiner Wiederaufbauleistungen nach dem Bürgerkrieg (1975-1990) als "Mr. Lebanon" gepriesene, 2005 ermordete Expremierminister Rafik Hariri, rechnet mit drei Jahren, bis die vor dem neuen Libanon-Krieg bestehende Wirtschaftskraft wieder erreicht werden kann.

Schon nach der israelischen "Operation Früchte des Zorns" 1996 hatte der damalige libanesische Wirtschaftsminister, Yassin Jaber, auf "dieselben strategischen Vorteile als Zugangsorte zum Nahen Osten" verwiesen, die Israel und Libanon zu Rivalen machten. Von daher sei es nur logisch, daß Israel immer wieder militärisch versuche, "dem Libanon Nachteile zu bescheren".[5] Eine Einschätzung, die sich mit der der rechten israelischen Tageszeitung "Yediot Ahranot" zehn Jahre später deckt: "Während wir gezeichnet, aber aufrecht aus der Schlacht gehen, wird der Libanon lange Jahre brauchen, sich wieder aufzurichten", hieß es dort nach Beginn der Waffenruhe Mitte August in einem Kommentar.

Auch Ghassan Tueni, griechisch-orthodoxer Parlamentsabgeordneter und Herausgeber der liberalen Beiruter Tageszeitung Al-Nahar, sah in einem Artikel für die FAZ Ende Juli weiterreichende Ziele als nur die Zerschlagung der Hisbollah: "die Isolation des Libanons durch die Zerstörung aller Flug- und Seehäfen, der Autobahnen sowie der wichtigsten Brücken und sonstigen Straßenverbindungen; die Zerstörung ganzer Städte und Dörfer vor allem im Süden von Beirut und in der Bekaa-Ebene; die Zerstörung von Fabriken zur Verarbeitung von Milch und Nahrungsmitteln mit dem Ziel, die Wirtschaft zu lähmen, vor allem im Bereich des Handels und des Tourismus."

Eine Lesart, die Israels Premierminister Anfang September bestätigte. "Der Vorwurf, wir hätten verloren, ist unhaltbar. Der halbe Libanon ist zerstört, ist das ein Niederlage?" sagte Ehud Olmert vor dem Komitee für Außenpolitik und Verteidigung der Knesset.

Anmerkungen:

[1] Zur Öffnung (Infitah) der Hisbollah gegenüber sunnitischen und christlichen libanesischen Kräften siehe Judith Palmer Harik: "Hezbollah - The Changing Face of Terrorism, I.B. Tauris, London/New York 2005.

[2] Zum Aufstieg der Hisbollah zur wichtigsten politischen und gesellschaftlichen Größe im Südlibanon siehe Amal Saad-Ghorayeb: "Hizbu'llah - Politics - Religion", Pluto Press, London 2002.

[3] Angaben aus Hala Jaber: "Hezbollah - Born With a Vengeance", Columbia Universtiy Press, New York 1997, S. 156.

[4] Zitiert nach Jaber, S. 150.

[5] A.a.O., S. 178.

Markus Bickel ist freier Journalist und lebt in Beirut.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der Zeitschrift informationszentrum 3. welt (iz3w), Nr. 296.

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sopos 12/2006