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Vom Prothesengott zum Cyborg

Ist Technik die Zukunft der menschlichen Natur?

von Marcus Hawel (sopos)

"Mein Icarus, laß dich ermahnen! / Halte die Mitte der Bahn. Denn fliegst du zu tief, dann beschwert die / Welle die Federn, zu hoch, dann wird die Glut sie versengen / zwischen beiden dein Flug!" Die Warnung vor dem Höhenflug stand bereits am Beginn der europäischen Zivilisation. Sie stammt aus vorgeschichtlicher Zeit. Daidalos, der Kunstreiche, gab sie dem Mythos nach, wie ihn Ovid in Versmaß festhielt,[1] seinem Sohn Ikarus vor deren gemeinsamer Flucht von Kreta mit auf den Weg. Ikarus aber kam der Sonne zu nahe, so daß seine mit Wachs zusammengehaltenen Flügel aus Vogelfedern wegschmolzen und er bei Samos ins Meer stürzte.

Die verhängnisvolle Flucht hat eine Vorgeschichte. Daidalos hatte in Athen aus Neid seinen Neffen, der bei ihm in die Lehre ging und Töpferscheibe, Zirkel und Säge erfand, von der Akropolis gestürzt. Nach dem gemeinen Mord wurde Daidalos nach Kreta verbannt. König Minos verpflichtete den genialen Handwerker zu seinen Diensten. Die Königsgattin Pasiphae nutzte die Gegenwart Daidalos' und beauftragte ihn, eine künstliche Kuh zu bauen, in die sie hineinsteigen könne, um sich von einem kräftigen Stier besteigen zu lassen. Aus dem lustvollen Akt entsprang Minotaurus: der "zwiegestaltete Mannsstier". Die Schmach und das Gespött der Untertanen müssen für König Minos entsetzlich gewesen sein, weshalb er Daidalos, den "in der Kunst berühmtesten Meister", damit beauftragte, ein Labyrinth zu bauen, in dem die Chimäre versteckt werden sollte. Die Neugier eines jeden sollte tödlich enden, wenn man sich in das Labyrinth hineinwagte.

Ariadne, die Tochter des Königs, verliebte sich in Minotaurus. Aus Mitleid verriet Daidalos, wie sie mit Hilfe eines Garnknäuels aus dem Labyrinth wieder herausfinden könne. König Minos war über den Verrat erbost, sperrte Daidalos und seinen Sohn Ikarus in das Innere des Labyrinths. Lediglich einen freien Blick zum Himmel hatte das Verließ, wo die beiden den Flug der Vögel beobachten konnten, die über dem Labyrinth ihre Kreise zogen. So kam Daidalos die Idee, künstliche Flügel zu erschaffen, um gemeinsam mit Ikarus dem Gefängnis zu entfliehen. "Frei bleibt mir der Himmel, und so will ich fliehen! / Mag er auch alles besitzen, besitzt doch Minos die Luft nicht!"

Mythen bieten Raum für allerlei Interpretationen. Der Flug des Ikarus' ist eine Allegorie für den Freiheitsdrang, für den Erfindergeist, der aus der Not geboren wird, aber auch für die fatalen Folgen eines ungezügelten, überheblichen Höhenrausches, für Allmachtsphantasien, der menschlichen Hybris. Ikarus kam zu tödlichem Fall, nicht weil er sich die Kräfte der Natur zu eigen machte, gleichsam sie nachahmte, den "Sinn der Natur" wandelte, sondern weil er die Warnung seines Vaters in den Wind schlug und in seinem Höhenrausch die Ehrfurcht vor den Naturgewalten verlor.

Der Mensch pflegt seit je ein ambivalentes Verhältnis zur Natur; sie ist ihm das Nicht-Begriffliche, das ihn in Bann hält, aber auch seine Existenz bedroht. Für Hegel ist die Arbeit am Begriff der Natur ihre Aufhebung. Er bringt damit den Logos der Naturwissenschaft auf den Punkt: Sie versucht Natur zu begreifen, um die Menschheit vor ihren Bedrohungen zu schützen - aber auch, um von ihr zu lernen,[2] ihre Kräfte sich zu eigen zu machen für ein unbeschwertes Leben.

Schutz ist ein Urphänomen von Herrschaft. Technik ist die Antwort auf das Bedürfnis nach Schutz, das der Mensch mit jedem Lebewesen teilt, aber er allein ist aufgrund seiner intelligiblen Fähigkeiten imstande, im Verhalten der Natur Gesetze zu erkennen und auf Basis des Wissens über die Natur Techniken zu entwickeln, um sich aus der Natur herauszunehmen. Technik und Naturwissenschaft haben mithin den Zweck der Beherrschung von Natur. Während die Technik das Mittel zur Unterwerfung ist, leitet die Naturwissenschaft als Herrschaftslogos die Technik an. Wer über sie verfügt, kann legitimen Anspruch auf Herrschaft erheben, insofern er mit ihrer Hilfe den Schutz aller oder wenigstens der Mehrheit garantieren kann. Denn Herrschaft beruht auf Anerkennung.

Dem zugrunde liegen ganz konkrete Bedürfnisse der Menschen. Naturwissenschaft betreibt jedenfalls kein l'art pour l'art; sie schaut auf Natur mit ganz bestimmtem Erkenntnisinteresse. Jede neue Technologie ist entstanden, weil sie notwendig geworden war zur Lösung von allgemeinen Problemen. Umgekehrt läßt sich auch sagen, für jedes neu entstehende Problem kann es eine technische Lösung geben. Die Menschen stellen sich nämlich nur Fragen, die sie zur gegebenen Zeit zu lösen auch imstande sind. Es werden nur Technologien entwickelt, die tatsächlich auch benötigt werden. Im Begriff der Notwendigkeit ist die Not enthalten, die gewendet werden soll. Technik unterliegt mithin dem Primat des Nutzens. Aber unter dem Begriff des Nutzens kann genauso das Wohlbefinden aller wie einzelner fallen - wie auch die Kategorie des Profits, die mit Wohlbefinden vereinbar oder auch unvereinbar sein kann. Nutzen ist demzufolge ein schillernder, ein unzureichender Begriff, der sich die Frage nach dem cui bono gefallen lassen muß: Nutzen für wen?

Naturwissenschaft und Technik sind keine neutralen Ansich-Begriffe. Sie fügen sich in das gesellschaftliche Ganze ein und werden bestimmt durch das Vergesellschaftungsprinzip, das vorherrschend ist. Im Kapitalismus haben sie eine dem Kapitalismus dienliche Aufgabe zu erfüllen. Das Primat des von Profit und Verwertung bestimmten Nutzens leitet sie an und macht aus ihnen eine bestimmte, d.h. kapitalistische Naturwissenschaft und Technik. Daß in diesem Zusammenhang sowohl die Natur als auch die Allgemeinheit das Nachsehen haben, liegt zwar auf der Hand, muß jedoch durchaus noch einmal extra erwähnt werden. Die Natur verkommt im kapitalistischen Verwertungssystem vollends zur Ausbeutungsressource, und der profitliche Nutzen kommt wenigen zugute, während allen zunehmend die natürlichen Lebensgrundlagen auf Dauer zerstört werden.

Die Zweckrationalität der Naturwissenschaft und Technik ist längst unter den Kategorien kapitalistischer Ausbeutung entfesselt, verselbständigt und radikal geworden. Die verabsolutierte instrumentelle Vernunft bedroht das Antlitz der Welt und offenbart ihre unermeßlichen Destruktionspotentiale. Theodor W. Adorno beschreibt deshalb den Verlauf der Geschichte als ein Verhängnis, dessen Ausmaß von der Steinschleuder bis zur Megabombe reicht.[3] Walter Benjamin hat für diesen negativen Begriff der Geschichte die Allegorie des angelus novus entworfen; - so heißt ein Bild von Paul Klee, das für Benjamin Inspirationsquelle gewesen ist. Benjamin erkennt auf dem Bild einen melancholischen Engel, der mit aufgerissenen Augen, offenstehendem Mund und ausgespannten Flügeln auf das paradiesische "Antlitz der Vergangenheit" starrt, von dem er sich wegbewegt. Ein Sturm wehe vom Paradiese her, der Wind verfange sich in den Flügeln des Engels, der so stark sei, daß der Engel es nicht vermag, seine Flügel zu schließen. "Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert."[4] Der Sturm treibt den Engel der Geschichte unentwegt voran in die Zukunft, der er verhängnisvoll den Rücken zugewandt hat. "Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm."

Die destruktiven Energien, die der Mensch mit Hilfe der Technik freigesetzt hat, sind aber weder der Natur des Menschens noch der Technik anzulasten. Technik ist genausowenig böse, wie sie gut ist. Es kommt darauf an, wie, von wem und für was sie eingesetzt wird. "Ist es immer noch nötig zu betonen", fragt Herbert Marcuse, "daß nicht die Technologie, nicht die Technik und nicht die Maschine Hebel der Unterdrückung sind, sondern die ihnen innewohnende Gegenwart der Herren, die ihre Zahl, ihre Lebensdauer, ihre Macht, ihren Platz im Leben und das Bedürfnis nach ihnen bestimmt. Ist es immer noch nötig zu wiederholen, daß Wissenschaft und Technologie die großen Vehikel der Befreiung sind und daß es nur ihr Gebrauch und ihre Restriktion in der repressiven Gesellschaft sind, die sie zu einem Vehikel der Herrschaft machen."[5] - Ja, es scheint nötig zu sein, dies immer wieder zu betonen. Denn es ist, als zäumte man das Pferd von hinten auf, wenn man sich bloß fragt, inwiefern Technik die Zukunft der menschlichen Natur sei, ohne den Kontext zu reflektieren, in dem die Technik entwickelt wird und wir mit Natur umgehen. Wir müssen uns auch fragen, wie wir uns eine unbeschwerte Welt und freie Gesellschaft vorstellen, die Gebrauch von der Technik als "Vehikel der Befreiung" macht. Als erstes muß mithin bestimmt werden, was ein würdevolles Leben, was Freiheit ist. In einer restriktiven Gesellschaft können wir jedenfalls nicht verhindern, daß die Technik in die Hände solcher Herren gelangt, die aus ihr eine repressive Technik machen und diese als "Vehikel der Herrschaft" verwenden, um die Vielen daran zu hindern, das unbeschwerte Leben der Wenigen auf Kosten der Vielen, die davon ausgenommen sind, in Frage zu stellen.

Auf den Leib gerückt ist Technik längst. Das allein stellt noch nicht das Problem dar. Technik darf sogar unter die Haut gehen, ohne ein Problem darzustellen. Allein sie darf nicht die "Autonomie" des Menschen untergraben und seine Würde antasten. Das hängt einzig vom Gebrauch der Technik ab. Ein Herzschrittmacher kann das Leben verlängern; ein unter der Haut eingepflanzter Chip zur Überwachung der Mobilität des Menschen wird das Leben schwer machen.

Religiöser Ethik, aus der eine Ablehnung der Technik erfolgt, weil sie einen ungebührlichen Eingriff in Natur oder die Schöpfung darstelle, deshalb gleichsam Blasphemie sei, möchte ich mit einer relativierenden Frage entgegnen: Was ist überhaupt Natur? Jedenfalls ist Natur nicht das, was wir von ihr begrifflich fassen. Oder anders formuliert: Das, was wir als Natur begreifen, ist allenthalben "zweite Natur"; sie ist bereits gesellschaftlich geformte und durch Technik veränderte Natur(-beziehung). Wir können das, was nicht Gesellschaft ist, in Reinform nicht erfassen, weil die Art und Weise, wie wir die Dinge erfassen, bereits gesellschaftlich geprägt ist. Der gesellschaftliche Blick ist nicht ablegbar, und von ihm zu abstrahieren schlechterdings nicht möglich. Der Begriff der Natur ist ihre Aufhebung durch gesellschaftliche Überformung.

Wenn also, dann stellt nicht erst Technik einen Eingriff in die Natur dar, sondern Gesellschaft überhaupt. Wenn die Technik aus Gründen der Blasphemie abzulehnen wäre, dann müßte aus demselben Grund auch das gesellschaftliche Leben abgelehnt werden. Inwiefern allerdings die Verfechter religiöser Ethik konsequenterweise auch dafür plädieren würden, daß wir unsere Städte einreißen und zurück auf die Bäume klettern, wäre noch einmal bei ihnen nachzufragen.

Ein "Zurück zur Natur" kann es nicht geben. Das hatte auch Rousseau nicht im Sinn; er forderte lediglich, daß der Natur des Menschen in der Gesellschaft zu ihrem Recht verholfen wird. Die Natur des Menschen ist bei Rousseau keine naturromantische Kategorie, sondern eine rechtsphilosophische Chiffre für politische Freiheit. Staat und Gesellschaft sollen so eingerichtet werden, daß die positiven, nicht die verwerflichen Eigenschaften des Menschen zur Geltung kommen und in den Dienst des sensus communis gestellt werden.

Der Technik kommt in diesem Zusammenhang ein besonderer Stellenwert zu, der sich mit Sigmund Freuds Kulturtheorie erschließt, die eine Antipode zu Rousseau darstellt. Während für diesen der Mensch von Natur aus gut ist und erst in einer schlechten Gesellschaft verwerflich werde, führt Freud das Destruktivitätsproblem der menschlichen Gemeinschaft auf einen Aggressionstrieb zurück. Gegen Marx wendet Freud ein, daß die Aufhebung des Privateigentums der Destruktion lediglich ein Werkzeug entziehe, aber das Problem dadurch nicht gelöst werde.[6] Denn nicht nur die Herrschaftsverhältnisse machten aus dem Menschen ein aggressives Wesen.

Das Unbewußte und Triebhafte ist für den Begründer der Psychoanalyse eine viel größere Quelle der Aggression. "Wo Es ist, soll Ich werden" ist deshalb die programmatische Formel einer an Kant und Hegel geschulten, psychoanalytischen Aufklärung, die um die dialektische Aufhebung innerer Natur bemüht ist. Indem das Es begriffen wird, wird dessen Platz vom gesellschaftsfähigen Ich eingenommen. "Die Schlüsselfrage der Menschenart scheint mir zu sein", schreibt Freud, "ob und in welchem Maße es ihrer Kulturentwicklung gelingen wird, der Störung des Zusammenlebens durch den menschlichen Aggressions- und Selbstvernichtungstrieb Herr zu werden."[7]

Das Problem der menschlichen Destruktivität im gesellschaftlichen Zusammenleben löse die Menschheit durch Einschränkung ihrer individuellen Glücksmöglichkeiten, um im Gegenzug größere Sicherheit gegen die Willkür der Naturgewalten und der egoistisch handelnden Einzelnen zu erhalten. Wurden die Menschen zunächst primär von der reinen Begierde nach Glück angetrieben, so erwies sich die absolute Freiheit als Wunsch nach uneingeschränkter Befriedigung aller Triebregungen als zu gefährlich für den kollektiven Selbsterhalt der Überlebensgemeinschaft. Darum erfahre das reine Lustprinzip durch die Anforderungen der Realität Einschränkungen. Das Streben nach Glück äußere sich fortan sekundär als Bemühen, Leiden von sich fern zu halten.

Kultur umfaßt bei Freud begrifflich die Gesamtheit menschlicher Verrichtungen und Institutionen, die einerseits das menschliche Leben von der Natur entfremden zum Zwecke des Schutzes vor ihr, andererseits meint der Begriff die Organisierung der menschlichen Beziehungen untereinander: ihre Kanalisierung in Regeln und Gesetzen. Die Entwicklung des Zusammenlebens erfolge in immer größeren Zusammenschlüssen, in denen die willkürliche Macht der Einzelnen, die als rohe Gewalt erscheint, durch das Recht der Allgemeinheit (Gesetze, Kulturgebote) abgelöst wird. Die kulturelle Forderung sei die der Gerechtigkeit vermöge abstrakter und allgemeiner Rechtsgleichheit und der Ausweitung der Rechtsgewalt auf die gesamte Bevölkerung (Demokratie).

Der Freiheitsdrang der Individuen als Ausdruck sozialer und natürlicher Angst vor Willkür fördere den kulturellen Prozeß. Individuelle Freiheit erscheine allerdings nicht als Kulturgut. Freud schreibt, daß die individuelle, absolute Freiheit am größten vor aller Kultur gewesen ist. Während des kulturellen Prozesses habe sie ihre notwendigen Einschränkungen erfahren. Das Ideal der Gerechtigkeit fordere, daß allen Menschen gleichermaßen diese Einschränkungen auferlegt werden sollen. Trotzdem richte sich der individuelle Freiheitsdrang stets gegen die ihm auferlegten Einschränkungen und hin und wieder gegen Kultur überhaupt. Angst der Herrschenden vor dem Aufstand der Unterdrückten sei deshalb verständlich und führe zu strengen Vorsichtsmaßnahmen unter Zuhilfenahme von Wissenschaft und Technik. Die technischen Werkzeuge dienen also nicht nur allgemein zur Steigerung des möglichen Glücks, sondern auch der Herrschaft zur Repression unerlaubten Glücksstrebens, um die Kultur der Herrschenden zu erhalten, d.h. die Vielen von den einzigartigen Glücksmöglichkeiten der Wenigen fernzuhalten.

Der Gebrauch von Werkzeugen, die Zähmung des Feuers (worin laut Freud ein erster Triebverzicht zum Ausdruck kam), sowie der Bau von Wohnstätten führt Freud als erste kulturelle Taten an. Wissenschaftlicher Fortschritt habe zu einer immer wohlfeileren Technik geführt, die als Mittel der menschlichen Gemeinschaft zum Schutz vor der Natur ihren Dienst erweise. Freud erkennt in der Ausbildung immer besserer Werkzeuge einen Wunsch nach Allmacht. Der Mensch vervollkommne durch den Einsatz technischer Mittel seine Organe, die er gleichsam mit Prothesen ausstatte.[8] Für künftige Zeiten prognostizierte Freud, daß die Gottähnlichkeit des Menschen im Zuge des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts noch gewaltig zunehmen würde. Als Prothesengott fühle sich der Mensch dennoch nicht glücklich. Das Leben in der Kultur veranlasse Unbehagen. Da es aber kein Zurück zur Natur geben kann, sei die Menschheit zu ihrem Dasein verurteilt.

Der Wunsch nach Vollkommenheit ist der große Tagtraum der Menschheit. Erst projiziert der Mensch diesen Wunsch auf seine Götter, die vollkommen gemacht werden. Dann aber will der Mensch selbst wie Gott sein. In der Zivilisationsgeschichte erkennen wir das daran, wie die Götter immer menschlichere Züge erhalten, bis im Christentum der Mensch (Jesus) zum Gott wird, dabei aber auch die Fehlbarkeit und Leidenschaft der Menschen repräsentiert. Technik ist das Mittel, die Fehlbarkeiten und Schwächen des Menschen zu kompensieren, gleichsam zu optimieren. Der Wunsch nach einem verlängerten Leben, nach Verstärkung seiner Fähigkeiten und der Kompensation seiner Schwächen vermöge der Technik ist allzu menschlich.[9] In der Utopie der Technik ist der Mensch ein Prothesengott - und dagegen zu sein, ist albern.

Kritisch den Begriff der Optimierung zu hinterfragen, ist allerdings alles andere als albern. Was kann Optimierung unter dem Primat des kapitalistischen Leistungsprinzips im freiheitlichen Sinne bedeuten, da sich der Fortschritt der Technik in diesem Dunstkreis zusehends vom Dienst der Menschheit abkoppelt? Insofern scheint es sehr vernünftig zu sein, nicht nur darauf zu warten, daß sich die Menschheit vom kapitalistischen Leistungsprinzip befreit, sondern auch eine realpolitische Strategie ins Auge zu fassen. Ethische Prinzipien, die sich am Menschen, nicht jedoch an dem vermeintlichen Willen Gottes orientieren, rechtlich im Sinne eines "Artenschutzes" für den Menschen zu verankern, kann eine realpolitische Lösung sein, um sich gegen den Radikalismus posthumanistischer - nicht humanistischer - Vervollkommnungsutopien zu schützen, konkret etwa gegen rassistische Gentechnologie, die im Sinn hat, die vermeintlich gescheiterte Aufklärung im Menschenpark und im Reagenzglas abzulösen.[10] Ein solcher Artenschutz könnte aber nicht gegen das Radikalste schützen. Oder konsequent zu Ende gedachter Artenschutz müßte eine Norm hervorbringen, gegen die der Kapitalismus allgemein verstößt und mithin abzuschaffen wäre.

Die Technik des Kapitalismus ist gleichsam tödlicher als kapitalistische Technik; sie geht in den Körper und in die Psyche des Menschen ein und beraubt ihm seiner Lebendigkeit. Besonders eindrucksvoll ist das in der Arbeitswelt zu erkennen. Für die je spezifische Produktionsweise bedarf es einer je spezifisch konditionierten Arbeitskraft. Mit der fordistischen Arbeitskraft am Fließband entstand ein durch Technik verdinglichtes Individuum. Ähnliches läßt sich im Militär beobachten: Der Mensch wir dort zu einer Kampf- und Tötungsmaschine gedrillt. Verdinglichung ist die Technik des Kapitalismus, aus dem Menschen ein Werkzeug zur Produktion und Destruktion von Werten für den kapitalistischen Stoffwechselkreislauf zu machen. In diesem Kreislauf werden die Menschen total verdinglicht. "Wogegen sie nicht ankönnen, und was sie selber negiert, dazu werden sie selber", schreibt Adorno.[11]

Antonio Negri und Michael Hardt sprechen im Zusammenhang der Maschinisierung der Arbeit von der Produktion des Cyborgs, einer modernen Form von Subjektivität: corps sans organes sind Menschen ohne Eigenschaften. "Die Maschine ist integraler Bestandteil des Subjekts, nicht als Anhängsel, als eine Art Prothese, als eine unter vielen Eigenschaften; das Subjekt ist vielmehr Mensch und Maschine seinem Wesen, seiner Natur nach."[12] - Die Metapher vom Cyborg korrespondiert ebenso mit dem, was Horkheimer und Adorno über das durch die Maschine verdinglichte Denken schreiben: "Denken verdinglicht sich zu einem selbsttätig ablaufenden, automatischen Prozeß, der Maschine nacheifernd, die er selber hervorbringt, damit sie ihn schließlich ersetzen kann."[13]

Während Negri und Hardt allerdings im Cyborg ebenso die "subjektiven Formen der Voraussetzung des Kommunismus in der Gegenwart"[14] erkennen wollen, scheint es der nüchternen Wahrheit näher zu sein, von einer an dieser Stelle beginnenden Aporie der Verdinglichung als dem Ausdruck der Zerstörung von Subjektivität zu sprechen. Gleichwohl ist es ebenso wichtig, auch die positive Seite dieses Vorgangs mitzudenken. Marcuse merkt zu Recht an, daß das Gespenst der Automation "bei Licht gesehen (...) das Gespenst einer möglichen Humanisierung der Arbeit" sein kann, wenn der Mensch dadurch nicht mehr "als Arbeitsinstrument zu funktionieren braucht".[15]

Technik ist mithin nicht die Zukunft der menschlichen Natur. Die Natur des Menschen ist Technik bereits in der Gegenwart und war es auch schon in der Vergangenheit, und es wäre dringend geboten, sich von der repressiven Beziehung zur Technik zu befreien, damit sie als "Vehikel der Befreiung" dienlich sein kann. Nicht Gen-, Nano- oder Biotechnologie sind die wirklichen Steine des Anstoßes, sondern die Frage, wie sie sich in den gesellschaftlichen Fortschritt einfügen, damit dieser sich nicht unentwegt als eine einzige Katastrophe fortsetzt. Allemal gilt es aber auch die aus vorgeschichtlicher Zeit stammende Warnung stets zu beherzigen. Bertolt Brecht hatte sie noch einmal kurz und prägnant zusammengefaßt: "Nur zu hoch nicht hinaus, es geht übel aus ..."

Anmerkungen:

[1] Ovid: Metamorphosen, Zürich/München 1997, 8. Buch, Vers 183ff.

[2] Leonardo da Vinci steht wie kein anderer als Pionier der modernen Wissenschaft. Indem er die Natur nachahmte, machte er viele technische Erfindungen. Er studierte z.B. wie Daidalos den Vogelflug und erfand den Hubschrauber.

[3] Vgl. Theodor W. Adorno: Negative Dialektik, Frankfurt am Main 1966, S. 314.

[4] Walter Benjamin: "Über den Begriff der Geschichte", Schriften Bd. 1, Frankfurt am Main 1955.

[5] Herbert Marcuse: Versuch über die Befreiung, Frankfurt am Main 1969, S. 28.

[6] Vgl. Sigmund Freud: "Das Unbehagen in der Kultur", in: GS, Bd. 9, S. 241f.

[7] Freud, a.a.O., S. 270.

[8] "Mit all seinen Werkzeugen vervollkommnet der Mensch seine Organe - die motorischen wie die sensorischen - oder räumt die Schranken für ihre Leistung weg. Die Motoren stellen ihm riesige Kräfte zur Verfügung, die er wie seine Muskeln in beliebige Richtungen schicken kann (...). Mit der Brille korrigiert er die Mängel der Linse in seinem Auge (...), mit dem Mikroskop überwindet er die Grenzen der Sichtbarkeit, die durch den Bau seiner Netzhaut abgesteckt werden (...)." - Freud, a.a.O., S. 221.

[9] "Wir werden die Natur nie vollkommen beherrschen, unser Organismus, selbst ein Stück dieser Natur, wird immer ein vergängliches, in Anpassung und Leistung beschränktes Gebilde bleiben." - Freud, a.a.O., S. 217.

[10] Ist es ein Dienst am Menschen, wenn mit Hilfe der Gentechnologie gesellschaftlich bedingte Krankheiten, etwa die Depression, bekämpft werden, statt Gesellschaft derart vernünftig einzurichten, daß in ihr niemand mehr depressiv werden muß?

[11] Adorno: Negative Dialektik, a.a.O., S. 337.

[12] Antonio Negri / Michael Hardt: Die Arbeit des Dionysos. Materialistische Staatskritik in der Postmoderne (1994), Berlin 1997, S. 19.

[13] Max Horkheimer / Th. W. Adorno: Dialektik der Aufklärung, Frankfurt am Main 1988, S. 31.

[14] Negri / Hardt, a.a.O., S. 19; vgl. auch ebd., S. 143.

[15] Herbert Marcuse: "Aggressivität in der gegenwärtigen Industriegesellschaft", in: H. Marcuse, A. Rapoport, K. Horn u.a.: Aggression und Anpassung in der Industriegesellschaft, Frankfurt am Main 1968, S. 22.

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sopos 10/2006