Zum ersten Mal seit 1965 fanden Ende Juli in der Demokratischen Republik Kongo Präsidentschafts- und Parlamentswahlen statt. Unter den Augen zahlreicher Wahlbeobachter und unter der Kontrolle von 20.000 UN-Blauhelmen sowie 2.000 EUFOR-Soldaten (darunter 800 von der Bundeswehr) waren 26 Millionen registrierte Wahlberechtigte an die Urnen gerufen. Der Wahltag verlief weitgehend friedlich, trotz vorangegangener Ausschreitungen von Anhängern der größten Oppositionspartei UDPS. Deren Führer Etienne Tshisekedi hatte zum Wahlboykott aufgerufen, obwohl allein die UDPS eine ernsthafte Konkurrenz zur PPRD von Präsident Joseph Kabila gewesen wäre.
Als aussichtsreichste Kandidaten gelten Amtsinhaber Kabila sowie der Vizepräsident und einstige ‚Rebellenführer' Jean-Pierre Bemba. Ihnen wird im Gegensatz zu den 31 anderen Kandidaten zugetraut, sich für eine eventuelle Stichwahl im Herbst zu qualifizieren. Für die Parlamentswahl werden aufgrund der vielen technischen Hindernisse bei der Auszählung erst nach und nach Ergebnisse erwartet. Inwieweit sie von den verschiedenen Parteien anerkannt werden, ist derzeit unklar.
Daß die Wahlen stattfanden, ist vor allem ein Ergebnis des großen internationalen Drucks auf die ehemaligen Bürgerkriegsparteien und Warlords, die regionale Lösungen bevorzugt hätten. Die nationalen Wahlen sind ein wichtiger Bestandteil des zentralstaatlichen Modells und der Konsensdemokratie, die von der UNO für die DR Kongo angestrebt werden. Um maximale Zustimmung zu erreichen, wurden die Warlords an der bisherigen Übergangsregierung beteiligt. Dies führte zwar außer im Osten des Landes, wo noch heute Krieg herrscht, zu einer gewissen Befriedung, birgt aber weiterhin die Gefahr, daß die regionalen Kriegsfürsten ihre Macht zu Lasten der Bevölkerung mißbrauchen. Demokratische Strukturen sind jedenfalls trotz der ersten freien Wahlen nicht in Sicht.
Das Sun-City Agreement von 2003[1] versprach allen kongolesischen Warlords einen Posten in der Regierung, solange sie bereit waren, Joseph Kabila als Staatspräsident anzuerkennen. So können sich seit Anfang 2004 eine Reihe von ihnen mit dem Titel "Vizepräsident" oder "Minister" schmücken. Einzig die seit Jahren in der Opposition befindlichen Gruppen der Mai-Mai und Simba und die verschiedenen ausländischen Interventionsgruppen (Interhamwe, LRA etc) erkennen bis heute die Regierung Kabila nicht an.
Ist diese neue Staatlichkeit nun eine Errungenschaft - da sie die offenen Konflikte zwischen mehr oder weniger regulären Armeen der Warlords und ihrer unabhängigen Republiken reduziert? Oder ist sie eher ein Hemmnis - da sie es erschwert, zwischen den Parteien zu trennen und die etwas Besseren in einer Auseinandersetzung gegen die etwas Schlechteren zu fördern? Es geht nicht nur um die Frage nach Zentralstaatlichkeit oder Föderalismus. Es geht auch um politische Modelle, also darum, ob es unterschiedliche politische Parteien geben kann, oder ob die Konsensdemokratie sich durchsetzt, wie sie die UNO favorisiert. Und weil die UNO im Kongo aktiv ist, steht sie selbst (mit) auf dem Prüfstand.
Für die Bevölkerung hat sich in den ersten Jahren nach der Rückkehr zum Zentralstaat recht wenig geändert, da die Konfliktparteien dafür Sorge getragen haben, daß "ihre Regionen" auch unter der Zentralregierung Kabila unter ihrer Kontrolle blieben. Dort können sie nun - international als offizielle Regierung legitimiert - noch freier schalten und walten als zuvor, da sie jede Kritik mit der Drohung niederwalzen, aus der Regierung auszutreten. So kann der Warlord Jean-Pierre Bemba noch immer frei herumreisen und fröhlich Lesungen aus seinem Buch "Die Wahl der Freiheit" veranstalten, obwohl sowohl seine Verstrickung in die kannibalischen Übergriffe auf die Mbuti als auch die Kriegsverbrechen in der Zentralafrikanischen Republik und im Osten des Kongo von den UN nachgewiesen wurden. Der Internationale Strafgerichtshof sowie die belgische Justiz sähen ihn gerne hinter Gittern.
Die Teilhabe an der nationalen Macht sichert und legitimiert zum einen also den Herrschaftsanspruch der Warlords. Zum anderen reduziert sie jedoch auch deren konkreten Einfluß, da sie sich als Teil der Allparteienregierung auch Entscheidungen unterwerfen müssen, die ihnen nicht passen. Sie werden so in der Wahrnehmung der Bevölkerung von Föderalisten zu Verfechtern des Zentralstaats. Deswegen fehlt ihnen, wenn sie die Regierung nach diesem oder jenem Konflikt verlassen, die notwendige Legitimität, um sich wieder als unabhängige absolute Provinzfürsten einzusetzen. So geht die Bevölkerung davon aus, daß der einstige Premierminister Etienne Tshisekedi[2] sich Mitte Juli 2006 aus der Regierung zurückzog und zum Wahlboykott aufrief, weil er keine Chance hat, die Wahlen zu gewinnen, und nicht - wie von ihm und seiner Partei behauptet - weil die Unabhängigkeit und Föderalität durch die Wahl gefährdet sei. Tshisekedi wäre heute nicht aus dem Spiel, wäre er 2003 nicht der Übergangsregierung beigetreten. Der Wahlboykott von Tshisekedi und seiner Truppe wird jedoch wenig daran ändern, daß der Gewinner der Wahlen es sich nicht wird leisten können, einen so wichtigen Warlord vor den Kopf zu stoßen und seiner Ämter zu berauben.
Während die EU und viele bilaterale westliche Geber durch die Wahlen die Unterstützung ihres Favoriten Kabila legitimieren wollen, verfolgt die UNO die Strategie, alle Warlords durch ihre Einbindung in die Regierung nach und nach auf eine gemeinsame Linie und damit unter Kontrolle zu bringen. Niemand zweifelt daran, daß zentrale Entscheidungen durch die Gebergemeinschaft - und hier vor allem die Weltbank - vorbereitet und damit letztlich getroffen werden, denn das Interesse der Konfliktparteien an Strategiepapieren, Gesetzen und Erlässen könnte geringer kaum sein. Dieses Desinteresse ist zum einen berechtigt, da der durch Gesetze und Erlasse geschaffene formale Rahmen wohl nirgendwo weniger respektiert wird als im Kongo. Zum anderen ist es etwas fahrlässig, denn letztlich ist jedes Gesetz und jeder Erlaß, der von den Warlords mitgetragen wird, ein weiterer Nasenring, durch den die internationale Gemeinschaft sie "zivilisieren" will.
Eine unmittelbare Folge der UNO-Strategie war die Bündelung der Konflikte in Kinshasa. Wurden 2002 Entscheidungen noch in Provinzstädten wie Mbandaka, Kisangani, Bafasende, Mbuij-Mayi und Lubumbashi getroffen, sitzen heute alle Konfliktparteien in Kinshasa und streiten dort um die Macht. Dies hat zwar den ökonomischen Druck auf die ländliche Bevölkerung reduziert, da die Erpressung von Steuern und anderen Abgaben Stellvertretern übertragen wurde, deren Rolle nach Abzug der Truppen recht schwach ist. Andererseits aber hat diese Entwicklung die lokalen Probleme aus dem Blickfeld der Entscheidungsträger und ihrer internationalen Partner gerückt. Während die 2003/2004 vereinbarten Entwicklungsprogramme noch darauf zielten, die Lebensbedingungen der Menschen in den Provinzen konkret zu verbessern, orientiert sich die aktuelle Debatte auf nationale Sektorprogramme, die dann von den Sektorministerien umgesetzt werden sollen, obwohl allen Beteiligten klar ist, daß sie dazu weder in der Lage noch willens sind.
Die Frage ist, ob sich die Bevölkerung nun wirklich stärker in den Entscheidungsfindungsprozeß einbringen kann und so - wenn auch nachträglich - den Staat als Interessensvertretung seiner Bevölkerung in Wert setzt, oder ob die Politik im Kongo wieder zu jenem der Welt entrückten Theater wird, das Mobuto in Szene zu setzen verstand.
Der Kongo steht derzeit wirklich an jenem Scheideweg, von dem so viel die Rede ist. Das Tragische dabei ist, daß sich die Debatte um die Zukunft ohne kongolesische Beteiligung in den Fluren der Geber und der von ihnen bezahlten Consulting-Büros abspielt. Während deren Experten beispielsweise im Forstsektor (siehe Kasten) im klassischen Top-Down-Ansatz auf das Kriterium der Legalität setzten - die Zahlung von Steuern, die konzessionierte Einrichtung eines Sägewerks und die Respektierung von Grenzen, die meist nicht schriftlich fixiert sind -, bedurfte es erheblichen Drucks innerhalb der Gebergemeinschaft, um durchzusetzen, dass auch soziale Kriterien und insbesondere die Teilung der Gewinne mit der Bevölkerung ein wichtiges Kriterium für den Konversionsprozeß sein sollen. Als gar vorgeschlagen wurde, daß die Bevölkerung und sogar die Indigenen (Mbuti, Twa, Cwa und Aka) vor der Umwandlung informiert und in den Entscheidungsfindungsprozeß einzubinden seien, waren Teile der Expertenwelt not amused.
Am Ende werden es wohl Kabila und seine Truppe sein, die darüber entscheiden, ob der Kongo sich in eine demokratische und dezentrale Richtung entwickelt, oder ob er wie die Nachbarländer zu einer Scheindemokratie wird. Diese sind zwar für die Geber leichter zu kontrollieren, jedoch kaum in der Lage noch willens, die Lebensbedingungen der Menschen zu verbessern. Bislang jedenfalls hat es die UNO nicht geschafft, mittels ihres Teile-und-Herrsche-Ansatzes die strukturellen Voraussetzungen zu schaffen, daß die erklärten Ziele Armutsminderung und Good Governance in Angriff genommen werden können. Jedoch besteht nach wie vor die Chance, daß der progressive Strukturwandel gelingt. Noch ist im Kongo nicht alles verloren.
[1] Am 17. 12. 2002 unterzeichneten die wichtigsten Rebellenbewegungen mit der Regierung ein Friedensabkommen, das unter anderem die Beteiligung der Rebellengruppen an einer neuen Übergangsregierung der nationalen Einheit sowie bis Ende 2004 Wahlen vorsah; bis zu diesem Zeitpunkt soll J. Kabila als Staatspräsident im Amt bleiben. Diese Regelungen wurden am 2.4.2003 im südafrikanischen Sun City in einem weiteren Vertrag bekräftigt. Außerdem einigten sich die am Konflikt Beteiligten auf eine neue Verfassung und die Integration der Rebellen in eine neu aufzubauende Armee.
[2] Tshisekedi, der nach der Unabhängigkeit zunächst von Mobutu zum Justizminister ernannt worden war, hatte sich schon damals der Sezessionsbewegung in seiner Heimatprovinz Katanga angeschlossen. Noch während der Dekolonisierung hatte Moïse Tshombé 1960 die Unabhängigkeit Katangas ausgerufen. Die UNO hatte 1963 das damalige Elisabethville besetzt und beendete die Unabhängigkeit mit militärischen Mitteln. Doch auch in der Folge gab es immer wieder Unabhängigkeitsbewegungen in der rohstoffreichen Provinz im Südosten.
Kai Schmidt-Soltau ist unabhängiger Gutachter in der internationalen Entwicklungszusammenarbeit und lebt seit 1996 in Zentralafrika. In den vergangenen Jahren bereiste er mehrfach den Kongo (mehr Texte unter www.schmidt-soltau.de).
Dieser Beitrag erschien zuerst in der Zeitschrift informationszentrum 3. welt (iz3w), Nr. 295.
Naturschutz à la KfW und Weltbank
Naturschutz, Holzwirtschaft oder Landwirtschaft haben zwar das Potential, die ländliche "Armut" im Kongo zu mindern. Jedoch entfalten sich diese Potentiale nicht zwangsläufig. Häufig ist sogar genau das Gegenteil der Fall. Ein Beispiel dafür ist die von der Bundesrepublik via KfW (Kreditanstalt für Wiederaufbau) und GTZ (Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit) geförderte Ausweitung der Naturschutzgebiete im Kongo. Es besteht die Gefahr, daß dabei 3,5 Millionen Menschen, die derzeit noch in diesen Gebieten leben, vertrieben werden, da die Naturschutzgesetze keine Siedlungen in Nationalparks zulassen. So werden zurzeit mit tatkräftiger Unterstützung des WWF 180.000 Menschen aus dem Virunga-Nationalpark vertrieben, obwohl der ökologische Nutzen dieser Entscheidung fraglich ist. Eine Regierungsstudie geht davon aus, daß weitere 13,5 Millionen Menschen negativ vom Naturschutz beeinflußt werden, da die neuen Schutzgebiete ihren Zugang zu natürlichen Ressourcen begrenzen werden.
Da die Bevölkerung ihre dadurch bedingte Verarmung nicht widerstandslos hinnimmt und unbewaffnete Parkwächter in die Flucht schlägt, finanziert Deutschland den Kauf von Waffen, um diese menschenverachtenden Gesetze umzusetzen. Und dabei gibt sich das neue KfW-Naturschutzprogramm auch noch sozialverträglich - geadelt durch das "unabhängige Gutachten" eines WWF-Funktionärs.
Bislang manifestiert sich ländliche Armut im Kongo nicht durch verhungernde Kinder. Jedoch fristen viele Menschen ein Leben außerhalb der Markt- und Geldwirtschaft und haben keinen Zugang zu lebenswichtigen Waren und Dienstleistungen. In der Wahrnehmung der Weltbank und der anderen Geber sollten die 2003/2004 vereinbarten Programme (PMURR & PUSPRES) diese Armut durch die Schaffung von lokalen Märkten überwinden. Straßen sollten wiederhergestellt werden, um ländliche Räume und städtische Märkte zusammenzubringen, und dezentrale Verwaltungseinheiten in die Lage versetzt werden, einen regen Warenaustausch zum gegenseitigen Nutzen aufzubauen.
Seit 2005 hat sich der Schwerpunkt auf nationale Programme und Prozesse verschoben, und so steht nicht länger die Rehabilitierung der Infrastruktur im Mittelpunkt des Interesses, sondern die Frage, wie der Code forestier oder die Armutsminderungsstrategie umgesetzt werden sollen. Der Code forestier ist ein recht progressives Gesetzespaket, das die Erfahrung der sozialverträglichen Nutzung der natürlichen Ressourcen in der Region aufnimmt. Er versucht ländliche Armut mittels vierer Wirkungsketten zu mindern: a) 40 Prozent der Steuereinnahmen aus der Holzwirtschaft gehen an die dezentralen Verwaltungen und sollen ausschließlich für Entwicklungsprojekte verwendet werden; b) die Holzfäller dürfen nur tätig werden, wenn die lokale Bevölkerung diesem zustimmt. Daraus folgt, daß die Firmen und die lokale Bevölkerung separate Verträge schließen, in denen die Holzfirmen soziale Leistungen wie Schulen, Gesundheitszentren, Brunnen etc. verbindlich zusagen; c) es besteht die Möglichkeit, daß die lokale Bevölkerung mittels Gemeindewälder selbst die natürlichen Ressourcen ausbeutet; und d) wenn sie dies nicht tut, hat sie in jedem Fall das verbriefte Recht, die natürlichen Ressourcen für die Subsistenz und die lokale Vermarktung zu nutzen. Dieses Gesetzeswerk ist jedoch außerhalb von Kinshasa mehr oder weniger unbekannt und hat kaum Einfluß auf das Leben der Menschen.
Das Nebeneinander von Realität und Planungsebene erreicht potemkinsches Ausmaß, wenn darüber philosophiert wird, wie mit den 156 existierenden Holzeinschlagskonzessionen zu verfahren sei. Allen Beteiligten ist klar, daß viele dieser Konzessionen - wenn nicht sogar alle - nicht die von Code forestier eingeforderten Standards erfüllen und ihre Inhaber mehr oder weniger illegal ihrem Gewerbe nachgehen. Nur 40 der 156 haben ihre Steuern bezahlt, und vermutlich sind maximal 50 wirklich operationell, da die extrem schlechte Infrastruktur die Transportpreise in die Höhe getrieben hat und viele Konzessionen mehr oder weniger Spekulationsobjekte sind.
Da die westlichen Entscheidungsträger davon ausgehen, daß der Code forestier respektiert wird und daß Holzfirmen, die keine neue Lizenz erhalten, ohne Widerstand die Kettensäge fallenlassen, entschieden sie sich ohne Einbeziehung der Bevölkerung für ein schnelles Verfahren, da dies in deren Interesse sei. Also alles wie gehabt und unter Mobuto tausendfach exerziert: Einige handselektierte Dorfchefs ohne jegliche Legitimierung oder Verbindung zu den Dörfern "repräsentieren" die Bevölkerung auf den Meetings in Kinshasa und geben dem Ganzen den folkloristischen Hauch einer wahren Demokratie.
Jedoch scheint es so, als hätte eine Gruppe von progressiven Akteuren innerhalb der Gebergemeinschaft dies in letzter Sekunde abwenden können. Zumindest wurden Strukturen und Prozesse entwickelt, um die lokale Bevölkerung stärker einbeziehen und so soziale Mindeststandards garantieren zu können. Diese Möglichkeiten können die Entscheidungsträger im In- und Ausland nun ergreifen. Das Problem ist: Sie müssen es nicht.
Kai Schmidt-Soltau
https://sopos.org/aufsaetze/453d4fe8a8974/1.phtml
sopos 10/2006