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Selbstaufklärung im sozialistischen Sinne

Zum Erscheinen des ersten Bandes der gesammelten Werke Wolfgang Abendroths

von Gregor Kritidis (sopos)

In Zeiten, in denen es darauf ankommt, mit den Herrschenden französisch zu sprechen, ist es lohnend, sich mit denjenigen Theoretikern der Arbeiterbewegung auseinanderzusetzen, die über diese Fähigkeiten verfügten. Wolfgang Abendroth war einer von ihnen. Tief in den Traditionen der demokratischen sozialen Bewegungen in Deutschland verankert, bezog er sich gleichermaßen auf die deutsche wie auf die internationale Arbeiterbewegung. Kaum jemand ist mit seiner Person und seinem Werk so sehr in die politischen und sozialen Emanzipationskämpfe in Deutschland verwickelt wie Abendroth. Sich der von ihm repräsentierten Tradition zu vergewissern, stellt eine wichtige Aufgabe für all diejenigen dar, die eine andere Welt möglich machen wollen.

Rechtzeitig zum 100. Geburtstag ist nun der erste Band der gesammelten Schriften Abendroths erschienen.[1] Dieser Band umfaßt Aufsätze von 1926 bis 1948, die in ihrer geistigen Frische durchaus als Kommentare zu gegenwärtigen Zeitfragen gelesen werden können. Da kritisiert etwa der 21jährige Abendroth 1927 in "Religion und Sozialismus" nicht nur den geistigen Immobilismus der sozialistischen Bewegung in Bezug auf die religiös-sozialistischen Strömungen, sondern unbekümmert gleich auch Lenins atheistische Position als ahistorisch und undialektisch. Seinen Kritikern hält er entgegen, daß es weniger auf den ideologischen Ausdruck, sondern auf die emanzipative Grundorientierung im Klassenkampf ankomme, und sie selbst den Atheismus zu einer Religion dogmatisierten: "Um nicht unnütz Raum zu verschwenden, werde ich nur auf die wirklichen Argumente, nicht auf die Glaubensbekundungen des Unglaubens meiner Kritiker eingehen."[2] Beim angehenden Juristen Abendroth zählt die Schlüssigkeit der Argumentation, und so fordert er sich und seine Mitstreiter in der Debatte dazu auf, daß Diskutieren gemeinsam zu lernen. "Abendroth", schreiben einleitend die Herausgeber des Bandes, "hatte schon als Jugendlicher starke rationalistische Tendenzen: Er glaubte an die Überzeugungskraft des Arguments und die Bereitschaft zur Selbstaufklärung."[3] In der Tat vertritt Abendroth eine Art Utopie demokratischer Öffentlichkeit. Aber er ist realistisch genug, um zu wissen, daß diese Öffentlichkeit ganz im Sinne Rosa Luxemburgs eine proletarische Öffentlichkeit sein muß, in der unterschiedliche Positionen im Interesse des gemeinsamen Klassenkampfes gegen die Herrschenden aufgelöst werden können. Diese demokratisch-sozialistische Konzeption kann angesichts der heutigen gesellschaftlichen Strukturprobleme höchste Aktualität für sich beanspruchen.

Abendroths Grundorientierungen, das weisen die Herausgeber schlüssig nach, haben einen biographischen Hintergrund: Als sich die Arbeiterbewegung an der Kriegsfrage spaltet, bleibt der Diskussionszusammenhang innerhalb der Familie trotz divergierender Parteizugehörigkeiten bestehen. Abendroth, der sich mit seiner älteren Schwester Ilse der kommunistischen Bewegung anschließt, entwickelt sich zu einem eigenständigen marxistischen Denker, dem die Parteiarbeit im engeren Sinne als Aktionsfeld schnell zu eng wird. Der Schwenk der KPD zu ultralinken Positionen zwingt Abendroth, den Schwerpunkt seiner Arbeit auf die Freie Vereinigung Sozialistischer Studenten (FVSS) und den Bund der Freien Sozialistischen Jugend zu verlegen (BFSJ). Dieser Bund, der seine Wurzeln in der Jugendbewegung vor dem Ersten Weltkrieg hat, will deren Reste sammeln, "um gemeinsam mit der unterdrückten Arbeiterklasse zu kämpfen für eine neue Gesellschaft und eine neue Kultur, die die Jugend von jeder Unterdrückung befreit."[4] Diese Frontstellung gegen die sich verengende Dogmatik der Parteien erlaubt die Entfaltung von offenen Debatten, an denen sich Abendroth eifrig beteiligt und die er als eine Grundvoraussetzung für eine klassenbezogene Einheitsfrontpolitik sieht. "Die aufklärende Kritik richtet sich an die Arbeiter nicht als Objekt von engen Parteiinteressen, sondern an lernfähige Subjekte, die in die Lage gesetzt werden sollen, durch Erkenntnis ihrer Interessen sich in der umwälzenden Klassenpolitik zu aktivieren. Nicht ‚ultralinke' abstrakte Agitation soll die Veränderung des immer noch reformistischen Bewußtseins der Mehrheit der Arbeiter bewirken, sondern das argumentativ nachvollziehbare Angebot zur Aktionseinheit, die grundsätzlich neue praktische Erfahrungshorizonte eröffnet."[5]

Wie groß Abendroths geistige Unabhängigkeit von fraktionellen Fixierungen ist, zeigt der Umstand, daß er zwar mit der KPD-Rechten um Brandler und Thalheimer als Rechtsabweichler ausgeschlossen wird, sich in der Kritik an der Sowjetunion aber an der Gruppe Kommunistische Politik um Karl Korsch orientiert, deren innenpolitische Positionen er andererseits scharf kritisiert.

Trotz des Sieges des Faschismus' gibt Abendroth, dessen juristische Laufbahn eine jähe Unterbrechung erfährt und der den Terror der Gestapo am eigenen Leib zu spüren bekommt, rechtliches Denken nicht preis. "Noch in der Kritik daran, daß die Normen zur Herrschaftssicherung ‚zerfetzt' werden, behalten juristische Kategorien ihr analytisches Gewicht."[6] Dieses Festhalten an juristisch-demokratischen Grundkategorien immunisiert ihn gegen Illusionen in den Stalinismus, der trotz der Moskauer Prozesse viele Intellektuelle erliegen. Nach seiner Desertion aus dem Strafbatallion 999 zu den griechischen Partisanen zieht er die britische Kriegsgefangenschaft dem Weg nach Bulgarien und damit in den sowjetischen Einflußbereich vor.

Es sind berufliche Gründe, die Abendroth, mittlerweile SPD-Mitglied, 1946 in die sowjetische Besatzungszone führen. Trotz einer steilen Karriere läßt er sich nicht für eine Legitimierung der Stalinisierungsprozesse vereinnahmen. Angesichts der zunehmenden Einschränkung demokratischer Grundrechte sieht er sich 1948 zur Flucht nach Westdeutschland gezwungen. In einem Brief an seine ehemalige Vorgesetzte, die Ministerin für Volksbildung in Thüringen, begründet er diesen Schritt, ohne sich von den grundlegenden Intentionen der Oktoberrevolution zu distanzieren. Der Bedeutung dieses Dokuments für die Positionierung Abendroths jenseits der vorherrschenden politisch-sozialen Tendenzen haben die Herausgeber Rechnung getragen und es an das Ende ihrer Einleitung gestellt.

Mit diesem ersten Band haben die Herausgeber nicht nur die weitgehend unzugänglichen Frühschriften Abendroths zugänglich gemacht. Auf Basis ihrer sehr prägnanten Einleitung und dem ausführlichen, gerade für jüngere Leser sehr hilfreichen Anmerkungsapparat ist es möglich, zeitbedingte Bezüge zu verstehen und die Texte in den historischen Kontext einzuordnen. Hier wird das Interesse der Herausgeber, die selbst Abendroth-Schüler sind, deutlich, ihrem wissenschaftlichen Lehrer kein akademisches Denkmal zu setzen, sondern zur kritischen Aneignung und Weitervermittlung der demokratisch-sozialistischen Traditionen in Deutschland beizutragen. Das wäre vermutlich ganz im Sinne des Wissenschaftlers und Aktivisten der Arbeiterbewegung Wolfgang Abendroth gewesen.

Wolfgang Abendroth: Gesammelte Schriften. Bd. 1, hrsg. von Michael Buckmiller, Joachim Perels und Uli Schöler, Hannover: Offizin-Verlag 2006ff.

Anmerkungen:

[1] Wolfgang Abendroth. Gesammelte Schriften. Bd. 1 Hrsg. von Michael Buckmiller, Joachim Perels und Uli Schöler. Hannover 2006ff.

[2] Religion und Sozialismus. Antikritik. Ebd. S. 85-87.

[3] Einleitung der Herausgeber. Ebd. S. 14.

[4] Aufruf des BFSJ. Zitiert nach Ebd. S. 13.

[5] Einleitung. S. 18.

[6] Einleitung. S. 22.

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sopos 10/2006