von Torben Ehlers
Es gibt keinen Frieden in Chiapas! Die sozialen und politischen Probleme waren noch nie so schwerwiegend, die wirtschaftliche Not so repressiv, die Gewalt so intensiv und das Überleben der indigenen Bevölkerung so ungesichert und unbeachtet wie heute. Die Ursachen haben sich nur verlagert und gestalten sich heute gravierender und komplizierter als jemals zuvor. Chiapas hat keine Zukunft.
Das "Massaker von Acteal" im Landkreis von Chenalhó am Weihnachtsvorabend des 22. Dezembers 1997 stellt nur den bislang tragischsten Höhepunkt in der Zeit nach dem bewaffneten Aufstand der Zapatisten (1.1. bis 15.1. 1994) in Chiapas dar. Neun Männer, 21 Frauen und 15 Kinder wurden teils von den eigenen Familienangehörigen getötet, 26 weitere Personen verletzt. Anhänger der damaligen lokalen, gegen die zapatistischen Sympathisanten vorgehenden, politischen Opposition (der PRI: "Partei der institutionalisierten Revolution") nannten bei späteren Verhören die ohne Vorwarnung mit großkalibrigen Waffen vollstreckte Massakrierung wehrloser Bewohner des Weilers El Naranjo bei Acteal "Teil der Aufstandsbekämpfung" gegen die Zapatistische Armee der nationalen Befreiung (EZLN). Eine 40 Mann starke Polizeieinheit befand sich nur 200 Meter vom Ort des Geschehens entfernt, meinte jedoch nicht eingreifen zu müssen. Nichts war davon in den Medien zu vernehmen. Chiapas ist zurückgekehrt in die öffentliche Vergessenheit, aus der es wenige Monate im Jahre 1994 aufgetaucht war.
Ausgangspunkt für dieses Massaker war der Streit über einen Bürgermeisterposten sowie die Nutzung einer Kiesgrube zwischen zwei benachbarten Gemeinden.[1] In der Folge dieses sich flächenbrandartig ausbreitenden Konfliktes mußten tausende Familien aus dem Landkreis ihre Ländereien und Wohnungsstätten verlassen - viele hunderte Menschen wurden umgebracht. Es zeigt die soziale Polarisierung faktionalistischer Konflikte, welche die indigenen Gemeinden von Chiapas durch den Kampf um die Kontrolle von Menschen, Ressourcen (wie Land oder Wasser), Macht und Status seit 1994 mehr und mehr spalten. Die Faktionen, das sind politische Gruppierungen mit heterogener Mitgliedschaft, wie sie erst in Konfliktsituationen entstehen und sich über unterschiedliche Prinzipien wie Freundschaft, Verwandtschaft, Verschuldung oder Abhängigkeitssituationen herauskristallisieren und sich in ihrer Struktur mehr ähneln, als daß es sich hierbei um Angehörige unterschiedlicher Klassen oder Schichten handelt. Sie kämpfen dabei vornehmlich auf der lokalen, von der Außenwelt meist unbeachteten Ebene,[2] so zum Beispiel Landlose, Kleinbauern, Lastwagenbesitzer, Lehrer, etc.
Solche faktionalistischen Konflikte sind in der Geschichte von Chiapas nicht neu. Sie traten periodisch immer auf - gerade in wirtschaftspolitischen Krisenzeiten, von denen es im ärmsten Bundesstaat Mexikos genug gab. Die Situation hat sich jedoch seit dem Verfall des Weltmarktpreises für Kaffee seit 1989 - eines der Hauptanbauprodukte in Chiapas -, der Agrarreform 1992 - die es jungen Männern praktisch unmöglich macht, Land zu erwerben -, dem Eintritt Mexikos in die NAFTA (Gründung am 1. Januar 1994), dem Aufstand der Zapatisten 1994, dem in einigen Regionen bis auf sieben Prozent angestiegenen Bevölkerungswachstums (was alle zwanzig Jahre zur Verdoppelung der Bevölkerung führt, ohne daß mehr Nutzland zur Verfügung steht), der massenhaften Verbreitung von automatischen Waffen (auf Seiten der EZLN wie auch auf der Seite der PRI-nahen Sympathisanten) und den immer stärker auftretenden "weißen Garden" (von Großgrundbesitzern finanzierte Paramilitärs) so verschärft wie noch nie zuvor. Um nicht große Auslandsinvestoren zu verschrecken, aus Angst vor einer erneuten Schwächung der mexikanischen Währung und um bei kommenden Wahlen nicht ins Abseits zu geraten, wird mediales Stillschweigen verschrieben.
Während sich die Grenzen seit dem zapatistischen Aufstand zwischen Befürwortern der EZLN und Sympathisanten der PRI weiter verhärten (wobei diese Identifikation auf lokaler Ebene nicht als dauerhaft, sondern durchaus als wechselhaft verstanden werden muß - je nach konkreten Überlebensproblemen und Interessenkonflikten), verschärft der Staat als aktive Konfliktpartei die Lage vor Ort gegen die EZLN entscheidend mit. Der Staat ist nicht neutral, sondern vergibt "Entwicklungshilfe" über eigeninteressenspezifische Kategorien wie zum Beispiel Staatstreue und regionale Parteizugehörigkeit (so im Falle der Regierungszeit von Präsident V. Fox in den Jahren 2000 bis 2006, in welcher die PRI sowohl auf Bundesebene als auch in Chiapas die Macht per "freier" Wahl zum ersten Mal seit 80 Jahren verlor und die Mitglieder per Ressourceneinbindung versuchte zu halten).
Die Probleme, wie sie vor 1994 noch bestanden, haben sich mit dem Auftreten der Zapatisten entscheidend verändert. Der Kampf in Chiapas findet nun mehr und mehr innerhalb der indigenen Kommunen und Gemeinden statt. Durch das Auftreten der EZLN ist eine neue Bewegung auf der politischen Bühne präsent, die es tragischerweise nicht verstanden hat, sich mit zukunftsadäquaten Lösungsmechanismen für die komplizierte Situation in Chiapas nach der Revolte zu beschäftigen.
Die EZLN wollte mit ihrem Aufstand im Januar 1994 definitiv eine Revolution in ganz Mexiko beginnen, die, wenn sie scheitern sollte, die Vernichtung der Kämpfer und somit der Bewegung durch das mexikanische Militär und den Staatsapparat zur Folge gehabt hätte. Subkommandante Markos erklärte selbst in Interviews und mehreren Veröffentlichungen, daß es für die Zeit nach dem Aufstand keine Lösungswege gegeben habe: Revolution oder gemeinsam sterben im Kampf.
Daß große Teile der mexikanischen Gesellschaft - mit allein über mehr als 300.000 Sympathisanten nur in Mexiko-Stadt - in nur drei Tagen des Januars 1994 (abgesehen von den Ängsten der Regierung gegenüber dem Druck aus dem investitionsbereiten Ausland) soviel öffentlichen Druck ausüben könnten, stand schlichtweg nicht in der Planung der Führung der 5000-köpfigen EZLN-Aufständischen, die sich am Neujahresmorgen desselben Jahres aufmachten, um fünf Hochlandgemeinden von Chiapas einzunehmen, um die Welt auf die unbeschreiblichen Mißstände von Chiapas aufmerksam zu machen.[3] Seither ist die EZLN von befreiungstheologischen (maoistisch-leninistischen) Ansprüchen über nationale Forderungen (Demokratisierung durch Abkehr vom Neoliberalismus) bis hin zu regionalen, indigenen Ansprüchen mehr und mehr ins politische und mediale Abseits gedrängt worden, ohne Pläne für die weitere Vorgehensweise zu haben. Leidtragende sind die Bewohner des Hochlandes und der Lakadonischen Regenwälder an der Grenze zu Guatemala, die erst seit den 60'er Jahren zögerlich besiedelt wurden, und in welchen der Staat bis heute keine wirkliche Verfügungsgewalt geltend machen kann, jedoch durch außerstaatliche bewaffnete Kräfte versucht, die Kontrolle zu erobern.
Die EZLN hat im Laufe der letzten zwölf Jahre nur geringe Erfolge für sich verbuchen können: So setzt sie sich für eine Stärkung der Rechte von Frauen und deren Partizipation im öffentlichen Gemeindewesen ein (vgl. die "revolutionären Frauenrechte der EZLN" von 1993. Mehr als 30% der EZLN besteht bis in die höchsten Führungsebenen aus Frauen), bietet jungen Männern ohne Chance auf eigenes Land eine Perspektive, initialisierte immerhin entscheidend einen neuen mexikanischen Demokratisierungsdiskurs innerhalb der Gesellschaft auf nationaler Ebene mit, führte den Diskurs um indigene Autonomie in die bundesweite Politik ein und ist weltweit zum Symbol alternativer Widerstandsplattformen gegen neoliberalistische Hegemonie geworden.
Doch hat sie es weder geschafft, ihre nationalen Forderungen durchzusetzen (Beginn der 1990er Jahre: Revolution in Mexiko, Mitte der 1990 er Jahre: nur noch Demokratisierung, Ende der 1990er Jahre: letztlich ethnische Autonomie in den indigenen Gemeinden. Daß nun ein Mehrparteiensystem besteht, ist nicht das Verdienst der EZLN ) noch hat es die EZLN verstanden, wirkliche Autonomie mit wirtschaftlicher Perspektive in den von ihnen kontrollierten Gemeinden umzusetzen, die mehr von den Zahlungen ausländischer NGO's abhängig sind als wirklich "autonom" mit Zukunft zu sein (wobei es nicht ihre Schuld war, daß das "Abkommen von San Andres" von 1996 nicht als Gesetz umgesetzt wurde - die Schuld liegt beim mexikanischen Kongreß und dessen mexikanischer als auch US-amerikanischer Großunternehmerlobby).
Die EZLN steckt selbst in einer Krise, die sie selbstdefinitorisch seit den Präsidentschaftswahlen aus dem Jahr 2000 nicht überwunden hat. Das ist schlecht für sie selbst, das ist schlecht für Chiapas. Und sie schafft es immer seltener, das mediale Interesse der Welt oder auch nur Mexikos auf sich zu ziehen.[4]
40.000 Soldaten, also ca. ein Viertel der gesamten mexikanischen Streitkräfte, befinden sich heute immer noch in Chiapas. Aber weder wirkt der Staat als neutraler Akteur - die Soldaten sind zur Sicherung der Energieversorgung und des Eigentums von Großgrundbesitzern als auch von ausländischen Großinvestoren vor Ort (30% des Ölbedarfes und der Stromversorgung kommen aus Chiapas bei über 70% chiapanekischer Haushalte ohne Stromversorgung; dazu Uran, Edelmetalle und Gas für die USA, wobei 70% der Bewohner des Bundesstaates unterhalb der Mindestversorgung überleben müssen). Hinzu kommen Tausende automatische Waffen auf beiden Seiten, die ein geordnetes Leben unmöglich machen, sowie die miserable Lage junger Indigener ohne Zukunftsperspektive, die sich dann der EZLN oder anderen Gruppierungen anschließen und die paramilitärischen Kräfte, die den Konflikt von staatlicher und neoliberaler Seite immer wieder anheizen.
Acteal ist nur die Spitze des Eisberges. Allein zwischen 1998 und 2004 haben mehr als 20.000 Chiapenken ihre Wohnorte verlassen müssen, Tausende sind getötet worden. San Cristobal de las Casas ist voll von Straßenzügen neuer Flüchtlinge.
Chiapas hat keine Zukunft - Chiapas hat nie eine wirkliche Chance auf Zukunft gehabt, weder nach der Revolution von 1918, die nie wirklich im Bundesstaat umgesetzt wurde, noch im neuen Mehrparteiensystem neoliberalistischer Prägung von heute. Chiapas heißt heute Vergessen.
Der makabere Witz eines EZLN-Angehörigen, den er mir bei meinem Besuch 2003 im Hochland um Chiapas de la Corza erzählte, klingt makaber, entspricht aber genau der Realität Chiapas:
"Super... jetzt haben wir endlich breite, neue und gut asphaltierte Straßen in ganz Chiapas - selbst bis in die letzten Hochlandgemeinden. Und wofür? Doch nur dafür, daß die Armee beim nächsten indianischen Aufstand schneller mit ihren Panzern, Soldaten und Polizisten in die Gemeinden kommt und sich nicht noch mal der Scham stellen muß, vor der ganzen Welt den Niedergang ganzer indianischer Gemeinden verschlafen zu haben. Das ist echt zum Lachen... wenn ich das angesichts der Lage meiner Familie noch könnte."
[1] Vgl. Wolfgang Gabbert: "Das Massaker von Acteal im politischen und sozialen Kontext von Chenalhó", in Ulrich Köhler (Hrsg.): Chiapas - Aktuelle Situation und Zukunftsperspektiven für die Krisenregion im Südosten Mexikos, Frankfurt am Main 2003, Veröffentlichung des Ibero-Amerikanischen Instituts/Preußischer Kulturbesitz, Band 95, S. 253- 274.
[2] Zum "Faktionalismus" vgl. Ralph Nicholas: "Factions- A comparative Analysis", in: Micheal Banton (Hrsg.): Political Systems and the Distribution of Power, London 1965, Tavistock Publications, S. 21- 61.
[3] Vgl. Wolfgang Gabbert: "Der Aufstand der Zapatisten in Chiapas 1994. Vorbedingungen und Folgen", in: Walther L. Bernecker, Marianne Braig, Karl Hölz, Klaus Zimmermann (Hrsg.): Mexiko heute (3. Aufl.), Ibero-Amerikanisches Institut/Preußischer Kulturbesitz, Band 98, S. 363- 384.
[4] Am siebten Jahrstages des Waffenstillstandes (12. Januar 2001) demonstrierten in Mexiko-Stadt nur 1.000 Demonstanten. In San Cristobal de las Casas, der größten Stadt von Chiapas lediglich 10.000 Menschen.
Torben Ehlers ist Diplomand am Fachbereich Sozialwissenschaften der Universität Hannover. Er bereiste Chiapas im Jahre 2003. Die Region ist Schwerpunkt seiner Diplomarbeit.
https://sopos.org/aufsaetze/44fa044e1c15b/1.phtml
sopos 9/2006