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Wille zur Freiheit

Autonomie in der entwicklungspolitischen Diskussion

von Jens Kastner

Der Begriff der Autonomie im Kontext indigen geprägter Lebens- und Politikvorstellungen stößt momentan auf viel positive Resonanz. In Mexiko, Brasilien, vor allem aber in Bolivien, Ecuador und Peru melden sich bislang "marginalisierte Gruppen" zu Wort und besetzen politische Diskurse sowie mehr und mehr auch Ämter. Was macht den Begriff der Autonomie so attraktiv, obgleich er innerhalb der Linken eine höchst wechselvolle Geschichte hat? In Europa bezogen sich zwar beispielsweise die Arbeiter im italienischen Operaismus der 1970er Jahre oder die Autonomen im deutschsprachigen Raum der 1980er Jahre auf ihn, mit indigener Selbstverwaltung hatte dies aber nicht allzu viel zu tun. Andererseits waren Indigene zwar immer schon Projektionsflächen westlicher Imaginationen, diese waren aber nicht unbedingt und keinesfalls ausschließlich links. Und viele Linke wiederum waren indigenen Politikformen nicht immer freundschaftlich gesonnen. Niemand anders als Friedrich Engels war es, der die Indigenen einst als rückschrittliche und konterrevolutionäre "Völkerabfälle" bezeichnet hatte, die im Zuge des geschichtlichen Fortschritts sowieso verschwinden würden.[1] Die marxistische Linke hielt sich lange an dieses Diktum. Wie der Begriff der Entwicklung ist der der Autonomie also umstritten.

Die im Folgenden beschriebenen drei Ansätze stellen in Auseinandersetzung mit den indigenen Kämpfen in Mexiko und ganz Lateinamerika die Autonomie als emanzipatorisches Konzept dar. Auf entwicklungspolitische Fragestellungen unterschiedlich stark Bezug nehmend, sind sich die Autoren darin einig, daß Autonomie nicht nur den indigenen Gemeinden selbst Perspektiven biete, sondern letztlich Garant für gesamtgesellschaftliche Demokratisierung sei.

Schlüssel zur Zukunft

Angesichts des Mißverhältnisses zwischen den pluriethnischen Gesellschaften und ihrer politischen Formierung in den monoethnischen Begriffen des Nationalstaates, hat die Frage der Autonomie für Héctor Díaz-Polanco das Zeug, zur Schlüsselfrage der Zukunft des multiethnischen Staates zu werden.[2] Der mexikanische Anthropologe und Soziologe, der bereits vor dem Aufstand der Zapatistas zur indigenen Autonomie (unter anderem in Nicaragua) geforscht hatte, beklagt, daß die Indigenen bloß als "Problem" behandelt würden, um das sich lediglich ein paar Anthropologen und einige wenige Abordnungen der Regierung kümmerten, anstatt sie zu einer "Frage nationaler Wichtigkeit" zu machen. Díaz-Polanco beschreibt die Kämpfe und Verhandlungen zwischen der zapatistischen Guerilla EZLN und der mexikanischen Regierung in den 1990er Jahren. Er betont dabei, daß die Autonomie weder als spontane Forderung aufgetaucht, noch eine Erfindung der EZLN gewesen sei. Viele verschiedene Organisationen hätten auch Jahre vor 1994 Autonomie als Forderung und Praxis diskutiert. Nach einer Phase der Unterdrückung indigener Forderungen (1989-1993) und der indigenen Offensive in Form des zapatistischen Aufstandes sei mit dem Abkommen von San Andrés (1996) eine dritte Phase der Autonomie eingetreten, die deren gesetzliche Verankerung zum Ziel habe. In dieser Phase, das konnte der Autor damals noch nicht wissen, gibt es in Folge der Untätigkeit der mexikanischen Regierungen seit 2003 den einseitigen Versuch der Zapatistas, die Vertragsinhalte umzusetzen.

Die Autonomie im mexikanischen Süden erscheint in ihrer Beschreibung bei Díaz-Polanco implizit wie explizit als diskursive wie praktisch-politische Widerlegung des rassistischen Vorurteils, die Indigenen könnten sich nicht als soziale und politische Subjekte formieren. Das eigentliche Verdienst der EZLN habe darin bestanden, die Forderungen nach Demokratie, Gerechtigkeit und Freiheit mit der Frage der indigenen Autonomie zu verknüpfen. Indem die Zapatistas ihre Autonomie-Forderung eindeutig auf die ökonomische und kulturelle Selbstverwaltung von Regionen und Landkreisen - und nicht nur auf die der Gemeinden - bezogen hatten, hätten sie ihr Anliegen als ein ethnisch-nationales formuliert. Die Regierung hingegen hätte, wenn überhaupt, nur mit lokalen Lösungsvorschlägen reagiert. An den Gesetzesvorlagen der 1990er Jahre kritisiert Díaz-Polanco, was auch für das 2001 unter großer öffentlicher Aufmerksamkeit verabschiedete Gesetz für indigene Rechte und Kultur noch gilt: Sie gestatten indigene Folklore, lassen aber die Frage der ungerechten Landverteilung vollkommen außen vor.

Populärer Nationalismus

Auch Gilberto López y Rivas[3] schreibt über Zapatismus und Autonomie und betont deren gesamt-mexikanische Bedeutung. Sein Buch ist - wie das des LATAUTONOMY-Projekts eineinhalb Jahre später - im Kontext des durch die Europäische Union finanzierten Forschungsprojektes "Multikulturelle Autonomie: Unverzichtbare Bedingung für eine nachhaltige Entwicklung" 2004 erschienen. Der ehemalige Abgeordnete der sozialdemokratischen Partei der Demokratischen Revolution (PRD) in Mexiko bemüht sich darin vor allem, die Vereinbarkeit von Nationalstaat und Autonomie zu begründen. Er richtet sich damit einerseits gegen die rechten Gegner der autonomen Strukturen, die in jeder Selbstverwaltung indigener Gemeinden oder Landkreise schon die Zersplitterung des Nationalstaates und die "Balkanisierung des Vaterlandes" wittern. Andererseits sollten die Linke und die sozialen Bewegungen "von unten" eine partizipative Demokratie erkämpfen, um "das Nationale zu rekonstituieren" und zugleich auf staatlicher Ebene die politischen und kulturellen Rechte der "Völker" zu etablieren. Die Rekonstitution bzw. Rekonfiguration des Nationalen ist als Stärkung nationalstaatlicher Institutionen gedacht, die durch den Neoliberalismus in die Krise geraten seien.

Diese Idee beruht auf einer - äußerst problematischen - theoretischen Zweiteilung in einen staatlichen und einen populären Nationalismus: Beide gründen, so López y Rivas, in demselben klassisch-europäischen Nationen-Gedanken. Der erste sei getragen von der Bourgeoisie als hegemonialer Kraft, die auf einem bestimmten Territorium durch die Festlegung rechtlicher, sprachlicher und kultureller Kodes die Arbeitskraft ausbeute. Der "nacionalismo popular" hingegen sei gleichzeitig entstanden und werde durch die Ausgebeuteten, Besitzlosen, Arbeiter, Bauern und Bäuerinnen und verschiedene andere, gesellschaftlich untergeordnete Sektoren repräsentiert. Die Stärkung dieser Kräfte, in deren Kontext er ausdrücklich die Ausbildung ethnischer Identitäten stellt, sei auch und vor allem im Kampf gegen die neoliberale Globalisierung entscheidend.

Ausgehend von der Autonomie indigener Gebiete in Nicaragua (1987) und den Mobilisierungen zum 500. Jahrestag der Kolonisierung (1992) habe die Frage der Autonomie in den 1990er Jahren die Politiken der Indigenen bestimmt und beflügelt. Nach López y Rivas ist das Konzept der Autonomie die Antithese zum "Indigenismo". Der Indigenismus ist ein bis heute recht wirksames Konglomerat literarischer und politischer Ideen, die zwar die kulturellen Errungenschaften der indigenen Vergangenheit loben, in der Gegenwart aber die Unterordnung indigener Lebensformen unter den Primat der nationalstaatlichen "Modernisierung" fordern. Autonomie beruhe auf dem Recht zur Selbstbestimmung und beinhalte kommunale und regionale Selbstverwaltung im Rahmen des Nationalstaates. "Die Autonomie ist (...) eine Umverteilung der Kompetenzen auf den verschiedenen Organisationsebenen der Regierung und hinsichtlich der vielfältigen politischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Befugnisse."[4]

Vor dem mexikanischen Hintergrund der zwischen fünfzig und sechzig offiziell kategorisierten, vornehmlich nach sprachlichen Kriterien differenzierten ethnischen Gruppen spricht López y Rivas von der "Autonomie der Ethnien". An deren Lebensverhältnissen habe sich letztlich auch die Entwicklung einer pluriethnischen Gesellschaft zu orientieren. Durch ihren Umgang mit der Natur, die sie als Lebensraum statt als Ressource begriffen, würden die Indigenen sogar zu Avantgarden zukünftiger Entwicklungsprojekte.

Nachhaltig indigen

Die Ergebnisse der EU-finanzierten Forschung, an der auch López y Rivas beteiligt war, stellt nun der Band vor, den der österreichische Sozialforscher Leo Gabriel gemeinsam mit dem LATAUTONOMY-Projekt herausgibt. Das Forschungsprojekt präsentiert Autonomie vor allem als ein selbstbestimmtes Gegenmodell gegen die neokolonialen und neoliberalen Entwicklungsmodelle. Es bezieht sich dabei nicht nur auf den Zapatismus, sondern versammelt die Befragungen Indigener in Rio Negro (Brasilien), der Chapare (Bolivien), von Kichwa-Gemeinden in Ecuador, im Landkreis Kuna Yala (Panama), an der Atlantikküste Nicaraguas sowie im südlichen mexikanischen Bundesstaat Oaxaca. Ausgewertet werden die Ergebnisse in zehn Hypothesen für eine neue Form der multikulturellen Demokratie.

Stärker als die zuvor erwähnten Ansätze fokussiert das LATAUTONOMY-Projekt den entwicklungspolitischen Zusammenhang und stellt Kriterien für "Nachhaltigkeit" auf. Der soziale Prozeß der Autonomie müsse sich beispielsweise durch "ein Gleichgewicht zwischen der politisch-juridischen, der kulturell-interkulturellen und der ökonomisch-ökologischen Dimension"[5] auszeichnen, um nachhaltig zu sein (Gleichgewichts-Hypothese). Auch Leo Gabriel stellt die Demokratisierungsrelevanz der Autonomie in den Vordergrund. In der Netzwerk-Hypothese heißt es, ein autonomes System müsse sich auf "ein alternatives Gesellschaftsprojekt" beziehen, "in dem die Ebene der lokalen Gemeinden mit der der Region auf eine möglichst homogene, interaktive Weise miteinander verbunden ist". Dies könne demokratisierend nach Innen wie Außen wirken und einen "Integrationsprozeß von unten" in Gang setzen.

Zugleich setzt die vierte These aber auch eindeutig auf Identitätspolitik: "Je größer der Grad an kultureller Identität, desto stärker ist die politische Durchschlagskraft eines autonomen Systems (Prozesses, Subjekts)". Besonderer Bedeutung komme deshalb der "religiös-spirituellen Repräsentation" sowie der (inter-)kulturellen Bildung und Erziehung bei der Konsolidierung des autonomen Subjekts zu. Auch die Eigentumsfrage wird zumindest gestreift, wenn behauptet wird, je größer die Kontrolle des "autonomen Systems" über ein bestimmtes Territorium, desto geringer sei die Gefahr "der massiven Zerstörung natürlicher Ressourcen und desto stärker die Nachhaltigkeit des Systems." Zwar sei die multikulturelle Autonomie an sich noch keine Garantie für eine nachhaltige Perspektive, aber sie sei immerhin eine - ganz im Gegensatz zu den Angriffen auf autonome Strukturen durch Staat und neoliberalem Wirtschaftssystem (Instabilitäts-Hypothese).

Neoliberal und autonom

Alle drei Autoren beschreiben Autonomie nicht nur, sondern liefern auch theoretische Ansätze, sie zu begreifen. Aus diesen leiten sich dann die politischen Einschätzungen ab. Dabei betonen alle die Relevanz der von ihnen beschriebenen Autonomie(n) für gesamtgesellschaftliche Demokratisierung. Diese Betonung kann einerseits aus emanzipatorischer Sicht nicht hoch genug bewertet werden. Sie greift in eine Debatte ein, in der zunehmend Kriterien für Demokratisierung festgelegt werden. So stellt beispielsweise die Bertelsmann-Stiftung mittels des "Bertelsmann Transformation Index (BTI)" einen Maßstab zur Verfügung, der "politischen Akteuren und der internationalen Öffentlichkeit Orientierung über den Entwicklungsstand und die Qualität des Managements" bietet.[6] Er bewertet 119 Staaten und richtet sich dabei nach seiner "Zielvorstellung einer konsolidierten marktwirtschaftlichen Demokratie". Zu den Bertelsmann-Prinzipien gehört nicht nur, Demokratie direkt mit Marktwirtschaft zu verknüpfen, sondern sie ganz in neoliberaler Diktion "autoritären Regimen und staatsdominierten Wirtschaftsordnungen" entgegenzusetzen. Implizit werden hier rechte Militärdiktaturen und linke Regierungen, die auf Verstaatlichung setzen, gleichgesetzt.

Dennoch läßt sich genau an diese Formulierung mit dem Autonomie-Konzept andocken, das sich ebenfalls in Abgrenzung zu staatlicher Bevormundung und im Kampf gegen autoritäre Herrschaft entwickelt hat. Autonomie per se ist auch deshalb noch kein Garant für Demokratisierung, weil sie der neoliberalen Umgestaltung der Gesellschaft nicht unbedingt widerspricht. Konzepte wie "self-empowerment", "self-management", Subsidiarität, "self-help", "active citizenship", in denen Aspekte von Autonomie aufgenommen wurden, begleiten die Aufkündigung ehemaliger Solidarbeziehungen, die sich als soziale Errungenschaften zum Teil im Nationalstaat manifestieren konnten und im Zuge neoliberaler Umstrukturierungen zurückgenommen werden. Dem neoliberalen Staat kommt Autonomie so in verschiedener Hinsicht sogar gelegen.

Autonomie ist deshalb als ambivalenter und umkämpfter Begriff zu bestimmen. Diesen Ambivalenzen muß auch theoretisch Rechnung getragen werden, soll Autonomie ein "nachhaltiges", also emanzipatorische Errungenschaften zukünftig sicherndes Konzept werden. Um im emanzipatorischen Sinne erfolgreich zu sein, also zunächst "neoliberale Entwicklung" abzuwehren, erscheint es so gesehen gerade nicht sinnvoll, die Autonomie selbst ethnisch zu bestimmen. Genau dies klingt aber in der Formulierung "Autonomie der Ethnien" (López y Rivas) oder auch in der systemtheoretischen Herangehensweise von Gabriel an. "Genauso wie eine biologische Zelle in dem Maß ein nachhaltiges System darstellt, in dem sie fähig ist, sich unter bestimmten Bedingungen zu regenerieren", schreibt Gabriel,[7] hätten auch die Autonomie-Subjekte bestimmte Strukturmerkmale, von denen ihre Nachhaltigkeit abhinge. Demgegenüber ist darauf zu bestehen, daß politische Subjekte sich eben nicht biologischen Prozessen gleich formieren, sondern in gesellschaftlichen Kämpfen, die wiederum von verschiedenen (ethnischen, geschlechtlichen, klassenbezogenen) Dispositionen bestimmt werden.

Zudem läßt sich mit López y Rivas' ethnischem Zugang oder der starken Betonung der Identitätspolitik bei Gabriel nur schwer unterscheiden zwischen emanzipatorischen und wohlstandschauvinistischen Autonomie-Projekten, wie es sie auf dem Balkan gegeben hat oder wie es auch in Santa Cruz (Bolivien) existiert. Für die Abspaltungsbemühungen reicher Regionen vom "armen Rest" wurden nicht selten ebenfalls ethnische Argumentationsmuster benutzt. In seiner "Interkulturalitätsthese" versucht Gabriel immerhin, diese Unterscheidung zu treffen, indem er betont: "Je höher der Grad an Multi- oder Interkulturalität, desto größer sind die Chancen des autonomen Subjekts, sich als pluriethnische Kraft zu konsolidieren und die politische Autonomie auf dem Weg von Verhandlungen mit dem Staat auch rechtlich zu verankern."

Ebenso wie in López y Rivasī Zweiteilung der "Nation", die er ausdrücklich nicht auf Lateinamerika beschränkt, wo sie nicht einer gewissen Plausibilität entbehrt, kommt in der Rede von "indigenen Völkern vs. fremde Mächte" ein problematisches dichotomes Weltbild zum Ausdruck. Problematisch deshalb, weil es heutigen sozialen Realitäten kaum mehr gerecht wird: Zum einen existieren viele der aufständischen indigenen Gemeinden in Chiapas keineswegs seit Jahrhunderten, sondern haben sich erst in Folge von Vertreibungen in den 1970er oder 1980er Jahren formiert. Auch wenn rassistische Mechanismen den gesellschaftlichen Aufstieg von Indigenen immer noch gründlich verhindern, sind doch diverse Dynamiken der kulturellen Hybridisierung nicht von der Hand zu weisen. Zum anderen ist die unterstellte Verknüpfung von soziokultureller Position und politischer Einstellung keineswegs ein Automatismus: Indigen-Sein ist weder Garant für eine bestimmte emanzipatorische politische Haltung - auch die antizapatistischen Paramilitärs rekrutieren sich aus indigenen Gemeinden -, noch ist es die Klassenzugehörigkeit, wie die massive Unterstützung des Neoliberalismus durch ehemals linke Arbeitermilieus seit den 1980er Jahren gezeigt hat.[8]

Trotz der konkreten, auf indigene Gemeinschaften bezogenen Forderungen hat sich darüber hinaus gerade für die zapatistische Bewegung die transnationale Mobilisierung immer wieder als zentral erwiesen.[9] Nicht nur ideell war das Aufgreifen universalistischer, über die eigenen Interessen hinausgehende Anliegen, wie Díaz-Polanco betont, von besonderer Bedeutung. Ebenso konstitutiv für die zapatistische Autonomie-Bewegung waren von Beginn an die konkreten transnationalen Initiativen wie die Interkontinentalen Treffen oder die verschiedenen Karawanen.[10] Auch die Mobilisierungen gegen das neoliberale Infrastrukturprojekt "Plan Puebla Panama" basierte auf einer Vielzahl sozialer Akteure, in denen die "autonomen Subjekte" in Form indigener Gemeinden nur eine Organisationsform unter vielen darstellten.

Aber gerade die methodische Orientierung an der Systemtheorie ("System = autonomes Subjekt") verunmöglicht es, dieser transnationalen Dimension einen eindeutigen Stellenwert einzuräumen. Zu Einflüssen von Außen zählen ja nicht nur die neoliberalen Angriffe auf gemeinschaftliche Entscheidungsstrukturen, sondern auch die Adaption neuer Kampfformen, die Nutzung neuer Medien etc. Und nicht zu vergessen sind die Angriffe auf die traditionellen Geschlechterverhältnisse, wie sie im zapatistischen revolutionären Frauengesetz von 1993 zum Ausdruck kommen, die - zumindest unter anderem - ebenfalls auf so genannte "Umwelteinflüsse" zurückzuführen sind. Um diese kulturellen Veränderungen aber fassen zu können, bedarf es eines Kulturbegriffes, der mehr umfaßt als den "kollektive(n) Wissensvorrat einer Gruppe oder einer Gesellschaft",[11] wie ihn das LATAUTONOMY-Projekt bestimmt. Die von den Cultural Studies in den letzten vier Jahrzehnten thematisierten individuellen Praktiken kommen darin nicht vor, sind aber entscheidend. Die Brüche mit Traditionen, die ebenso wie diese Traditionen selbst zu den aktuellen Kämpfen gehören, sind ohne die Aufmerksamkeit auf kulturelle Praktiken weder angemessen zu beschreiben geschweige denn zu erklären.

Transnational statt urwüchsig

Auch wenn bestimmte indigene Lebensweisen in ökologischer Hinsicht vielleicht beispielhaft sind, das Lob des "eng auf die Natur bezogene(n) Lebensrhythmus" (Gabriel) streift doch immer auch die kolonialistische Zuschreibung des "edlen Wilden". Als Intervention in die entwicklungspolitische Debatte und Praxis sollte Autonomie also gerade nicht auf die Karte des Urwüchsigen, Naturverbundenen und seit Jahrhunderten Unveränderten setzen. Zu Recht verweist Díaz-Polanco auf die Zweigleisigkeit des zapatistischen Aufstands in der Autonomie-Frage, die einerseits zwar Kollektivrechte einklagt, andererseits aber auch an die Einhaltung der Errungenschaften der französischen Revolution (individuelle Bürgerrechte etc.) appelliert.[12] Dieser Appell ist nicht weniger als ein Teil des Kampfes um gesellschaftliche Inklusion ("Nunca más un México sin nosotr@s" - sagen die Zapatistas), aber auch nicht mehr.

Es kommt auch hinsichtlich der Demokratisierung nicht auf die Vereinbarkeit von Autonomie und Nationalstaat, sondern darauf an, mit welchen Absichten und Interessen Forderungen an und Angriffe auf letzteren gerichtet werden. Eine inhaltlich auf transnationale soziale Kämpfe ausgerichtete Autonomie, die zudem auf kollektive Eigentumsrechte besteht, erscheint nicht nur theoretisch wie politisch "nachhaltiger" als eine auf ethnische Identität und Nationalstaat fixierte Konzeption. Durch ihren Bezug auf soziale (statt ethnische oder nationale) Kämpfe "von unten" markiert sie auch demokratietheoretisch den Unterschied zur neoliberalen "Antistaatlichkeit" der Bertelsmann-Stiftung.

Anmerkungen:

[1] Hierlmeier, Josef Moe 2002: Internationalismus. Ein Einführung in die Ideengeschichte des Internationalismus - von Vietnam bis Genua, Stuttgart (Schmetterling Verlag).

[2] Diáz-Polanco, Héctor 1997: La Rebelión Zapatista y La Autonomía, México D. F. (Siglo Veintiuno Editores).

[3] López y Rivas, Gilberto 2004: Autonomías. Democracia o Contrainsurgencia, México D. F. (Biblioteca Era).

[4] Alle im Original spanischen Zitate wurden vom Autor übersetzt.

[5] Gabriel, Leo 2005a: Die Einheit der Vielfalt. Hypothesen für eine neue Demokratie, in: ders. und Latautonomy (Hg.) 2005: Politik der Eigenständigkeit. Lateinamerikanische Vorschläge für eine neue Demokratie, Wien (Mandelbaum Verlag), S. 228-293.

[6] Bertelsmann-Stiftung: Bertelsmann Transformation Index, Quelle (02.04.2006)

[7] Gabriel, Leo 2005b: Vorwort, in: ders. und Latautonomy (Hg.) 2005: Politik der Eigenständigkeit. Lateinamerikanische Vorschläge für eine neue Demokratie, Wien (Mandelbaum Verlag), S. 7-38.

[8] Erstaunlich ist auch die unkritische Verwendung der Kategorie "Volk" in dem LATAUTONOMY-Buch, in dem nicht nur durchweg von "indigenen Völkern", sondern auch in Überschriften von "Indiovölkern" die Rede ist. Damit wird ein eindeutig kolonialistischer, diskriminierender Begriff verwendet.

[9] Kastner, Jens 2004: Zapatismus und Transnationalisierung. Anmerkungen zur Relevanz zapatistischer Politik für die Bewegungsforschung, in: Kaltmeier, Olaf, Jens Kastner und Elisabeth Tuider (Hg.): Neoliberalismus - Autonomie - Widerstand. Soziale Bewegungen in Lateinamerika, Münster (Verlag Westfälisches Dampfboot), S.251-275.

[10] Eine detaillierte Geschichte des zapatistischen Aufstands inklusive seiner einzelnen Aktionsformen liefert Kerkeling 2005.

[11] Ellersdorfer, Guenther und Birgit Zehetmayer 2005: II. Teil. Das Universum der Nachhaltigkeit, in: ders. und Latautonomy (Hg.) 2005: Politik der Eigenständigkeit. Lateinamerikanische Vorschläge für eine neue Demokratie, Wien (Mandelbaum Verlag), S. 186-227.

[12] Vogel, Wolf-Dieter 2003: "Kollektivrechte müssen her". Hector Díaz-Polanco und Consuelo Sánchez arbeiten im Anthropologischen Institut Ciesas (Centro de Investigaciones y Estudios Superiores en Antropologia Social) und geben die in Mexiko-Stadt erscheinende linke Zeitschrift Memoria heraus, Interview in Jungle World, Berlin, 24. Dezember 2003, Quelle

Jens Kastner ist Soziologe und Kunsthistoriker und lebt in Wien. Er ist Lehrbeauftragter am Zentrum für Lateinamerikaforschung (Cela) in Münster.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der Zeitschrift informationszentrum 3. welt (iz3w), Nr. 294.

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sopos 8/2006