von Winfried Rust
Seit den Anschlägen vom 11.9.2001 haben islamistische Terrorgruppen zahlreiche Anschläge verübt, bei denen tausende Zivilisten starben. Kaum eine Weltregion wird verschont, wie die Anschläge von Bali, Mombasa, Casablanca, Jakarta, Istanbul, Djerba, Beslan, Madrid und London sowie permanente Attentate in Israel und im Irak zeigen. All diese Terroraktionen stehen in direktem Zusammenhang mit dem Aufstieg einer rechten sozialen Bewegung: dem Islamismus. Diese Bewegung engagiert sich, wenn man so will, für Sicherheit und gegen linke, bürgerlich oder säkular orientierte Lebensentwürfe. Sie verkörpert die regressive Sehnsucht nach gesicherter Identität und Gemeinschaft, welche gegenüber den Umbrüchen der Moderne einen sicheren Fluchtpunkt bietet. Die Gemeinschaft suggeriert Schutz, und dazu steht keineswegs im Widerspruch, daß den Militanten Angriff als die beste Verteidigung gilt. In den Landstrichen mit islamistischer Hegemonie herrscht ein Klima der Einschüchterung, das sonst nur aus paramilitärisch erstickten Gesellschaften wie in Kolumbien bekannt ist.
Die westlichen Regierungen reagieren verunsichert und mit dem Abbau von Freiheitsrechten und Freizügigkeit (was exakt dem Programm der Islamisten entspricht). Auch im Westen ist Sicherheitspolitik traditionell das Feld, in dem Machtpolitik von Oben und das regressive Bedürfnis nach Abschottung von Unten zusammentreffen. Deshalb wird der islamistische Terror weniger als rechte Bewegung analysiert, sondern schlicht dem herrschenden Angsthaushalt und den vorhandenen Projektionen vom bösen Außen hinzugefügt. Die staatlichen Sicherheitsmaßnahmen folgen der Devise 'Ausgrenzung statt Ursachenbekämpfung'.
Und die Linke? Sie reagiert auf diese Situation mehrheitlich mit scharfer Kritik am repressiven staatlichen Sicherheitsregime mit seinen Gesetzesverschärfungen, Überwachungsmaßnahmen, Abschiebungen und Zwangsintegrationsversuchen. Die islamistische Seite des Problems wird dabei oft ausgeblendet. Eine umfassende Zurückweisung des Sicherheitswahns - gleich ob er islamistisch oder westlich geprägt ist - gestaltet sich als schwierig.
Bei der Frage nach den Zukunftsaussichten wird in Deutschland zunehmend die Angst vor Abstieg genannt. Laut dem Institut für Demoskopie in Allensbach hält weniger als die Hälfte der Arbeitnehmer ihren Job noch für sicher. Der Soziologe Wilhelm Heitmeyer warnt in seiner Langzeitstudie "Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit", daß die Angst vor Arbeitsplatzverlust nach innen zu Erkrankungen führen könne und nach außen zu "Ausländerfeindlichkeit". Über 60 Prozent der Deutschen sagten, daß zu viele Ausländer in Deutschland leben. Dieser Wert ist deutlich gestiegen. Die Zunahme von Ressentiments und die wachsende Zustimmung zu härteren Strafen sei auf zunehmende "Orientierungslosigkeit" zurückzuführen, schreibt Heitmeyer. Das machtlose Verzagen gegenüber den Starken verbinde sich mit einer abwertenden Haltung gegenüber Schwachen wie "Fremden": Muslime, Juden, Homosexuelle, Obdachlose.
Die aktuelle Migrationsbewegung von Afrika nach Westeuropa wird unter solchen Umständen aufwendig an den EU-Außengrenzen gestoppt. Schwarze Immigration gibt der Unsicherheit ein Gesicht. Auch die innenpolitischen Sicherheitsdebatten um den öffentlichen Raum sind stets mit Außenprojektionen verbunden. Das Schreckgespenst Drogen erscheint im schwarzafrikanischen Dealer, Straßenkriminalität in migrantischen Jugendgangs.
In ganz ähnlicher Weise wird der islamistische Terror behandelt. Die politische Herausforderung durch diese rechte Bewegung wird nicht adäquat diskutiert. Die Bilder des Terrors erhöhen einfach das Ressentiment gegen alles Fremde. Mehr als sinnloser Aktionismus kommt dabei nicht heraus. Niemand glaubt ernsthaft, daß die gezielte Beleidigung muslimischer Einbürgerungswilliger durch den baden-württembergischen Fragenkatalog den Islamismus schwächt: "Wie stehen Sie zu der Aussage, daß die Frau ihrem Ehemann gehorchen soll und daß dieser schlagen darf, wenn sie ihm nicht gehorsam ist?" In welche Richtung werden die Einbürgerungswilligen hier getrieben? Solche Fragen könnten permanent an die Gesellschaft gestellt werden, gerne mit Nachdruck. Hier dienen sie zur Stigmatisierung von Migranten. Islamfundamentalistische Praxis wird mit solchen Maßnahmen nicht konkret betrachtet, sondern pauschal dem "Außen" zugeschrieben, das diffus bedroht.
Bedrohte Sicherheit steht in Deutschland traditionell im Zusammenhang mit dem "gefährlichen Ausländer": Die Terroristen sind Ausländer, "unsere" Arbeitsplätze sind von ihnen bedroht, und jetzt machen sie Schulen und ganze Stadtteile zu gefährlichen Orten. Berlin-Neukölln gilt als "schwieriger Stadtteil", an der dortigen Rütli-Hauptschule sind Probleme im März medienwirksam eskaliert. Die Resonanz ist einmütig: Die fehlende Integration sei das Problem. Die Ausgrenzungsbewegung der Mehrheitsgesellschaft gegenüber den hauptsächlich migrantischen Hauptschülern wird hingegen klein gezeichnet.
Sicherlich gibt es Abschottungstendenzen seitens verschiedener migrantischer Communities, und sie sind inakzeptabel. Weniger wegen der ausbleibenden "Integration", sondern weil die die Verwehrung von Außenorientierung regressiv ist - gleich ob letztere von Innen, von Communities selbst, oder von Außen, von der ausschließenden Dominanzgesellschaft, verwehrt wird. Der ethnische oder religiöse Einschluß bestimmter migrantischer Communities und der Ausschluß der bürgerlichen deutschen Mehrheitsgesellschaft fördern beide die Regression von Unterschichtenjugendlichen. Und die sehen in Gewalt oft ihre einzige Möglichkeit, um auf Kosten von Anderen Handlungsmacht zu erlangen. Dem gegenüber nur Integration oder härtere Strafen einzufordern, entlarvt die Komplizenschaft des Sicherheitsdiskurses mit den zugrunde liegenden Gewaltverhältnissen.
Gewalt ist an sich kein Unterschichtenphänomen, wohl aber viele ihrer Ursachen. Die spezifische Gewalt in "Problembezirken" rührt nicht von fehlenden Sicherheitsmaßnahmen, sondern von Armut her. Dabei steigt in der Bundesrepublik, wie weltweit, der Reichtum konstant. Nach Angaben der Bundesbank besitzen die bundesdeutschen Haushalte heute vier Billionen Euro, das sind 1,5 Billionen mehr als zehn Jahre zuvor. Statistisch hat jeder Haushalt in Deutschland über 100.000 Euro Vermögen. Im Neuköllner Reuterkiez ist hingegen jeder dritte ohne Schulabschluß. Der Sicherheitsdiskurs vernebelt diese Diskrepanz. Gewalt in "Problembezirken" reproduziert nur die herrschende strukturelle Gewalt: Sie gibt in der Regel das vorgefundene Muster von Oben nach Unten weiter.
Ohne die anhand der Rütlischule medial vermittelte Jugendgewaltdebatte wäre Berlin-Neukölln ein vergessener und ausgemusterter Stadtteil geblieben. Das verweist auf die begründete Angst der Individuen, von heutigen Mehrheits-Gesellschaften übersehen zu werden. Was dies bewirkt, beschreibt Friedrich Dürrenmatt in "Der Auftrag" so knapp wie präzise: "nicht mehr beobachtet, käme er sich nicht beachtenswert, nicht beachtenswert nicht geachtet, nicht geachtet bedeutungslos, bedeutungslos sinnlos vor."[1] Ohne ein gewisses Maß an Aufmerksamkeit erkrankt das Individuum. Gewalt ist ein letztes Mittel, mit dem die überflüssig gemachten Schichten Beachtung erlangen, indem sie das Sicherheitsgefühl der anderen erschüttern.
Die weltweite Konkurrenzgesellschaft schafft permanente Unsicherheit. Selbst eigentlich profitable Unternehmen riskieren bei Stagnation, abgewickelt zu werden. Der inneren Logik dieser Verhältnisse entspricht, daß bei steigender Prekarität der Verhältnisse der Rückzug auf einfache, sichere Vergemeinschaftungsformen als Ausweg erscheint: Gangs, Banden, Rackets, Familie, ethnische oder religiöse Gemeinschaft. Das Unbehagen der Islamisten richtet sich dabei nicht gegen den Kapitalismus als solchen, sondern gegen den Westen (den sie wiederum mit den USA und Israel identifizieren). Denn als arabische Mittelschicht, als große und kleine Unternehmer und als Kleinbürger sind die Islamisten der Marktwirtschaft durchaus verbunden. Ebenso wenig kommen für sie traditionelle Werte als Wurzel von Unzufriedenheit in Frage. Also muß eine Verschwörung vorliegen: des Großkapitals, des raffenden Geldes, der Juden oder der Amerikaner. Das regressive Phantasma der Bedrohung äußert sich in der Kleinbürgerseele stets als strukturierendes Ressentiment, welches das unverstandene Unbehagen an den Unwägbarkeiten der kapitalistischen Gesellschaft abspaltet. Das Abstrakte/ Fremde einerseits und das Einfache/ Gemeinschaftliche andererseits können so voneinander getrennt werden, wie auch Gut und Böse oder sicher und unsicher.
Mit den militanten Islamisten betraten Akteure die Bühne, welche diese Aufspaltung in großer Meisterschaft betreiben. Ihre extreme Opferhaltung harmoniert mit Draufschlagen. Trotz der hohen Risikobereitschaft islamistischer Aktivisten spielt in ihrer Denkweise Sicherheit eine große Rolle. Ihr Bezugspunkt ist ein schützenswerter Ort: die Umma, die islamische Religionsgemeinschaft. Sie folgen dem aggressiven Impuls ihrer Ausweitung und dem defensiven Impuls der Sicherung islamischer Gemeinschaft gegen Veränderungen. Militante Islamisten sind keine einfachen Warlords: Ihre Utopie ist die generalisierte Sicherheit der homogenen Gemeinschaft.
Die besten Erfolgsaussichten für eine geschlossene Umma generiert allerdings ein geschlossener Westen, der sich in die Konfrontation mit "der islamischen Welt" begibt. Es gibt keine "islamische Welt" - allenfalls als Projektion von Kulturkämpfern. Für den politischen Islam interessiert sich nur eine Minderheit der Muslime, und selbst er ist ein heterogenes Phänomen, das nicht allein aus Hamas und Taliban besteht. Die Beachtung dieser Differenzierungen ist für die Analyse der Gefahr islamistischer sozialer Bewegungen wichtig.
Es braucht kein "Wir", um die islamistische Bewegung abzulehnen, es braucht ein "Nein". Respekt vor den ideologischen und kulturellen Schutzwällen, mit denen Konservatismus seine imaginäre Gemeinschaft umgeben will, war stets der falsche Weg zu seiner Bekämpfung. Offene Gesellschaften, Migration, vielfältige Lebensentwürfe, Popkultur oder Kapitalismuskritik sind dem Islamismus gefährlicher, als es ein repressives Sicherheitsregime je werden kann.
Der offensive Islamismus gefährdet nicht nur den Siegeszug der westlich-kapitalistischen Globalisierung. Er terrorisiert gerade auch jene offenen oder selbstorganisierten gesellschaftlichen Milieus, die traditionelle und marktwirtschaftliche Diktate hinterfragen. Daß islamistische Fanatiker eine Bedrohung darstellen, ist unübersehbar, und nicht erst dann, wenn der iranische Präsident Ahmadinedschad Israel von der Landkarte tilgen will. Es sollte für Linke einfach sein, sich hier in schlichter Gegnerschaft zu positionieren.
Doch viele Linke zeigen lieber reflexhaft auf die USA. Die friedensbewegte Zeitschrift "Ohne Rüstung leben" (1/06) veröffentlicht beispielsweise einen Artikel des Osnabrücker Politikwissenschaftlers Mohssen Massarat, der es auf vier Seiten schafft, die antisemitischen Tiraden Ahmadinedschads, seine Unterstützung von Islamterroristen und die Menschenrechtsverletzungen im Iran nicht einmal zu erwähnen. Verständnis entwickelt der Autor hingegen dafür, daß der Erdöl- und Gasexportriese Iran seinen Strombedarf bald nicht mehr ohne Atomkraft decken könne. Militärisch sei der Iran den USA und Israel hilflos ausgeliefert, deshalb sei der Wunsch nach Atomwaffen sicherheitspolitisch nachvollziehbar. Es ist verrückt: "Ohne Rüstung leben" verharmlost ein Gewaltregime beim Griff nach der Atombombe.
Doch so eindeutig die Ablehnung der spezifisch islamistischen Sicherheitsbedrohung ausfallen muß, so schwierig ist die Antwort auf die Frage, was gegen Terror und rechte Militanz hilft. Staatliche Sicherheitspolitik jedenfalls nicht: Weder der Fragekatalog für Einbürgerungswillige noch der maschinenlesbare Paß mit gespeicherten biometrischen Merkmalen verhindern ein Attentat. Schon Kurt Tucholsky wußte: "Der Paß schützt nichts und keinen - er hindert Harmlose". Zwischen dem Reinheitswahn der Islamterroristen und dem der Paßbiometriker gibt es Parallelen. Eine radikale Kritik des Reinheitswahns lehnt daher Pässe und andere Mittel zur Selektion generell ab. Denn Grenzschützer vollziehen, was auch Islamisten erreichen wollen: Sortierung. Natürlich gibt es zwischen beiden Unterschiede, eine Gleichsetzung wäre abstrus. Der Grad der Menschenverachtung ist verschieden, und die westlichen Staaten verstehen sich tendenziell stärker als Gesellschaft, Islamisten hingegen als organische Gemeinschaft von Gläubigen.
Im Falle der europäischen Neofaschisten gelang es der Linken, die Gefahr einer rechten Bewegung zu bezeichnen, ohne daß linke Überzeugungen verraten werden mußten. Es konnte konstatiert werden, daß die Neofaschisten ein größeres Problem als der bürgerliche Staat sind, ohne daß dies ein Grund ist, letzteren aufzuwerten. Gegenüber "national befreiten Zonen" ist das staatliche Gewaltmonopol vorzuziehen. Staatliche Repressalien gegen Rechte sind zwar keine linke Strategie gegen Rechts, und sie berühren keine Ursachen des Faschismus. Doch war die Linke gut beraten, sich die Bekämpfung staatlichen Vorgehens gegen Rechte nicht allzu sehr auf die Fahnen zu schreiben.
Nicht viel anders ist es im Falle des militanten Islamismus. Gegen die Festnahme eines Selbstmordattentäters an der israelischen Grenze oder die Verhinderung des Bombenanschlags auf den Straßburger Weihnachtsmarkt durch staatliche Repressionskräfte kann kaum etwas eingewandt werden. Dem Widerspruch zwischen Ablehnung und Affirmation des Staates läßt sich dabei schwer entkommen. Viele Linke machen es sich aber lieber einfach. Sie weisen zwar zu Recht die Einschränkungen von Freiheiten und westliche Abschottungsmaßnahmen zurück, lehnen aber zugleich jeden Schritt gegen Islamismus ab. Isolierung des Iran aufgrund seiner chauvinistischen Atomaufrüstungspolitik? Nein, lieber diplomatische Rücksichtnahme. Stopp staatlicher Zuschüsse an die Hamasregierung in Palästina? Nein, das trifft die Zivilbevölkerung. Solidarität mit den Zeichnern der Mohammed-Karikaturen? Um Gottes Willen, Religionskritik am Islam ist islamophob. Eine Kampagne gegen so genannte Ehrenmorde? Nein, damit gäbe man Schily, Schäuble und Beckstein Recht.
Es ist nichts dagegen einzuwenden, daß über all diese Themen kontrovers debattiert und staatliche Politik sowie dominanzkulturelle Ideologeme permanent hinterfragt werden. Sicherheitspolitik ist schließlich eine klassische Domäne von Machtpolitik, und die meisten Feindbilder der herrschenden Sicherheitspolitik beruhen auf wilden Projektionen. Aber die Toleranz vieler Linker gegenüber einer starken, rechten Bewegung, die die Einschüchterung von Zivilbevölkerung, die Vernichtung Israels oder die islamische Homogenität nicht nur proklamiert, sondern mit Terror auch durchzusetzen versucht, wird langsam unheimlich. Es ist nicht vernünftig, die Kritik am Islamismus zu unterlassen, weil sie angeblich das westliche Sicherheitsregime stärkt. Radikale Kritik an Sicherheitsfanatismen ist unteilbar. Eine Annäherung an den (neo-)konservativen, westlichen Sicherheitsdiskurs ist daher ebenso fatal wie ein Schutzreflex beispielsweise gegenüber dem Iran. Das Gegenteil vom Falschen ist selten richtig. Beides ist Ausdruck jener Panik, auf die der Terror baut.
[1] Vgl. Schroer, Markus: Sehen, Beobachten, Überwachen, in: Hempel/Metelmann, Bild-Raum-Kontrolle, Frankfurt am Main 2005.
Winfried Rust ist Mitarbeiter im iz3w.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der Zeitschrift informationszentrum 3. welt (iz3w), Nr. 293.
https://sopos.org/aufsaetze/44b6e5e59a690/1.phtml
sopos 7/2006