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Händchen halten, Köpfchen senken und an Ursula von der Leyen denken

von Utz Anhalt (sopos)

Die Familienministerin Ursula von der Leyen hat ein "Bündnis für Erziehung" präsentiert: Ihre Partner sind die evangelische Landesbischöfin Margot Käßmann und der katholische Kardinal Sterzinsky. Das Ziel ist es, "Werte, die auf christlichen Prinzipien basieren" wie "Hilfsbereitschaft, Verläßlichkeit, Respekt" zu fördern. Der Internationale Bund der Konfessionslosen und Atheisten e.V. kommentiert dies folgendermaßen:

Was meint die Ministerin überhaupt, wenn sie von 'christlichen Werten' spricht? 'Die Kirchen [...] verknüpfen auch in besonderer Weise soziale und moralische Ansprüche. Werte wie Respekt, Verläßlichkeit, Vertrauen und Aufrichtigkeit sind Leitplanken, die unseren Kindern helfen, ihren Weg ins Leben zu finden", sagt Ursula von der Leyen. Die genannten Begriffe sind aber gar keine Werte, sondern Sekundärtugenden, Benimmregeln und Beziehungsfragen, welche mit Religion und anderem viel und wenig zu tun haben können.

Vereinnahmt Frau von der Leyen allgemeine Verhaltensformen für das Christentum, betreibt sie Kirchenpropaganda auf Kosten der allgemeinen und unveräußerlichen Menschenrechte? Es ist eine Frechheit, allgemeine Verhaltensformen von Menschen für eine Religion, eine Ideologie in Beschlag zu nehmen. Ideologen, religiöse Fanatiker und Dogmatiker praktizieren diese Frechheit allerdings seit Jahrtausenden, wobei der allein richtige Weg zum Paradies auch den Charakter der Ersatzreligion haben kann wie im Stalinismus.

Zu der Säkularitätsverdrängung tritt auch noch ein unkritisches Weichzeichnerbild: der ethische Gehalt etlicher - insbesondere von der katholischen Kirche vertretenen - Moralauffassungen u. a. zu Frauenrechten und Homosexualität ist in Wahrheit grundrechtsfeindlich und nicht etwa vorbildlich.

Zeigt der positive Bezug auf "christliche Werte", daß die Erziehung junger Menschen im Sinne des Bündnisses von Klerikaleliten und Familienministerin in Richtung Geschichtsfälschung aus ideologischen Motiven gehen könnte? Kritische Gemüter könnten auf die Idee kommen, daß die Geschichte der christlichen Werte im Prinzip wenig durch Respekt und Hilfsbereitschaft gekennzeichnet ist. War der Millionenmord an den Indigenen im Amerika durch katholische Gotteskrieger, insgesamt der größte Völkermord der Weltgeschichte, Respekt vor anderen Menschen? Handelte es sich bei den "Ketzern", "Heiden", "Hexen", "Ungläubigen", "Zauberern" und Juden, die Christen auf Scheiterhäufen des Mittelalters und der frühen Neuzeit verbrannten, um Hilfsbereitschaft? Ob die Vernichtung von Abertausenden Katarern aufrichtig war, sei dahingestellt. Gegenüber dem Papst in jedem Fall. Ist der Hinweis im 30-jährigen Krieg "Schlagt sie nur alle tot, der Herr wird die Seinigen schon erkennen", respektvoll? Verläßlichkeit mußte ein Inquisitor schon haben - die Verläßlichkeit, das Verständnis aus den Opfern herauszufoltern. Mit manchen Sekundärtugenden kann man auch ein KZ leiten, sagte Oskar Lafontaine einmal.

Ich möchte an dieser Stelle nicht die Verbrechen der Kirchen aufzählen; Karl Heinz Deschner hat diese Kriminalgeschichte des Christentums in etlichen Bänden recherchiert. Er dürfte kaum Pflichtlektüre zum Lernen der "christlichen Werte" im Sinne von der Leyens sein, ebenso wenig Nietzsche, Marx, Goethe, Giordano Bruno, Adorno und eigentlich die meisten Vertreter der Aufklärung. Johann Most äußerte sich seinerzeit mit grimmigem Humor über die damalige christliche Sichtweise auf die Frage, was Kritiker erwartet:

Die Naturwissenschaft läßt mithin Gott mit seiner selbst verkündeten Menschenmacherei als einen ganz albernen Aufschneider erscheinen. Aber was nützt das alles! Gott läßt mit sich nicht spaßen. Ob seine Erzählungen wissenschaftlich klingen, oder sich wie alberner Quatsch anhören, er befiehlt, daß man daran glaube, widrigenfalls er es geschehen läßt, daß einen der Teufel (sein Konkurrent) holt, was sehr unangenehm sein soll. In der Hölle herrscht ja nicht nur beständiges Heulen und Zähneklappern, sondern es brennt auch ein ewiges Feuer, es nagt ein unermüdlicher Wurm und es stinkt ganz heillos nach Pech und Schwefel. Alledem soll ein Mensch ohne Leib ausgesetzt werden. Es schmort sein Fleisch, das er nicht bei sich hat; er klappert mit den längst ausgefallenen Zähnen; er heult ohne Hals und Lunge; seine in Staub zerfallenen Knochen benagt der Wurm; er riecht ohne Nase - und das alles ewiglich. Eine verteufelte Geschichte!

Es werden die kirchlichen Fachleute für Weltanschauungsfragen einwenden, daß Verbrechen auch andere begangen haben, und aufgeklärte Christen sehen solche Bibelstellen als Sinnbilder, nicht als Realität. So weit, so richtig und so nichtig. Damit wäre nämlich von der Leyens Wertevereinnahmung vom Tisch. Respekt ist tatsächlich eben sowenig ein Privileg des Christentums wie Völkermord aus niederem Motiv. In harmlosen Fällen: Die Familienministerin könnte auch Gitarre spielen als christliches Prinzip bezeichnen, weil so viele Kirchentagsbesucher eine Klampfe dabei haben, oder Alkoholkonsum, weil Protestanten gerne Messwein trinken oder Bartwuchs, weil Diakone sich gern einen Jesus-Bart stehen lassen.

Aber es kommt noch dicker: Laut Frau von der Leyen faßt "das Grundgesetz im Prinzip die zehn Gebote" zusammen. Hier absorbiert Frau Leyen für ihre christliche Ideologie sogar zwei Gesellschaftsentwürfe, die damit nichts zu tun haben. Die zehn Gebote stammen erstens nicht aus dem Christentum, sondern aus der jüdischen Kultur. Richtig ist, daß Christen sich auch auf das Alte Testament, also die zehn Gebote beziehen. Richtig ist allerdings auch, daß es im Christentum einen uralten Antijudaismus gibt. Der alte Antijudaismus führte zu unzähligen Pogromen, der neue völkische Antisemitismus zu Auschwitz. Zweitens war das Grundgesetz ein Resultat des zweiten Weltkrieges und der Erfahrung von Auschwitz, des Produkts des mörderischen Antisemitismus. Für das Grundgesetz waren nicht die zehn Gebote, sondern ein säkularer Humanismus die Grundlage. Das Grundgesetz garantiert deshalb unter anderem die weltanschauliche Neutralität des Staates.

Die zehn Gebote hatten in den archaischen Gesellschaften des Alten Testaments ihre Berechtigung. "Die Würde des Menschen ist unantastbar" auf ein "Du sollst nicht töten" zu reduzieren, ist eine Verzerrung. Einige Gebote haben mit dem Grundgesetz wirklich nichts zu tun. "Du sollst nicht stehlen" oder "Du sollst kein falsches Zeugnis abgeben", Paragraphen über Diebstahl oder Falschaussage gehören in Deutschland lediglich in das Straf- und Zivilrecht, nicht aber in das Grundgesetz. Bewegt sich jemand, der das erste Gebot "Du sollst keine anderen Götter neben mir haben" mit dem Grundgesetz verwechselt, auf dem Boden des freiheitlichen Rechtsstaates? Die ersten 19 Artikel des Grundgesetzes sind Schutzrechte der Bürger gegenüber dem Staat, - erstens rein säkular, zweitens Freiheitsrechte und keine Unterwerfung der Menschen unter ein imaginiertes übernatürliches Wesen. Dieses erste Gebot verstößt fundamental gegen den Artikel 4 des Grundgesetzes, der die Freiheit der Religion festlegt.

Das zweite Gebot "Du sollst dir kein Bildnis machen" verstößt gegen den Grundgesetzartikel 5, nach dem jeder seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei äußern darf. Hat jemand, der "Du sollst den Namen Jehovas, deines Gottes, nicht in unwürdiger Weise gebrauchen, denn Jehova wird den nicht ungestraft lassen, der seinen Namen in unwürdiger Weise mißbraucht" in das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland halluziniert, irgendeinen Bezug zur Religions- oder Pressefreiheit, also Artikel 4 und 5? Nein, denn eine solche Vorstellung widerspricht den Bürgerrechten.

"Du sollst nicht begehren deines nächsten Weib", also Seitensprünge, Gruppensex, Swingerclubs, Liebschaften und so weiter tauchen im Grundgesetz nicht auf und auch nicht im Strafgesetzbuch. Und das ist auch richtig so, da die sexuellen Prioritäten Privatsache sind. Auch die archaische Form des Patriarchats, in der die Frau Eigentum des Mannes ist, hat mit dem Selbstbestimmungsecht des Menschen nichts zu tun.

Sieht Frau von der Leyen das anders? Was für ein Verhältnis zum Grundgesetz hätte sie dann? Was würde Schwulen und Lesben, Swingern und Seitenspringern passieren, wenn die zehn Gebote Rechtsgrundlage wären? Umgekehrt könnte man auch eine Erziehung zum Beispiel auf der Grundlage der Religion der Lakota-Indianer oder der Inuit fordern, da auch sie ethische Grundsätze des Grundgesetzes enthalten.

Fundamentale Bestandteile des Grundgesetzes sind in den zehn Geboten nicht enthalten, zum Beispiel Presse-, Meinungs- und Religionsfreiheit wie auch die weltanschauliche Neutralität des Staates. Die Genese der zehn Gebote widerspricht allen demokratischen Grundsätzen. Das Grundgesetz kann mit Zweidrittelmehrheit im Bundestag, also von gewählten Volksvertretern, geändert werden. Das Grundgesetz wurde weder beschlossen noch geändert, weil ein Patriarch behauptete, eine göttliche Weisung bekommen zu haben. Eine solche archaische Art der Gesetzesentstehung ist per se antidemokratisch. Weder sind die Menschen an der Entscheidung beteiligt, noch können sie den Prozeß der Entscheidungsfindung beeinflussen. Sie werden lediglich durch Priester, die behaupten, göttliche Signale zu bekommen, vor vollendete Tatsachen gestellt. Eine Gesellschaft, in der wieder wie in archaischen Zeiten, Gesetze nicht mehr per Mehrheit beschlossen, sondern von Priestern verkündet werden, die behaupten, die Gesetze habe ihnen irgendein Übernatürlicher eingeflüstert? Die daraus resultierende Gesellschaftsordnung wäre autoritär.

Die "christliche Leitkultur" verdeckt das Prinzip des Rechtsstaates. In einem Rechtsstaat gelten für alle Menschen die gleichen und unveräußerlichen Rechte, unabhängig von Religion, Herkunft, Hautfarbe, Geschlecht oder sexuellen Vorlieben. Die Grundrechte gewährleisten die Achtung vor den Menschenrechten. Das ist der Konsens, nicht etwa das Christentum. Warum jemand die Menschenrechte achtet, spielt nicht wirklich eine Rolle. In jedem Fall sind die Befindlichkeiten von Glaubensgemeinschaften den Menschenrechten untergeordnet. Wenn ein Lakota die Menschenrechte achtet, weil er meint, das wäre der richtige Weg zu Wakan Taka, dann bewegt er sich auf der Basis der Menschenrechte. Wenn ein christlicher Fanatiker meint, er müsse die Heiden in Deutschland mit Feuer und Schwert bekehren, dann verstößt er gegen die Menschenrechte, obwohl er das aus der Bibel ableiten kann.

Kurz gesagt: Ein bürgerlich-demokratischer Staat bezieht sich per se nicht auf die Regelsysteme einer Glaubensgemeinschaft. Die hiesige Presse greift zu Recht an, wenn in Staaten wie Iran oder Nigeria nach der Scharia, dem islamischen Recht, Urteile gesprochen werden. Die Verschmelzung von religiösen Befindlichkeiten und Rechtsprechung ist in der Tat ein Kernmerkmal vorsäkularer und autoritärer Gesellschaften und Kennzeichen des heutigen Islamismus, der islamischen Variante des Rechtsradikalismus. Ist ein solches Eindringen der Religion in die Politik etwa lobenswert, wenn Christen, nicht Muslime, diese Vermischung betreiben?

In einem säkularen und demokratischen Staatswesen gibt es keine Trennung zwischen Kulturgütern. Wenn Gläubigen eine Weltanschauung heilig, das heißt unantastbar ist, hat das mit den Bürgerrechten der Aufklärung nichts zu tun. Intellektuelle Redlichkeit bedeutet, Zusammenhänge logisch und nachprüfbar zu erklären. Wenn ich das nicht kann, ist mein Ergebnis nicht öffentlich nicht relevant. Salopp gesagt macht es dann keinen Unterschied, ob ich behaupte, daß Gott oder das Spagettimonster mir diese Eingebung gegeben haben.

Versucht Frau von der Leyen die weltanschauliche Neutralität des Staates zu unterwandern?

Hierzu erklärt der Internationale Bund der Konfessionslosen und Atheisten e.V. (IBKA): Das von der Bundesregierung zu verantwortende Bündnis stellt einen Verfassungsbruch dar, da mit der Zielstellung 'christlicher Werte' die weltanschauliche Neutralität des Staates mißachtet wird. Ein wesentliches Element des modernen demokratischen Staates ist die Trennung von Staat und Religion. Eine Erziehung zu christlichen Werten kann keine Aufgabe eines religiös-weltanschaulich neutralen Staates sein.

Es handelt sich nicht um eine Lappalie. Die Trennung von Staat und Kirche ist ein Fundament des bürgerlichen Rechtsstaates und Resultat Jahrhunderte währender Kämpfe der Aufklärung gegen ihre auch klerikalen Feinde.

Die nachgeschobene Einladung an Vertreter des muslimischen und jüdischen Glaubens degradiert diese zu Erfüllungsgehilfen christlicher Vorgaben. Konfessionsfreie hingegen - immerhin ein Drittel der Bevölkerung - kommen weiterhin im eng bekreuzten Horizont der Ministerin nicht einmal vor.

So der Internationale Bund der Konfessionslosen und Atheisten. Damit wäre die klassische Trennung vorsäkularer Zeiten erfüllt. Die "Buchreligionen" sind Heiden erster Klasse, Konfessionslose, Atheisten und andere "Ungläubige" stehen außerhalb der christlichen Gemeinschaft. Diese Trennung gab es im Wesentlichen auch in der frühen Neuzeit. Die Allgemeingültigkeit der Bürgerrechte schließt Sonderrechte von Religionsgemeinschaften aus.

Aber die IBKA zeigt, Frau von der Leyen hat noch mehr in petto:

Die Ausgrenzung von Nichtchristen war kein Versehen. Die Initiative der Ministerin zielt darauf, sich als Kulturkämpferin einer 'christlichen Leitkultur' ideologisch zu profilieren. Zur Begründung einer staatlichen Förderung christlicher Mission führt die Ministerin an: 'Eltern suchen oftmals angemessene Antworten auf die Fragen der Kinder: Wo komme ich her, wer bin ich, wo gehen Menschen nach dem Tode hin? Darauf kann nicht außerhalb eines religiösen Kontextes geantwortet werden.' Philosophische Fragen werden damit, als lebten wir im Mittelalter, einem Antwortmonopol von Religion zugeordnet - und zwar der Christlichen!

Wie könnte ein solches Antwortmonopol bei anderen Kinderfragen aussehen? Der Linke Johann Most verwies sarkastisch auf mögliche Antworten:

Das ist der "geschichtliche Teil" der "heiligen Schrift". Man sieht, der Blödsinn ist dick genug aufgetragen, um denjenigen, der bereits idiotisiert genug ist, ihn zu verdauen, empfänglich für irgendeinen Wahnwitz zu machen. Hierher gehört vor allem die Lehre von der Belohnung und Bestrafung des Menschen im sogenannten "Jenseits". Längst ist es wissenschaftlich erwiesen worden, daß es ein vom Körper unabhängiges Seelenleben nicht gibt, daß das, was die Religionsschwindler "Seele" nennen, nichts weiter ist, wie das Denkorgan (Hirn), welches durch die lebendigen Sinnesorgane Eindrücke empfängt und auf Grund derselben sich betätigt, und daß mithin im Augenblicke des körperlichen Absterbens auch diese Regung aufhören muß. Was kümmern sich aber die Todfeinde des menschlichen Verstandes um die Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung? Gerade so viel, als nötig ist, dieselben nicht ins Volk dringen zu lassen. So predigen sie denn das "ewige Leben" der menschlichen "Seele". Wehe derselben, im "Jenseits", wenn der Leib, worin sie "diesseits" gesteckt, die Strafgesetze "Gottes" nicht pünktlich respektierte!

Nicht nur Christen können also Antworten auf die Frage zum Leben nach dem Tod geben, Johann Most antwortete eindeutig außerhalb eines religiösen Kontextes. Meinte Frau von der Leyen Antworten, die ihr und anderen christlichen Konservativen nicht passen? Kommen wir wieder in Grundgesetzinterpretationen, in denen wie zu Mosts Lebzeiten, seine aufklärerischen Schriften nur illegal erhältlich sind und die Veröffentlichungen Gefängnis nach sich ziehen?

Andere mögliche Fragen und Antworten: Wo kommen die Babies her? Die bringt der Klapperstorch. Wie sind die Tiere entstanden? Antwort: Gott schuf sie, als er in sieben Tagen die Welt bastelte, glaubt nicht die Irrlehre von Charles Darwin. Frage: Wer waren die ersten Menschen? Antwort: Nicht der Australopithecus, sondern Adam und Eva. Zur "gesamten Kultur" in Deutschland gehört der zu Lebzeiten ungemein populäre Most in jedem Fall, genau wie Nietzsche, Kant, Spinoza, Arno Schmidt und Adorno, die alle mit dem Christentum nichts im Sinn hatten.

Wie angemessen sind klerikale Antworten auf Kinderfragen überhaupt? Ein polemisches Beispiel liefert wiederum Johann Most:

Da aber Gott allweise, gütig, gerecht, kurzum die Liebenswürdigkeit selber ist, so leuchtete ihm ein, daß dieser Adam, wie er sein Fabrikat nannte, sich allein ungemein langweilen dürfte. (Vielleicht erinnerte er sich dabei an sein vormaliges langweiliges Dasein im Nichts.) Und so erzeugte er denn eine ganz nette, reizende Eva. Hier hatte ihn indessen offenbar die Erfahrung gelehrt, daß die Bearbeitung von Lehmklößen eben doch für einen Gott ein gar zu unreinliches Geschäft sei, weshalb er eine neue Fabrikationsmethode in Anwendung brachte. Er riß dem Adam eine Rippe aus und verwandelte dieselbe - Geschwindigkeit ist keine Hexerei, am allerwenigsten für einen Gott - in ein niedliches Frauenzimmer. Ob die herausgenommene Rippe Adam später wieder ersetzt wurde, oder ob nach der stattgefundenen Operation Adam als einseitiger Mensch herumlaufen mußte, davon schweigt des Sängers Höflichkeit.

Ich persönlich möchte verhindern, daß meine Kinder solchen Schwachsinn als "eigene Kultur" lernen. Ich möchte ihnen als Leitkultur Humanismus und intellektuelle Redlichkeit beibringen, wozu gehört, Weltanschauungen an der Realität zu prüfen. Ob und wie sie sich mit der Bibel oder vielleicht dem Taoismus, dem sibirischen Schamanismus beschäftigen, oder ob sie sich für Religion überhaupt nicht interessieren, müssen sie selbst herausfinden. Eine offene Gesellschaft ist dabei von Anfang an offen, ohne die Vorgabe, daß das Frau von der Leyen eigene Weltbild das Weltbild aller zu sein hat. Bereits in der Weimarer Republik forderte die Sozialdemokratie die Auflösung des konfessionsgebundenen Unterrichts und die Ersetzung durch ein Fach ähnlich Werte und Normen, in dem die Kinder verschiedene Religionen und philosophische Entwürfe auch nichtreligiöser Art kennen lernen. Erst dadurch lernen Kinder, selbstständig und unabhängig zu urteilen und nicht, indem sie einen vorgegebenen Glauben nachplappern.

Die IBKA weiter:

Von der Leyen unterstrich, daß auf christlichen Werten die gesamte hiesige Kultur basiere. In einer pluralen Gesellschaft müsse zunächst die eigene Position klar sein. Erst dann könne man sich gegenüber anderen Werten öffnen. Damit werden auch die Kinder der Nichtchristen gegen den Willen der Erziehungsberechtigten zu Missionsobjekten deklariert.

An Frau von der Leyen scheint vorbei gegangen zu sein, daß die Idee der modernen bürgerlichen Gesellschaft insbesondere auf der Aufklärung basiert und nicht auf christlichen Werten. Voltaire, Spinoza, Kant, Nietzsche oder auch Darwin setzten sich gegen die Antiaufklärung, gegen den Klerus durch. In einer aufgeklärten Gesellschaft bedeutet Religionsfreiheit, daß jeder (also auch jeder Spinner) seinen Glauben frei ausleben darf, solange er damit Andere nicht strafrechtlich belästigt, nicht aber, daß der Staat Relikte einer vorsäkularen Epoche als Public Relation Agentur finanziert und fördert.

Die Hegemonie der christlichen Kirchen in den hiesigen Religionen hat vor allem mit Tradition und auch der Repression der Vergangenheit zu tun. Während die Taufe ohne die Einwilligung der Kinder erfolgt, diese sind im Taufalter nämlich nicht mündig, setzt der Kirchenaustritt einen reflektierten Prozeß voraus. Das heißt, die wenigsten der konfessionell an das Christentum Gebundenen sind aktive Gläubige, die große Mehrheit zahlen Kirchensteuern wie sie andere Steuern zahlen. Hinzu kommt eine ebenfalls kleine Minderheit, die in mündigen Jahren aus der Kirche austritt, in die sie unmündig hineingebracht wurde. Die Kirchen sind die einzigen Vereine, denen Menschen in einem Alter beitreten, in dem sie diese Entscheidung nicht selbst treffen können.[1]

Dürfen sich Kinder, nachdem sie die "eigene Position" der Pfaffen eingetrichtert bekommen haben, anderen Werten öffnen: dürfen junge Menschen sich nach dem Abitur vielleicht sogar mit der Aufklärung beschäftigen?[2] Im Klartext: Wenn Kinder christliche Überzeugungen erst einmal verinnerlicht haben, dürfen sie auf diesem ablehnenden Fundament auch Darwin, Nietzsche, Spinoza, Marx oder Adorno lesen? Mag sein, daß die gesamte Kultur im sozialen Umfeld von Frau von der Leyen auf christlichen Werten basiert; die gesamte Kultur in meinem sozialen Umfeld, eine Kultur von Atheisten und Konfessionslosen, hat damit nichts zu tun, und unsere eigene Position ist ganz klar gegen wesentliche Aspekte des Klerus als da wären: Spiritueller Überbau, archaische Positionen zur sexuellen Emanzipation, irrationale Behauptungsketten, antidemokratische Hierarchien der Kirchen, Hexenverfolgung und Judenmord, Conquista, Verfolgung Andersdenkender, Indoktrination etc. Wenn Frau von der Leyen von "unserer gesamten Kultur" redet, erkläre ich ausdrücklich, zu dieser Kultur nicht zu gehören. Das ist aber auch gleich gültig. Sowohl Frau von der Leyen als auch wir haben als Staatsbürger die gleichen Rechte, und die besagen unter anderem, dass keine religiöse Sondergruppe bestimmt, welche Position Andere als die eigene einzunehmen haben. Das Staatsbürgerrecht schafft die Grundlage, daß alle, unabhängig von ihrer Kultur, die gleichen Rechte haben.

Ist ein Weltbild, das die Positionen einer Weltanschauung, des Christentums, für allgemeingültig erklärt, demokratisch? Sagt Demokratie nicht viel eher, daß die Bräuche von Glaubensgemeinschaften unter den gesellschaftlichen Bürgerrechten stehen? Glaubensfreiheit bedeutet, daß jeder das Recht hat, zu glauben, was er will, solange dieser Glauben nicht mit anderen Menschenrechten kollidiert. Kurz gesagt: Das Grundgesetz erlaubt Christen wie auch allen anderen Staatsbürgern, ihren Glauben im Rahmen der Bürgerrechte frei auszuleben, nicht aber, die Rechte anderer Bürger einzuschränken.

"Der stolze Hinweis der Ministerin, auf die dominierende Stellung ihrer kirchlichen Bündnispartner im Kindergartensektor, wirkt da nur noch zynisch", so die IBKA. Zynisch ist es allerdings, wenn die Tatsache, daß die Kirchen 72% der Kindergärten unter ihrer Fuchtel haben und auch Eltern, die mit den Kirchen nichts zu tun haben wollen, ihre Kinder dorthin schicken müssen, ein Ansatz ist, die Indoktrination der Kinder weiter zu vertiefen. Die Praxis der kirchlichen Kindergärten, Konfessionslose, Atheisten oder Andersgläubige nicht oder nur unter erschwerten Bedingungen einzustellen, also Gesinnungstreue einzufordern, ist schon heute unter rechtstaatlichen Prinzipien fragwürdig. Frau Käßmann redet Klartext: "Wo evangelisch draufsteht, sollte auch evangelisch drin sein." Ich kann es ihr nicht verdenken, auch ich wäre enttäuscht, wenn ich zu einem Seminar über Nietzsche gehe und würde die Heilsbotschaft Christi lernen. Allerdings kann ich mich als erwachsener Mensch entscheiden. Lediglich ein Drittel der Eltern, die ihre Kinder in Kindergärten schicken, haben die Chance dies ohne christliche Nebenwirkungen zu tun.

Der Staat basiert tatsächlich jedoch auf den säkularen Grundwerten, welche erst gegen den erbitterten Widerstand der Kirchen erkämpft werden mußten und teilweise erneut durch sie gefährdet werden - siehe Zensurbestrebungen zur Satire "Popetown".

Richtig, und laut Michael Schmidt-Salomon gelten in der öffentlichen Diskussion notwendigerweise weltliche Standards: die humanistische Orientierung an den Selbstbestimmungsrechten des Menschen sowie die Orientierung an den Idealen der intellektuellen Redlichkeit. Das heißt, Behauptungen müssen logisch konsistent und empirisch belegt sein, damit sie von Relevanz sein können. Christen, die unlogisch und empirisch unbelegt argumentieren, haben keinerlei Vorrechte gegenüber irgendeinem anderen Mensch. Damit dürften die Bibeltreuen unter ihnen Probleme bekommen.

Im Licht der Aufklärung betrachtet hielt Arno Schmidt die alten Schriften, auf die sich Christen beziehen, nicht für satisfaktionsfähig. Schmidt zufolge behauptet darin ein junger Kerl, ein Hill-Bill, der die wichtigsten Sprachen seiner Zeit, Römisch und Griechisch nicht beherrscht und keine Ahnung von den philosophischen Erkenntnissen seiner Zeit hat und außer Palästina nichts von der Welt gesehen, er sei der Weg, die Wahrheit und das Leben. Studier erst einmal und komm in ein paar Jahren wieder, hätte Schmidt Jesus Christus gesagt. Auch die Basis der christlichen Werte, die Bibel, ein Buch mit - so Schmidt - 50.000 Textvarianten und schätzungsweise eben so vielen Interpretationen ist als Grundlage zur Wertevermittlung hanebüchen. Mit der Bibel läßt sich Völkermord eben so begründen wie Pazifismus, Einehe ebenso wie Polygamie, alles und nichts. Sie ist eben wie alle anderen Bücher ein Buch, das Menschen für Menschen geschrieben haben. Christen werden das anders sehen. Das ist ihr Glaube und das Grundgesetz schützt auch diesen vor gewalttätigen Übergriffen.

Ein klares Bekenntnis zur Leitkultur der Aufklärung und des Humanismus "weist den Weg jenseits von Fundamentalismus und Beliebigkeit - einen Weg, den wir beherzt einschlagen sollten, um die offene Gesellschaft gegen ihre Feinde zu verteidigen." Schmidt-Salomon gilt es nichts hinzuzufügen. Rudolf Ladwig, der erste Vorsitzende des IBKA, sieht Frau Leyens Übergriffe nicht isoliert:

Die Politik hat systematisch die Einnahmeseite des Staates ruiniert, Risiken und Chancen werden privatisiert und daraus erwachsende Probleme sollen mit Moral behoben werden. Wenn die Kinderlein alle brav und artig erzogen sind, dann werden sie schon einen Job bekommen - und wenn nicht, tröstet und kalmiert sie wenigstens das Eiapopeia vom Himmel? Knien und beten, statt aufstehen und etwas verändern? Aus Angst vor dem Islamismus wird die Weltanschauungsfreiheit geopfert. Und wenn man Muslimen im Kindergarten die christliche Leitkultur beibiegt, lösen sich schlichtweg die Parallelgesellschaften auf. Dafür werden dann islamische Verbände in das staatskirchenrechtliche Privilegiensystem einbezogen. Ehrfurcht vor Gott wird als vornehmstes Erziehungsziel in das NRW-Schulgesetz geschrieben und die bayerische Regierung will den Gotteslästerungsparagraphen verschärfen. Will sagen: hinter der religiösen Aufrüstung der Ministerin von der Leyen steckt eine generelle Diskursstrategie als Krisenreaktion.

Die Frontlinien verlaufen zwischen denjenigen, die wissenschaftliche Tatsachen ebenso akzeptieren wie sie bereit sind, überkommene Glaubensvorstellungen als widerlegt zu erkennen, und denen, die antidemokratisch-atavistischer Unvernunft anhängen. Die politökonomischen Hintergründe der Respiritualisierung kann ich hier nicht erschöpfend behandeln. Rudolf Ladwig äußerte dazu:

Ein paar Worte dazu, was es denn erforderlich macht, regierungsseitig Religionspropaganda zu betreiben: die harte ökonomische Krise der Erwerbsgesellschaft, deren sich weiter steigernde Produktivität von immer weniger Arbeitenden erbracht wird, deren Produkte sich aber Menschen ohne ausreichendes Einkommen nicht leisten können; auf deren komplexe Probleme mit einer Regression - der religiösen Mobilisierung - geantwortet wird - also, im Rekurs auf "Werteverfall" mit Moralisierung.

Schmidt-Salomon hat Recht, wenn er meint, daß die Trennlinie nicht zwischen "Abend- und Morgenland" verläuft. Sie verläuft auch nicht zwischen Deutschland und Afghanistan, denn der Humanismus kennt keinen Chauvinismus. Die Werte der Aufklärung Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit wurden das erste Mal in der Französischen Revolution formuliert und zwar auch gegen die Privilegien des zweiten Standes, gegen den Klerus. Sie kennen weder eine Hautfarbe, noch eine Herkunft. Irrationale Gotteskrieger, die zu logischer Prüfbarkeit ihrer Ideologie nicht in der Lage sind und Ideologen, die soziale Verelendung mit religiösen Placebos verschleiern, stehen auf der anderen Seite der Barrikade - immer und überall.

Anmerkungen:

[1] Ich bin nicht getauft. Im Alter von 13 Jahren meinten Bekannte, ich würde mich nur nicht taufen lassen, weil ich zu faul wäre, zum Konfirmandenunterricht zu gehen. Um zu zeigen, daß es sich um einen bewußten Akt des freien Denkens handelt, besuchte ich den Konfirmandenunterricht und gehörte zu den ganz wenigen, die mit dem Pastor über religionsphilosophische Fragen diskutierten. Die Entscheidung gegen die Konfirmation bedeutete den Verzicht auf die bis dahin größte Geldsumme. Das Konfirmationsgeld war bei meinen Jahrgangskollegen der Kern ihres Interesses an "Kirche". Ich bewegte mich damals allerdings in einem halbwegs kirchenkritischen Umfeld. Meine Entscheidung hätte bei den tradierten Milieus der Altdörfler bestenfalls Befremden ausgelöst.

[2] Ein vor-aufklärerisches Element in der hiesigen Gesetzgebung ist allerdings, daß die Kirchen die einzigen Zusammenschlüsse von Personen mit gemeinsamen Interessen sind, denen der Staat die Finanzierung ihrer Vereinsinterna direkt vom Lohn der Werktätigen automatisch einbehält.

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sopos 5/2006