Zur normalen Fassung

Die Bundesrepublik im Umgang mit Verbrechen des Nationalsozialismus

Eine verstrickte »Erfolgsgeschichte«

von Marcus Hawel (sopos)

Es ist eine, auch von der breiten Mehrheit der Wissenschaftler geteilte, kollektive Lebenslüge, daß die Geschichte der Bundesrepublik seit ihrem Bestehen eine rechtsstaatliche und demokratische Erfolgsgeschichte gewesen sei. Dieser Lebenslüge kommt gleichsam eine staatstragende Funktion zu. Denn die »normalisierte Nation«, als welche sich die deutsche offiziell seit der Wiedervereinigung vorstellt, stützt ihre Rechtfertigung auf diese vermeintliche Erfolgsgeschichte, um sich im beinahe selben Atemzuge von vielen wichtigen strukturpolitischen Konsequenzen der Nachkriegszeit zu verabschieden, die für die Bundesrepublik aufgrund der von Deutschen zu verantwortenden Katastrophe des Holocaust und des Zweiten Weltkrieges zwingend gewesen waren – etwa dem Gebot militärpolitischer Zurückhaltung oder dem Sozialstaatsgedanken.

Die Lebenslüge ist als solche bisher kaum systematisch in Zweifel gezogen worden. Für den Umgang mit der NS-Vergangenheit hat dies nun der Politikwissenschaftler Joachim Perels unternommen und jenen jahrzehntelang wirksam gewesenen Widerspruch zwischen der auf den Grundrechten basierenden Ordnung und den vorherrschenden Bewußtseinsformen, welcher die Geltung rechtsstaatlicher Prinzipien blockierte und zum Teil außer Kraft setzte, umfassend kritisiert.[*] Perels konzentriert sich dabei auf die bundesdeutsche Justiz, die der Tendenz nach »den politischen Widerstand gegen Hitler illegalisierte, Straffreiheit für Schreibtischtäter gewährte, Kriegsverbrechen juristisch nicht in Frage stellte und die Diskriminierungsgesetze gegen die Juden als Grundlage ihrer Auslegung akzeptierte« (9).

Lange Zeit war die Thematisierung der Verstrickung der akademischen Jurisprudenz in die NS-Diktatur und ihre Mitwirkung in dieser tabuisiert, da die »Interpretationshoheit« bei den reetablierten, wieder zu Amt und Würden gelangten Nazieliten lag. Die Diskursivierung der Funktion, die die Rechtslehre im Nationalsozialismus innegehabt hatte, erfolgte in Deutschland erst, nachdem die alten Eliten altersbedingt aus ihren Ämtern geschieden waren.[1] Noch im Jahre 1993 sei es in der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer nicht möglich gewesen, die Rolle der Staatsrechtslehre im »Dritten Reich«, angeregt durch einen in der Kritischen Justiz erschienenen Aufsatz von Michael Stolleis, zum Thema einer offiziellen Tagung zu machen.[2] Der Durchbruch sei erst im Jahre 2000 gelungen, als Horst Dreier in einer Aussprache »differenziert, quellengenau mit dem scharfsichtigen Blick eines theoretisch fundierten Juristen über die deutsche Staatsrechtslehre im NS-Staat« (40) referierte.[3] Dennoch fehle für die Charakterisierung des rechtsförmigen Umgangs mit dem NS-System in der frühen Bundesrepublik bis heute ein adäquater Begriff. Vor allem gehe das begriffliche Defizit darauf zurück, daß die Reetablierung ehemaliger Repräsentanten des nationalsozialistischen Herrschaftssystems, die sich schwerste Verbrechen hatten zuschulden kommen lassen, zwar im öffentlichen Bewußtsein moralisch skandalisiert, aber nicht grundsätzlich mit der rechtlichen Struktur der Bundesrepublik und ihrem Umgang mit der NS-Vergangenheit in Verbindung gebracht wurde.

»Erst diese Frage eröffnet den Horizont für die Wahrnehmung einer in sich zusammenhängenden, in der Gesetzgebung, der Justiz, der Staatsleitung und der Öffentlichkeit seit den 50er Jahren dominierenden Tendenz, die rechtliche Bewertung der NS-Herrschaft nicht uneingeschränkt an den Kriterien des Grundgesetzes, der unverbrüchlichen Geltung der Grundrechte zu orientieren, sondern die juristische Doktrin des Hitler-Regimes vielfach zu übernehmen.« (13)

Dadurch habe sich eine rechtliche Sonderzone mit einer eklatanten Affinität zum nationalsozialistischen Rechtsverständnis mitten im demokratischen Rechtsstaat herausgebildet und diesen in bestimmtem Maße außer Kraft gesetzt.

Joachim Perels bringt die innere Logik der unzureichenden rechtlichen Bewertung der Gewalthandlungen des Hitler-Regimes auf den Begriff und orientiert sich dabei nicht allein an moralischen, sondern vornehmlich an verfassungsrechtlichen Kategorien. Erst dadurch wird die Aushöhlung von Rechtspositionen in ihrer ganzen Radikalität erkennbar.

»Das große Paradoxon der frühen Bundesrepublik ist, daß jenes Strukturelement maßnahmenstaatlichen Denkens, das sich auf den Ausschluß der Ahndung von Staatsverbrechen bezieht, unter den Bedingungen der rechtstaatlich demokratischen Verfassung in bestimmtem Maße in die Rechtsordnung eindringt: in die Gesetzgebung, die Justiz und die Exekutive.« (14 f.)

Um dieses Eindringen in die demokratische Rechtsordnung geht es. Zunächst rekonstruiert Perels ein theoretisches Instrumentarium, das vor allem bei Ernst Fraenkel und Franz L. Neumann Begrifflichkeiten entlehnt (40-89).[4] Hierbei geht es darum, die Ausschaltung des Gleichheitsprinzips im Nationalsozialismus sowie die Gleichschaltung der Judikative nachzuvollziehen, die in vielen Bereichen mit vorauseilendem Gehorsam der Juristen erfolgt sei. Das Vorgehen der Justiz nennt Perels »antipositivistisch«, weil die Richter in ihrer antisemitischen Rechtsprechung in der Regel sogar »über den Wortlaut der Gesetze hinausging[en]« (77). Von Fraenkel übernimmt Perels das Theoriegebäude des Doppelstaats, um die Handlungsvarianten der Justiz in der NS-Diktatur und damit auch die (individuelle) Verantwortung von Richtern und Anwälten für die Staatsverbrechen deutlich werden zu lassen.

»Der rechtstechnische Kern des Maßnahmenstaates besteht darin, daß sämtliche Rechtsgarantien für den Einzelnen wie für politische und soziale Kräfte zur Disposition der Staatsführung gestellt wurden, die beliebig über die Existenz, das Leben, die Freiheit und das Eigentum der Menschen, die nicht zu den sogenannten aufbauenden Kräften des Nationalsozialismus gezählt wurden, verfügen konnte […].« (13)

Vor allem wurde die rechtliche Gleichheit der Juden beseitigt. Der Normenstaat hingegen, der für gewisse Rechtssicherheit hauptsächlich im Kapital- und Warenverkehr sorgte, wurde von der Diktatur nicht vollständig ausgeschaltet.

Die affirmative Rolle der Rechtslehre im Nationalsozialismus war aber keineswegs ohne Alternative – kein fatum. Perels zeigt auf, daß die Zerstörung rechtlicher Schutzpositionen ohne die Zustimmung der überwiegenden Mehrheit der Rechtslehrer und -vertreter kaum möglich gewesen wäre (51). Die wenigen Ausnahmen couragierter nicht-jüdischer Juristen, die sich dem herrschenden Trend widersetzten, ohne ihre Existenz im Nationalsozialismus zu gefährden, beweisen, daß es Alternativen gegeben hat.

Im zweiten Teil behandelt Perels sehr ausführlich den Wandel von strafrechtlicher Ahndung der Verbrechen des Hitler-Regimes in den Nürnberger Prozessen, an deren Konzeption unter anderem Franz L. Neumann mitgearbeitet hatte, zu weitgehender Sanktionsfreiheit und der Übernahme der Beamtenschaft aus dem Nationalsozialismus. Die Inkorporation des Staatsapparates der NS-Diktatur in der jungen Bundesrepublik wurde durch das Ausführungsgesetz zu Art. 131 GG aus den Jahre 1951 wenn nicht geboten, so doch ermöglicht. Zwar sollte denjenigen, die durch die Diskriminierungspraxis der Nationalsozialisten ihre Ämter im »Dritten Reich« verloren hatten, Vorrang eingeräumt werden, aber diese Rangfolge, so Perels, sei ein Trug gewesen. Denn betroffen von der Wiedergutmachung waren lediglich 600 noch lebende Personen, während etwa 450 000 ehemalige NS-Beamte durch das 131er Gesetz anspruchsberechtigt wurden. »Die Struktur des 131er-Gesetzes richtete sich gegen die noch 1945 dominierende Politik der Alliierten und der deutschen Landesregierungen, die Kontinuität des Beamtenapparates des Nationalsozialismus aufzuheben.« (138) Damit wurde die Grundlage geschaffen, die einstige nationalsozialistische Homogenisierung des Beamtenapparates in der frühen Bundesrepublik wiederherzustellen – eine große Hypothek für den jungen Rechtsstaat, resümiert Perels.

In gleicher Logik ging es weiter: In den Jahren 1949-1954 wurden vom deutschen Gesetzgeber Amnestien für NS-Täter beschlossen, die Strafdelikte wie Körperverletzung mit Todesfolge und bestimmte Tötungsdelikte begangen hatten. Der Strafverzicht bedeutete, so Perels, ganz konkret eine Fortschreibung der Durchbrechung von Rechtsgarantien, wie sie bereits im Nationalsozialismus praktiziert wurde. 1954 wurde ein weiteres Amnestiegesetz erlassen, das auf dem Begriffsinstrumentarium des ehemaligen Justitiars der SS, Werner Best, in der frühen Bundesrepublik juristischer Mitarbeiter des FDP-Abgeordneten Achenbach und Kontaktperson zur Regierung Adenauers, beruhte. Perels weist darauf hin, daß Best die NS-Straftaten und Staatsverbrechen als »politische Straftaten« definierte, die mit einfacher Kriminalität nichts zu tun hätten, da sie sich nicht durch egoistische Motive auszeichneten. Durch diese taktische Argumentationsfigur wurden Tötungsdelikte als politische Straftaten verharmlost, die dann auch noch straffrei ausgehen sollten, da für sie in Anspruch genommen wurde, daß die Befehlsempfänger sich der Order nicht hätten widersetzen können (Befehlsnotstand). »Die Machtlage in der Diktatur wurde als positiver Bezugspunkt herangezogen. Es sei unmöglich, jene NS-Täter, die das Recht auf Leben zerstört hatten, an heutigen, rechtsstaatlichen Maßstäben zu messen.« (16) Die Argumentation wurde sehr lange und hartnäckig beibehalten. Erst 1998 wurden durch den Bundestag die nationalsozialistischen Unrechtsurteile aufgehoben. Indes genau anders herum wäre aus dem Sachverhalt eine logische Schlußfolgerung geworden; in Frage gestellt werden muß, wie Franz L. Neumann es bereits tat, ob es sich im Nationalsozialismus tatsächlich noch um Recht gehandelt hat:

»Verdient ein solches System den Namen Recht? Ja, wenn Gesetz nichts weiter ist als der Wille des Souveräns, ganz entschieden nein, wenn Gesetz im Gegensatz zum Befehl des Souveräns entweder der Form oder dem Inhalt nach rational sein muß. Das nationalsozialistische Rechtssystem ist nichts anderes als eine Technik der Manipulation der Massen durch Terror. Die Strafgerichte sind heute im Verein mit der Geheimen Staatspolizei, der Staatsanwaltschaft und den Henkern in erster Linie Praktiker der Gewalt, und die Zivilgerichte sind Vollzugsagenten der monopolistischen Wirtschaftsverbände.«[5]

Daß man sehr wohl die Taten von Nationalsozialisten an heutigen rechtsstaatlichen Maßstäben messen und sich dabei auch auf universelle rechtliche Maßstäbe stützen kann, zeigt Perels, in dem er sich auf Fritz Bauer und Franz L. Neumann bezieht. Neumann hatte für den amerikanischen Geheimdienst Office of Strategic Services (OSS) in Zusammenarbeit unter anderem mit Herbert Marcuse und Otto Kirchheimer die theoretische Grundlage für einen Straftatbestand erarbeitet, wobei er bis zum Rechtsbegriff der Aufklärung, das heißt zur Grundrechtsformel der Französischen Revolution (Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit) zurückging. Die Tätigkeit der Neumann-Gruppe zielte darauf, die NS-Funktionseliten nach der Niederschlagung des »Dritten Reiches« durch Strafverfahren dauerhaft aus dem Verkehr zu ziehen. Die Nazigesetze konnten dabei nicht immanent bewertet werden, da sonst die Morde und andere Verbrechen, die nach »gesundem Rechtsempfinden« eben eindeutig Verbrechen und Morde waren, weitgehend keinen Straftatbestand dargestellt hätten. Gerechtigkeit mußte mithin an einem externen Maßstab eingeklagt werden, das heißt an universellen Rechts- und Moralmaßstäben orientiert werden, die im Zuge der Machtergreifung der Nationalsozialisten sukzessive und beinahe vollständig aus dem deutschen Recht liquidiert worden waren. Der Nationalsozialismus habe die Allgemeinheit des Gesetzes vollständig zerstört, schreibt Neumann in Behemoth.[6] Die von der Neumann-Gruppe erstellte Grundlage diente schließlich der strafrechtlichen Verfolgung in den Nürnberger Prozessen, das heißt dem Kontrollratsgesetz Ziffer 10 vom 20. Dezember 1945, zur Orientierung und fand Eingang in die Formulierung des Straftatbestandes »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« (97).

Als in der Rechtspraxis deutscher Gerichte schließlich mit den Amnestien zwischen 1949 und 1954 von der Ahndung nationalsozialistischer Verbrechen abgegangen wurde, protestierte Generalstaatsanwalt Fritz Bauer – weitgehend vergeblich – gegen diesen Schwenk, wobei er sich um eine Präzision des Täterbegriffs bemühte. Eine Kommission des Deutschen Juristentages im Jahre 1966, der auch Bauer angehörte, kritisierte die Wendung in der Rechtssprechung, insbesondere die Gehilfendefinition. Die Kommission stellte eine eigene Täterdefinition dagegen, wonach – »ohne Rücksicht auf seine Beweggründe im übrigen« – Täter sei, »wer ohne konkreten Befehl getötet hat; […] wer mehr getan hat als ihm befohlen war; […] wer als Befehlshaber mit selbständiger Entscheidungsgewalt oder eigenem Ermessenspielraum Tötungen befohlen hat«.[7]

Im Jahre 1968 wurde vom Bundestag der mittlerweile üblich gewordenen richterlichen Rechtssprechung auch noch eine gesetzliche Grundlage geschaffen, indem ins Strafgesetzbuch ein Passus (§ 50, Abs. 2 StGB) eingefügt wurde, wonach in der Bewertung von NS-Verbrechen zwischen Tat und täterbezogenen Merkmalen zu unterscheiden sei. Dieser Passus, so Perels, habe es möglich gemacht, zwischen »wirklichen« Tätern und Gehilfen zu trennen. Faktisch bedeute diese Unterscheidung die Auflösung des Täterbegriffs. Da Straftaten von Gehilfen bereits nach 15 Jahren als verjährt angesehen werden, blieb der gesamte Behördenstab des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA), dem Planungszentrum des Massenmords an den Juden, von einer strafrechtlichen Verfolgung unbehelligt. Neun von zehn Einsatzgruppentätern im Dienst des RSHA, in der Regel überzeugte Nazis, wurden als bloße Gehilfen eingestuft; weil ihnen zugestanden wurde, aus nicht-egoistischen Motiven eine politische und »fremde Tat« begangen zu haben, gingen sie weitgehend straffrei aus. Von 6 497 rechtskräftig verurteilten NS-Gewaltverbrechern wurden lediglich 166 zu lebenslanger Haft verurteilt.

»Die extensive Verwendung der Beihilfekategorie für aktivistische nationalsozialistische Gewaltverbrecher resultiert aus entlastenden Grundvorstellungen, daß allein die politische Spitze – Hitler, Himmler, Heydrich, wie es stereotyp in den meisten Einsatzgruppenentscheidungen heißt – die alleinige Verantwortung für die Mordaktionen des Regimes trug. So gesehen ist die Beihilfekonstruktion für Einsatzgruppenmörder eine Projektion, welche die sogenannte Mitläuferrolle auf NS-Täter überträgt. […] Die Auflösung der Kategorie des Täters veränderte den Blick auf die Opfer. Wenn die Subjektivität der furchtbaren Mörder verschwindet, werden die Opfer noch einmal anonymisiert. Sie erleiden nur noch einen mechanischen Tod. Die Peiniger, zu Gehilfen entwirklicht, erscheinen juristisch fast inexistent.« (161 f.)

Das alles verweise auf das Gewicht »antirechtsstaatlichen Denkens unter den Bedingungen des Grundgesetzes« (18).

»Der staatlich verordnete, von der Justiz durchgesetzte Rassismus, die Bekämpfung der politischen Opposition aller Schattierungen, der Besatzungsterror der Wehrmacht, um nur einige Handlungsfelder zu nennen, werden von der herrschenden Rechtsprechung, vor allem des Bundesgerichtshofs, mit gewissen Einschränkungen im Blick auf den Anstaltsmord, den Holocaust und KZ-Verbrechen, mit einem Legalitätssiegel versehen, das der beliebigen Disposition über die Freiheitsrechte Rechtsqualität zuspricht.« (19)

Die Folgen für die Opfer des Nationalsozialismus sowie für die Glaubwürdigkeit und Qualität des Rechtsstaats dürfen nicht abgetan werden. Denn wenn im demokratischen Rechtsstaat die Rechtsgültigkeit der nationalsozialistischen Normen in bestimmten Bereichen grundsätzlich anerkannt wurde, stellte sich dieser mit dem Nationalsozialismus auf eine Stufe. Auch werden damit nach einem Wort des 1968 verstorbenen »Generalstaatsanwalts aus Freiheitssinn«, wie Perels in der Widmung für Fritz Bauer schreibt, die Opfer verhöhnt.

Im dritten Abschnitt thematisiert Perels die gesellschaftliche Debatte um die Wahrnehmung des Nationalsozialismus. Der Umgang mit der NS-Vergangenheit wird nicht allein von der Kraft der Argumentation beeinflußt, sondern ist in viel entscheidenderem Maße von geschichtspolitischen Machtinteressen abhängig, die das Potential der Schuldabwehr bestärken.

»Angesichts der großen ökonomischen Krise mit einer Massenarbeitslosigkeit, die an die Endphase der Weimarer Republik heranreicht, besteht die Gefahr, daß die Verschlechterung der sozialen Lage der unteren Schichten das Terrain für einen Nationalismus erweitert, der notwendig mit einer Verharmlosung des nationalsozialistischen Rechtsextremismus verbunden ist.« (36)

Zum Abschluß seines Buches erinnert Joachim Perels in acht kleineren Abschnitten an besonders herausragende »Zeugen der Erinnerung«: an Fritz Bauer, der für die Humanität einer demokratischen Rechtordnung eintrat und die individuelle Verantwortlichkeit für die Verbrechen des Nationalsozialismus strafrechtlich zu verankern anstrebte. An den Pfarrer Martin Niemöller, dessen Anliegen im Rahmen der Bekennenden Kirche es war, die »christliche Verklärung des Staates« zu überwinden. An Eugen Kogon, der als Kritiker der Restauration ein anderes Deutschland verkörpert hat. An Hans Joachim Iwand, der eine »theologische Absage an die Herren dieser Welt« formulierte, auf das Recht auf Revolution zur Wiederherstellung des Rechts beharrte und sich dabei auf das bei Martin Luther zu findende Widerstandsrecht bezog. An den Professor für Strafrecht und Strafprozeßrecht Günter Spendel, der schon sehr früh die Aufarbeitung der Naziverbrechen einklagte und sich mit seinen kritischen Untersuchungen zum rechtsförmigen Umgang mit der Justiz im »Dritten Reich« einen Namen machte. An den Sozialisten Heinrich Hannover, der im Grundgesetz einen juristischen Kampfboden und im Recht einen Prozeß sah, der aufgrund antagonistischer Interessen seine Dynamik erfährt. Und nicht zuletzt an Wolfgang Abendroth, dessen Wirken in der Nachkriegszeit ganz im Zeichen eines marxistischen Humanismus stand und der in jener »Doppelkonstellation von Stalinismus und Restauration das dialektische und herrschaftskritische Denken des Marxismus in der Bundesrepublik wissenschaftlich lebendig hielt« (344).

So schließt das Buch von Perels mit einem deutlichen Hinweis darauf, was nach 1945 und bis heute – nicht nur von wenigen – zu leisten gewesen wäre, um ein staatliches und gesellschaftliches Fundament zu schaffen, auf dem sich eine wirkliche »Erfolgsgeschichte« hätte entwickeln können. Es wäre gleichsam auch die Chance einer wirklichen Einlösung des »Versprechens der Normalität«, dort weiterzumachen, wo Personen wie Fritz Bauer, Eugen Kogon oder Wolfgang Abendroth aufgehört haben, und ihr utopisches Vermächtnis gegen das herrschende zu realisieren.

Joachim Perels, Entsorgung der NS-Herrschaft? Konfliktlinien im Umgang mit dem Hitler-Regime, Offizin Verlag, Hannover 2004.

Die Rezension erschien zuerst in: Geschichte und bildende Kunst, Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte XXXIV (2006), hrsg. im Auftrag des Minerva Instituts für deutsche Geschichte, Universität Tel Aviv (Moshe Zuckermann), Göttingen 2006, S. 375-382.

Anmerkungen:

[*] Joachim Perels, Entsorgung der NS-Herrschaft? Konfliktlinien im Umgang mit dem Hitler-Regime, Offizin Verlag, Hannover 2004. - Seitenangaben im Text beziehen sich auf diese Publikation.

[1] Siehe Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 3, 1914-1945, München 1999.

[2] Vgl. Michael Stolleis, Theodor Maunz – Ein Staatsrechtslehrerleben, in: Kritische Justiz 4 (1993), 393 ff. Siehe auch ders., Recht im Unrecht. Studien zur Rechtsgeschichte des Nationalsozialismus, Frankfurt/Main 1994, 312 ff.

[3] Vgl. der Bericht von Horst Dreier, Die deutsche Staatsrechtslehre in der Zeit des Nationalsozialismus, in: Die deutsche Staatsrechtslehre in der Zeit des Nationalsozialismus. Europäisches und nationales Verfassungsrecht. Der Staat als Wirtschaftssubjekt und Auftraggeber. Berichte und Diskussionen aus der Tagung der Deutschen Staatsrechtslehrer in Leipzig vom 4. bis 6. Oktober 2000 (= Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer 60), mit Beiträgen von Horst Dreier, Walter Pauly u.a., Berlin 2001, 61 f.

[4] Vgl. Ernst Fraenkel, Der Doppelstaat [1941], Frankfurt/Main 1974; sowie Franz L. Neumann, Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933-1944 [1942-44], hg. von Gert Schäfer, Köln 1977.

[5] Neumann, Behemoth (Anm. 4), 530, Anm. 1.

[6] Vgl. ebd., 517, Anm. 1.

[7] Barbara Just-Dahlmann/Helmut Just, Die Gehilfen. NS-Verbrechen und die Justiz nach 1945, Königstein 1988, 263, zit. nach dem hier besprochenen Band, 158.

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sopos 4/2006