von Gregor Kritidis (sopos)
Ungläubig blickt der aufgeschlossene Zeitgenosse gegenwärtig auf die Entwicklungen in Frankreich. Dort hat die Protestbewegung gegen das im Schnellverfahren durch die Nationalversammlung gepeitschte Gesetz zur Aufhebung des Kündigungsschutzes der Regierung Villepin die Republik an den Rand einer Staatskrise gebracht. Die französische Bevölkerung hat, das wurde bereits während der Streiks 1995 oder dem Votum gegen die EU-Verfassung 2005 deutlich, in Europa erneut die historische Rolle des Vorkämpfers für einen politisch-sozialen Wandel übernommen. In Frankreich werden exemplarisch die politischen Kämpfe des 21. Jahrhunderts ausgefochten.
In Deutschland scheinen derartige Entwicklungen, wie sie zur Zeit jenseits des Rheins zu beobachten sind, aufgrund seiner grundlegend anderen politischen Kultur völlig undenkbar. Die Ausprägung des "rheinischen Kapitalismus" in der Bundesrepublik nach der Niederlage des Faschismus hat in der Tat eine andere Form angenommen. Dennoch hatte der asymmetrische Klassenkompromiß nach dem Zweiten Weltkrieg in allen westlichen Ländern strukturelle Ähnlichkeiten. Der Unterwerfung der lebendigen Arbeit unter das kapitalistische Profiprinzip waren nach den bitteren Erfahrungen von Krieg und Bürgerkrieg in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts institutionelle Grenzen gesetzt worden. Dieser soziale Kompromiß bildete, gefördert durch die Frontstellung im Kalten Krieg, die Basis für die weitgehende Integration der Arbeiterbewegung in den sozial gezähmten kapitalistischen Staat und die Bildung einer ausufernden Bürokratie. Diese wohlfahrtsstaatliche Bürokratie, in die vor allem die sozialdemokratische Arbeiterbewegung eingebunden wurde, hatte dabei zwei Seiten: Einerseits begrenzte sie die Ansprüche der Lohnabhängigen und hielt ihre Abhängigkeit aufrecht; andererseits schützte sie auch vor willkürlichen Übergriffen der sozialen Eliten. Sie regelte Ansprüche und Verpflichtungen der "Sozialpartner" und hielt bei hohen Wachstumsraten den sozialen Frieden aufrecht. Die Widersprüche dieses Wachstumspakts traten mit der Rebellion Ende der 60er Jahre in Erscheinung und verschärften sich in den 70er Jahren. In Reaktion auf die "Anspruchsrevolution" der Lohnabhängigen versuchten die sozialen Eliten, eine neue Agenda kapitalistischer Rationalisierung durchzusetzen. Im Kern blieb der soziale Nachkriegskompromiß aber bis Anfang der 90er Jahre unangetastet.
Nachdem mit dem Fall der Mauer die politisch-ideologische Bedrohung durch den Realsozialismus weggefallen ist, sind die sozialen Rechte der Lohnabhängigen in zunehmendem Maße in Frage gestellt worden. Die offensive Zerstörung des "rheinischen Kapitalismus" setzt dabei die Dynamik frei, die nach 1945 für lange Zeit gebannt schien. Während die Gewerkschaften immer mehr aus den wohlfahrtsstaatlichen Institutionen herausgedrängt werden, wandelt sich die Bürokratie in ein repressives Instrument des "aktivierenden" Sozialstaats, der die Prekarisierung[1] der Arbeitsverhältnisse mit Zwangsmaßnahmen flankiert.
Diese Prozesse sind auch in Deutschland wirksam und haben, wenn auch bei weitem weniger spektakulär, ähnliche politisch-soziale Gegenreaktionen zur Folge. Wie weit der soziale Kitt auch diesseits des Rheins bereits zerfressen worden ist, belegt eine kürzlich von Franz Schultheis und Kristina Schulz herausgegebene Untersuchung.[2] Der von den politischen Eliten und ihren medialen Meinungsmachern beklagte "Reformstau" verweist dabei auf die objektiven und subjektiven sozialen Widerstände, die dem neoliberal-kapitalistischen Umbau der Gesellschaft im Wege stehen. Je mehr die soziale Angst produziert wird, aus geregelten sozialen Zusammenhängen herausgedrängt zu werden, je mehr sich die neoliberalen Denkverbote wie Mehltau auf die öffentliche Debatte legen, desto weniger verfängt die Rhetorik eines gesellschaftlichen "Rucks", müssen Durchhalteparolen á lá "Du bist Deutschland" verbreitet werden.
Die politischen Gegenreaktionen lassen sich neben dem Erstarken der Antiglobalisierungsbewegung seit dem Börsencrash Ende der 90er Jahre vor allem an den Ereignissen nach den wochenlangen Protesten gegen die Agenda 2010 festmachen. Insbesondere das Harz-IV-Gesetz bildete den Auslöser für die Abspaltung des sozialdemokratischen Flügels von derjenigen Parteiformation, die nur noch offiziell den Namen SPD trägt. Die Formierung dieser Abspaltung zur WASG, ihr Achtungserfolg bei den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen und die daraus resultierende Kooperation mit der PDS bei den Bundestagswahlen, macht deutlich, daß ein relevanter Teil der Bevölkerung die neoliberale Offensive nicht widerstandslos hinnehmen will. Mit dem Wahlergebnis vom Herbst letzten Jahres wurde dieser Wille von etwa 8% der Wahlberechtigten manifest. Es scheint sich hier ein spezifisches Charakteristikum der politischen Kultur in Deutschland Ausdruck zu verschaffen: Politisch-sozialer Widerstand verschafft sich eher in Formen organisierter Kollektivität, weniger in spontanen Massenaktionen Ausdruck. Insofern die ideelle Bindung an die Großorganisationen eine große Rolle spielt, stellt die Spaltung der SPD einen nicht zu unterschätzenden Einschnitt dar.[3]
Diese Transformation der Parteienlandschaft steht in unmittelbarem Zusammenhang mit der Neuorientierung der Gewerkschaften, die an der Oberfläche als Annäherung der ver.di- und der IG Metall-Spitze an die Linkspartei erscheint.[4] Diese Annäherung ist Ausdruck eines viel tiefer greifenden Prozesses, wie sich an den erbittert geführten Streiks im öffentlichen Dienst zeigt. Die Verhandlungen über den "Tarifvertrag öffentlicher Dienst" (TVöD) im letzten Jahr wurden von ver.di völlig defensiv geführt. Dieser Vertrag ist innerhalb der Organisation auf harsche Kritik gestoßen, weil er den Arbeitgebern mehr als notwendig entgegenkam und Kampfmaßnahmen nicht ernsthaft in Erwägung gezogen worden waren.[5] Innerhalb ver.di wurde der TVöD vor allem mit dem wenig triftigen Argument gerechtfertigt, es sei immerhin gelungen, überhaupt einen einheitlichen Vertrag abzuschließen, der den Bundesangestelltentarif ersetzt. Die politische Klasse wurde jedoch durch diese Defensive Haltung zu einem offensiveren Vorgehen geradezu ermutigt. Während die Tarifgemeinschaft der Länder (TdL) den TVöD erst gar nicht unterzeichnete, kündigten die Kommunalen Arbeitgeber einiger Länder das Abkommen über die Arbeitszeit sowie über das Urlaubs- und Weihnachtsgeld kurz nach Inkrafttreten des TVöD. Die Arbeitszeiten für die Beamten wurden in mehreren Bundesländern einseitig verlängert, und im Angestelltenbereich wurden bei Beförderungen und Neueinstellungen ebenfalls längere Arbeitszeiten erzwungen. Angemerkt sei in diesem Zusammenhang, daß im öffentlichen Dienst in den letzten zehn Jahren mehr Stellen - über 800.000 - abgebaut worden sind als in den meisten anderen Wirtschaftsbereichen und befristete Arbeitsverhältnisse längst zur "Normalität" gehören.
Diese Generaloffensive der öffentlichen Arbeitgeber auf die Tarifautonomie hat ver.di in den Streik geradezu hineingetrieben, wie selbst neoliberale Propagandisten eingeräumt haben.[6] Die hohe Streikbereitschaft und die breite Beteiligung waren angesichts der Verhandlungsschwäche von ver.di für alle Beteiligten überraschend. Und auch mit der zwar weitgehend passiven, aber durchaus vorhandenen Sympathie in breiten Teilen der Bevölkerung hatte niemand gerechnet,[7] obwohl - wie die Hannoversche Allgemeine Zeitung (HAZ) konstatierte - das Medienecho von Beginn der Streiks an "verheerend" war.[8] Zu diesem Echo haben insbesondere die regionalen Zeitungsmonopole wie die Madsack-Gruppe, die neben der HAZ auch die Hannoversche Neue Presse (NP) und anderen Zeitungen herausgibt, erheblich beigetragen. Mit einer Kampagne wurden die Streikenden vor allem in zwei Bereichen diffamiert: In den Krankenhäusern und bei der Müllabfuhr. Als unbedarfter Leser konnte man den Eindruck gewinnen, jede Woche schwebe wegen der Arbeitsniederlegungen in der Medizinischen Hochschule Hannover oder einem anderen Krankenhaus ein Patient in Lebensgefahr.[9] Hinsichtlich steigender Müllberge wurde im Zusammenhang mit der Vogelgrippe vor der Verbreitung von Seuchen gewarnt. Besonders Doppelzüngig agierte dabei die Standesvertretung der Krankenhausärzte, der Marburger Bund, als er die Behauptung der Seuchengefahr mit pseudo-fachlichen Weihen versah. Der Marburger Bund ist aus der Tarifgemeinschaft mit der ver.di ausgeschert und hat mit seiner Stellungnahme gegen den Streik dokumentiert, daß man die eigenen Interessen auf Kosten der übrigen Beschäftigten in den Krankenhäusern durchzusetzen gedenkt. Faktisch erkennt der Marburger Bund die Budgetierung bei den Krankenhäusern damit als nicht zu überschreitenden Rahmen an - eine folgenschwere Fehlentwicklung, die sich auf Dauer zu Lasten aller Beschäftigten auswirken muß. Gehaltserhöhungen der Ärzte auf Kosten des übrigen Krankenhauspersonals, mit denen man sich die Forderung nach einer Begrenzung der Arbeitszeiten abkaufen läßt - das würde die Statusgrenzen fatalerweise weiter verfestigen.[10]
Das relative Wohlwollen, von dem die Streiks der Ärzte in den Medien begleitet sind, verweist auf die feinen sozialen Unterschiede, die der Bewertung von Forderungen unterschiedlicher sozialer Gruppen entgegengebracht werden. Stellen die Ärzte die oligarchische Stellung ihrer unmittelbaren Vorgesetzten in Frage, berührt das ein Sakrileg; tut gewerkschaftlich organisiertes Pflegepersonal das Gleiche, kommt das in der Wahrnehmung der bürgerlichen Medien einer fahrlässigen Gefährdung von Patienten gleich. Über die katastrophalen Entwicklungen der Gesundheitsindustrie, die mehr und mehr von den Verwertungsinteressen der Pharma- und Medizingeräteindustrie bestimmt werden, ist dabei von keiner Seite gesprochen worden. Ohne eigene Vorschläge für eine Gesundheitsreform, die von einer inhaltlichen Kritik der Grundlagen der Schulmedizin ausgeht, wird sich der Marsch in eine unmenschliche Klassenmedizin jedoch nicht aufhalten lassen.
Neben der großen Streikbereitschaft ist positiv festzuhalten, daß insbesondere Frauen und Jüngere bisher den Streik aktiv mitgetragen haben.[11] Die Länge der Streikbewegung zeigt die Entschlossenheit, mit der sich die Beschäftigten gegen das Diktat der Arbeitgeber wehren. Das sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Zahl von bisher 50.000 gleichzeitig Streikenden nicht überschritten worden ist - im Vergleich zu den letzten großen Streikbewegungen im Öffentlichen Dienst 1974 und 1992 - ist das weniger als ein Viertel.
Auch wenn die Arbeitgeber von Ländern und Gemeinden sich mit ihrem Frontalangriff nicht auf ganzer Linie werden durchsetzen können - es zeichnet sich schon jetzt ab, daß die unmittelbar materiellen Ergebnisse der Streikbewegung insgesamt weit hinter den Erwartungen zurückbleiben werden. Die Aufspaltung der Tariflandschaft, die mit der Tarifflucht durch den von SPD und PDS gestellten Senat in Berlin begonnen hat, wird sich weiter fortsetzen. Insbesondere die weniger kampfstarken Bereiche in den Ländern werden von den Kommunen abgekoppelt werden. Die von den Arbeitgebern gewollte Zerstörung der Regulierung der Arbeitsverhältnisse, d.h. die Prekarisierung vieler Lohnabhängiger, wird sich weiter fortsetzen. Das Ergebnis von Hamburg - dort hat man sich auf nach Lebensalter und Familienstand differenzierte Arbeitszeiten zwischen 38 und 39,5 Stunden geeinigt - hat mit 42% der Streikenden eine sehr schwache Zustimmung erhalten.[12] Die auf kommunaler Ebene erzielten Abschlüsse stehen jedoch in Gefahr, durch einen schlechteren Abschluß auf Länder-Ebene wieder kassiert zu werden. Denn im TVöD ist eine sogenannte "Meistbegünstigungsklausel" enthalten: Wenn auf Länder-Ebene ein schlechteres Ergebnis zustande kommt, gilt dies gleichzeitig als Angebot für den Bund und die Kommunen.[13] Diese fatale Klausel wird von der ver.di offiziell damit gerechtfertigt, anders habe man nicht zu einem Abschluß kommen können. Es sei jedoch möglich die Anwendung dieser Klausel in den neuen Verträgen rechtlich auszuschließen.[14] Solche Rechtsfragen sind aber immer auch Machtfragen. Die Meistbegünstigungsklausel könnte sich daher noch als trojanisches Pferd entpuppen.
Innerhalb der ver.di ist die Frage, wie man den Angriffen auf die Koalitionsfreiheit begegnen will, bisher nicht konsequent diskutiert worden. Man sieht sich angesichts der Diffamierungen in der Presse vor das Problem gestellt, zu vermitteln, daß es beim gegenwärtigen Streik keineswegs nur um eine Arbeitszeitverlängerung um 18 Minuten täglich geht. Das verweist auf den begrenzten inhaltlichen Rahmen, mit dem man glaubte, diese Auseinandersetzung führen zu können. Es ist schon bemerkenswert, daß bisher nur sehr vereinzelt versucht worden ist, die Streiks in einen größeren Zusammenhang zu stellen und mit einer Verallgemeinerung der Streikforderungen politisch in die Offensive zu gehen. Anlässe dafür gibt es reichlich: So sind in Baden-Württemberg und Niedersachsen 1-Euro-Jobber und private Firmen als Streikbrecher eingesetzt worden. Blockaden von Streikenden wurden durch massive Polizeieinsätze aufgelöst. Weder der mit dem Harz-IV-Gesetz begonnene Einstieg in die Zwangsarbeit noch die Frage der Privatisierung kollektiver Güter und Dienstleistungen und schon gar nicht die staatlichen Gewaltmaßnahmen sind im Zusammenhang mit den Streiks ernsthaft thematisiert worden. Gewerkschafter in Osnabrück erinnerten immerhin daran, daß die Polizei zum letzten mal 1933 derart brutal gegen Streikende vorgegangen ist und stellten die staatliche Repression in Kontext mit den Vorschlägen Wolfgang Schäubles, die Bundeswehr auch im Inneren einsetzen zu wollen.[15]
Dabei handelt es sich keineswegs um einmalige Ausnahmen; in ganz Europa, ja weltweit haben in den vergangenen Jahren Regierungen und Arbeitgeber versucht, Arbeitskämpfe und soziale Proteste auszusitzen. Gelang dies nicht, wurden diese häufig mit Gewalt beendet.[16] Die Angriffe auf das Koalitionsrecht stellen eine allgemeine Tendenz im globalisierten Kapitalismus dar und müssen daher auch entsprechend beantwortet werden. Erfolgreich waren Streik- und Protestbewegungen nur dann, wenn sie vereint durch Forderungen allgemeinen Charakters mit dem Mittel der direkten Aktion Unternehmen und die traditionellen Eliten politisch bedroht oder gar - wie in einigen Staaten Lateinamerikas - zum Rückzug aus der politischen Führung des Landes gezwungen haben, um einer emanzipativen Politik Raum zu geben.
Die ersten Haarrisse in der großen Koalition sind in Deutschland dagegen nicht genutzt worden. Zwar setzt sich nun in der ver.di die Einsicht durch, daß man die Härte der Position der Arbeitgeber unterschätzt hat; von einer realistischen Einschätzung der Lage ist man dennoch weit entfernt. Die große Koalition in Berlin hat die wichtigsten Punkte ihrer im Koalitionsvertrag festgehaltenen Agenda noch gar nicht in Angriff genommen. Weder auf die geplante massive Aufweichung des Kündigungsschutzes und die Verlängerung der Lebenszeit auf 67 Jahre noch auf die Mehrwertsteuer-Anhebung oder eine mögliche Beteiligung der Bundesrepublik an einem Krieg gegen den Iran sind die Gewerkschaften geistig und organisatorisch vorbereitet.
Es scheint so, als wolle man die Verteidigung sozialer und demokratischer Rechte den Franzosen überlassen. Immerhin ist der Schrei des gallischen Hahns in Deutschland vernommen worden; so drohte DGB-Chef Sommer für den Fall einer Aufweichung des Kündigungsschutzes bereits Proteste á la´ francaise an. Eine breite politische Offensive der Gewerkschaftsbewegung kann eine derartige Absichtserklärung aber nicht ersetzen.
Auch die Annäherung der Gewerkschaften an die Linkspartei/WASG kann eine eigene Strategiebildung nicht ersetzen. Zum einen ist die Linkspartei/WASG selbst politisch zerrissen, sei es in der Frage der Privatisierungen oder der Beteiligung an Koalitionsregierungen. Es sei nur daran erinnert, daß der rot-rote Senat in Berlin als erster staatlicher Arbeitgeber Tarifbruch begangen hat. Zum anderen sind die Funktionäre in Linkspartei und WASG überwiegend auf die Beteiligung an Wahlen fixiert. Für ein offensives politisches Projekt ist die parteipolitische Linke daher nur begrenzt in Betracht zu ziehen.
Es wird nun darauf ankommen, die Entstaatlichung der deutschen Gewerkschaftsbewegung politisch voranzutreiben. Praktisch kommt dafür u.a. die Betriebs- und Gewerkschaftslinke in Betracht. Es gilt, neben den Erfahrungen aus anderen Ländern an die eigenen historischen Erfahrungen anzuknüpfen, um das während des Streiks zu Tage getretene kritische Bewußtsein zu stabilisieren. Dieses Bewußtsein resultiert aus der geistigen Verarbeitung der Widersprüche, die die Gesellschaft durchziehen und in sozialen Auseinandersetzungen wie der jetzigen Streikbewegung sich Brennpunktartig zusammenziehen. Die Enttäuschungen, die die Ergebnisse der Streiks mit sich bringen werden, können aber auch eine gegenläufige Entwicklung bewirken, wenn die zugrunde liegenden Täuschungen und die damit verbundene Frustration nicht produktiv verarbeitet werden. Dazu bedarf es der kollektiven geistigen Aktion, der Selbstaufklärung und Selbstpolitisierung. - Dieser Text soll dazu einen Beitrag leisten.
[1] Im Grunde ist das nur ein neues Wort für Proletarisierung: Immer mehr Menschen werden gezwungen, eine Existenz in Armut und Unsicherheit zu fristen.
[2] Franz Schultheis/Kristina Schulz (Hrsg.), Gesellschaft mit begrenzter Haftung. Zumutungen und Leiden im deutschen Alltag. Konstanz 2005.
[3] Diese Spaltung hat es in der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung nur zweimal gegeben: 1914 und 1929.
[4] Vgl. Spiegel Nr. 10/2006.
[5] Vgl. Hans Hoyer/Werner Lutz Neues Tarifrecht im öffentlichen Dienst bedeutet Verschlechterungen und die Aufgabe gewerkschaftlicher Prinzipien. URL
[6] Vgl. den Beitrag von Hagen Lensch vom Institut der Deutschen Wirtschaft in der taz v. 22.2.2006.
[7] Vgl. Süddeutsche Zeitung v. 10.3.2006. Dort hieß es unter der Überschrift "Fünf Wochen Arbeitskampf im öffentlichen Dienst. 'Allmählich wird der Urlaub knapp'. Berufstätige Eltern springen für streikende Kita-Betreuer ein - dennoch bleiben die meisten erstaunlich gelassen" zusammenfassend: "Obwohl es dann doch die gibt, die schimpfen. Manfred Heermann, 67, steht in seinem Hausflur im Stuttgarter Westen, vor der Tür stehen zwei Waschmaschinen, ein Sofa und ein Kleiderschrank in Einzelteilen. Sperrmüll, nicht abgeholt. ‚Eine Riesensauerei' sagt Heermann. Er sagt das laut, er sagt auch, daß seine Frau schimpfe wie ein Rohrspatz. Und dann: ‚Auf die Nachbarn. Die wußten doch, daß hier gestreikt wird. Und stellen das Zeug trotzdem hin'".
[8] HAZ v. 16.2.2006.
[9] Das Thema Neoliberalismus und Medien wäre eine eigene Polemik wert. Daß regionale Monopole den freien Wettbewerb propagieren können, ohne ausgelacht zu werden, verweist auf die spezifischen Bedingungen, welche die Produktion der "öffentlichen Meinung" durch die Meinungsindustrie in der gegenwärtigen Phase des Kapitalismus kennzeichnet - vor allem eine verbreitete Orientierungslosigkeit und eine wenig entwickelte Gegenöffentlichkeit.
[10] Der ver.di Vorsitzende Bsirske hat diese Woche völlig zu Recht die Frage aufgeworfen, ob Krankenhausärzte bei einer 60-Studen-Woche weniger müde sind, wenn sie ein höheres Gehalt bekommen. HAZ v. 25.3.2006.
[11] Ver.di-publik v. 04/2006.
[12] Vgl. Joachim Bischoff/Richard Detje, "Grundsatz-Konflikt". In: Sozialismus 4/2006.
[13] Vgl. die Einschätzung von Michael Wendl Sekretär bei der ver.di Bayern: "Streik im öffentlichen Dienst". In Sozialismus 3/2006. Ähnlich die Süddeutsche Zeitung v. 24.3.2006.
[14] So der Hannoveraner Bezirks-Sekretär Willi Grewe auf einer Personalversammlung an der Uni-Hannover am 22.3.2006.
[15] So ein Bericht von Richard Grove und Werner Jourdan v. 16.2.2006.
[16] Vgl. Die studentischen Proteste im Kontext der Klassenkämpfe der 90er Jahre - Quelle: Sopos. In Griechenland sind Streiks von Seeleuten, Hafenarbeitern und Bankangestellten in diesem Jahr mit dem Mittel einer staatlicher Dienstverpflichtung (die eigentlich nur für Notstände vorgesehen ist) und massiver Polizeigewalt beendet worden. Unter www.labournet.de, das selbst schon Opfer staatlicher Einschüchterungsversuche geworden ist, lassen sich zahlreiche vergleichbare Fälle nachlesen.
https://sopos.org/aufsaetze/442733a09cdd4/1.phtml
sopos 3/2006